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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.12.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-12-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001203029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900120302
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900120302
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-12
- Tag 1900-12-03
-
Monat
1900-12
-
Jahr
1900
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Ueber die stürmischen Huldi gungen, welche die Pariser dem scheidenden Präsidenten Krüger gestern Mittag auf dem Nordbahnhofe dargebracht haben, Hai bereit» der Telegraph ausführlich berichtet, dagegen geht uns über die Fahri des Präsidenien von Paris nach Köln noch nachfolgender ausführliche Bericht eines deutschen Journa listen zu, welcher diese Fahrt im Nord-Expreßzuge mitgemacht hat. Der Zug bestand aus sechs Wagen, dem der für den Präsidenten von der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft gestellte Salonwagen angehängt wurde. Die Plätze für diesen Zug waren längst vergriffen, und nur mit größter Mühe gelang es unserem Gewährsmann, sich noch ein Plätzchen zu sichern. In der Hauptsache waren es französische und englische Journa listen, darunter Eorrespondenten de- „GauloiS", des „Temps", de» .Eclair" und de» „Standard", di« mit dem Zuge fuhren. Da» übrige Publicum setzte sich aus deutschen und russischen Großkaufleuten und Industriellen zusammen, die sich an den nachfolgenden Ovationen für Krüger bei seiner Fahrt durch Frankreich, Belgien und Deutschland lebhaft beiheiligten. In einem weiteren Wagen nahmen Pariser Grmeinderäihe, einige höhere französische Beamte und das Direktorium der Nordbahn Platz, welche Krüger bis zur belgischen Grenze das Geleit geben wollten. Die Vorgänge bei der Abfahrt sind einfach unbeschreiblich. Die Halle des Nordbahnhofes erdröhnte von den Rufen: Vivs Lruexer! und die Massen drängten bis unmittelbar an die Wagen heran, so daß es fast als ein Wunder zu betrachten ist, daß sich nicht schon hier Unfälle ereigneten. Große Heiterkeit er regte ein Damenpensionat, dessen mehr oder minder hübsche Mitglieder sämmtlich mit Kodacks bewaffnet waren und mit unheimlicher Schnelligkeit Aufnahmen von Krüger machten, sobald dieser sich der Menge zeigte. Etwa 10 Minuten, nach dem ein Vorzug nach Köln abgelassen worden war, setzte sich der Nord-Expreß in Bewegung. Zum letzten Male zeigte sich Krüger am Fenster, zum letzten Male schwenkte er seinen in Paris neu gekauften Cylinder mit dem Trauerflor darum, dann entschwand der Zug den Blicken der Zurückbleibenden. So lange der Zug noch daS Weichbild der Stadt und die Vor orte passirte, blieb Krüger im Gange stehen, dann ruhte er sich etwas von den Strapazen aus. Man hatte iHm eine Schale mit prachtvollem Obst überreicht, doch verschmähte er es und zog die beliebte kurze Tabakspfeife hervor, um etwas zu rauchen. Man ließ ihn in einem Coups allein, dessen Gardinen er zuzog. Nebenan nahm vr. Leyds und der Dolmetscher van Hamel Platz, die übrigen Herren des Gefolges suchten ihre Plätze im Wagen auf. Nach etwa zweistündiger Fahrt hielt der Zug in St. Quentin, wo Hunderte auf dem Bahnsteig standen und den einlaufenden Zug mit betäubendem Jubel be grüßten. Sofort erhob sich Krüger, trat mit der Tabakspfeife in der Hand und dem Cylinder auf dem Kopf auf den Seiten gang deS Salonwagens hinaus und ließ das Fenster öffnen. Leider war es sehr niedrig, so daß der alte Herr sich tief bücken mußte, um den Kopf hinausstecken zu können. Natürlich erreichte der Jubel in diesem Moment seinen Höhepunkt. Man rief: Vivs Xrusger! 6on»pue?! iss ^nglai»! und sana dann die Marseillaise. Dann wurde Krüger müde und zog sich wieder zurück. Doch hielt er noch eine Weile seinen Cylinder zum Fenster hinaus, damit man seinen guten Willen sah. Nach weiterer zweistündiger Fahrt hielt der Zug in der letzten fran zösischen Station Jeumont, einem kleinen, schmutzigen Nest. Hier verließen die Insassen des letzten Wagens, die Pariser Gemeinderäthe, Bahnbeamte u. s. w., den Zug und begaben sich vor Krüger's Wagen, um Abschied zu nehmen. Er war kurz, aber ergreifend. Der Director der Mars ille-Lyoner Bahn, auf welcher Krüger von Mars ille nach Paris gefahren war, übereichte Krüger eine Adresse, und ein Mitglied des fran zösischen Boeren-Comitöö hielt eine Ansprache, auf die Krüger in holländischer Sprache antwortete. Der Dolmetscher van Hamel, ein ausgezeichneter Redner, übertrug sic, und man konnte den Worten entnehmen, daß der Präsident nochmals der ganzen französischen Nation seinen Dank für die ihm gewordenen Liebenswürdigkeiten aussprach. Dann setzte sich der Zug unter den Rufen: Wiederkommen! Glückliche Reise! und Hoch Krüger! rn Bewegung, um nach kaum 5 Mcnurcn in der ersten belgischen Station Erquelinnes zu halten. Hier sollte programm mäßig die Begrüßung durch die Deputation des belgischen Boerencomitss, der belgischen Presse, der Stadtbehörden u. s. w. erfolgen. Als der Zug einlief, harrte Krüge^' s eine reizenoe Ueberraschung. Der ganze Perron der kleinen Station war mit Hunderten von Schulkindern im Alter von 6—8 Jahren beseht, die unter Führung ihrer Lehrer aus den umliegenden Grenzorten herbeigekommen waren und den Präsidenten mit be täubendem Jubel begrüßten, indem sie kleine Boerenfähnchen aus Papier in der Lust schwenkten. Dahinter standen die Depu tationen der Bergbaustudentcn und der Handelsschüler aus dem benachbarten Mons mit ihren Fahnen und Emblemen, und ferner Abordnungen der verschiedenen belgischen und holländischen Boerencomitss, etwa 400 an der Zahl, kenntlich an großen Schleifen und Schärpen in den Farben Transvaals. Sobald der Zug hielt, schickte Krüger sich an, den Wagen zu verlassen, doch im nächsten Moment rissen ihn die hinter ihm stehenden Mitglieder der Boerengesandtschaft zurück. Die von elementarer Begeisterung getragene Menschenmenge fluthete nämlich mit solcher Gewalt auf den Wagen zu, daß Krüger ^unfehlbar er drückt worden wäre. Der Vorsitzende des Brüsseler Comitss für die Befreiung Transvaals, Vr. Reinhards-Brüssel, stieg die Stufen am Salonwagen empor und verlas, förmlich am Wagen hängend, die von 25 000 Unterschriften begleitete bel gische Landesadresse an Krüger, die, in holländischer Sprache abgefaßt, den.Präsidenten der wärmsten Sympathien der Belgier und der Vlamen in Belgien versichert. Auch hier war natürlich kein Wort zu verstehen, da die Menge unermüdlich Vivs ürueger! dn3 les ^uglnis! rief. Erst als Krüger das Wort zur Erwiderung nahm, verstummte das Getöse etwas. Er sprach, so laut als es ihm möglich war, dem belgischen Volk für die ihm hier an der Grenze gewordene Begrüßung und den begeisterten Empfang seinen herzlichsten Dank aus und bat um die Erhaltung der Sympathien für Transvaal. Dann nahm er auch der Reihe nach die Begrüßung durch den General van den Kerkove- Mons, den Stadtrath von Erguelinnes, die Monser und Brüsseler Studentenschaft und die verschiedenen Boerendeputationen entgegen. Unter diesen befand sich auch ein junger, zweimal verirumdcter Boerenkrieger aus Brüssel in dem kleidsamen Boerenkostüm mit einer riesigen Transvaalflagge über der Schulter. Nachdem sich der Zug, dem hier ein Extra wagen für die belgischen und holländischen Journalisten, die in ihrer Hcimath freie Eisenbahnfahrt genießen, angehängt worden war, wieder in Bewegung gesetzt hatte, nahm Krüger die Vor stellungen des holländischen Consuls von Brüssel, des Präsi denten der belgischen Journalistenvereinigung und verschiedener Deputationen aus den Städten Ostende, Antwerpen und Brüssel entgegen. Die nun folgende Fahrt durch den belgischen Jn- dustriebezirk von Charleroi bis Lüttich und Verviers, mit seinen rauchenden Schloten und dampfenden Essen, übertraf alle Er wartungen, welche man für den Empfang Krüger's in dieser Gegend gehegt hatte. In Charleroi, Huy, Namur und Lüttich demonstrirten vor Allem die vielen gerade aus den Arbeitsstätten kommenden Bergarbeiter, doch sah man neben ihnen alle Bevölkerungsschichten dis zum commandirenden General in Uniform vertreten. An Geschenken wurden Krüger alle er denklichen Dinge in den Wagen gereicht: Adressen, Blumen, Früchte, Palmzweige, Lorbeerkränze und Gebäck, das werth vollste Geschenk war jedenfalls eine kunstvoll geschmiedete Palme, die ein socialistischer Kunstschlosser aus Huy überreichte. In Namur, dem fünften Haltepunkt seit Paris, gab man die An sprachen auf, nachdem sich vor dem tosenden Beifall Niemand mehr Gehör verschaffen konnte. Hier sprach der bekannte demo kratische Pastor Darms, der, um sich verständlich zu machen, einfach den Kopf durch das Wagenfenster steckte, was ungemein komisch aussah. Ueberhaupt ereigneten sich neben den dielen ergreifenden und ernsten Scenen eine ganze Menge humoristischer Intermezzos. So hielt man allgemein die bis Lüttich im letzten Wagen mit fahrenden belgischen Journalisten für Boeren und bombardirte sie daher mit Früchten, Gebäck und Blumen, ließ sie hochleben und erkundigte sich theilnahmsvoll nach ihrem Befinden. Ein Pariser Bankier, der sich im Zuge befand und einen prächtigen blonden Bocrenbart trug, wurde für ein Mitglied der Boeren- mission gehalten und ehrfurchtsvoll begrüßt, sobald er sich am Fenster zeigte. Leider ging es an verschiedenen Stellen nicht ohne Unglückssälle ab. So wurde auf dem Bahnhofe in Char leroi ein kleines Mädchen erdrückt und in Lüttich, wo die Volksmenge den polizeilichen und militärischen Cordon durchbrach und Stacketen- und eiserne Gitterzäune umriß, verletzten sich viele Personen an den Herumliegenden Trümmern. Auch in Verviers sollen Personen verunglückt sein. Von dem Kölner Vorfall ganz zu schweigen. In Verviers, der letzten belgischen Station, kam die Begeiste rung nochmals zum spontanen Ausbruch, als sich die von Erquelinnes mitgekommenen Boeren und Boerenfreunde ver abschiedeten. Krüger blieb unermüdlich im Danken und zeigte sich an jeder Station, obgleich es ihm, wie bereits erwähnt, viele Mühe machte, sich zu zeigen. Er ließ die Menge erst ein wenig rufen und steckte dann schweigend und mit der bekannten mürrischen Miene den Kopf mit dem weißen Haar zum Fenster hinaus. Wie mir der Korrespondent des Amsterdamer „Hanoelblad", Israels, der ihn von Marseille bis Berlin begleitet, mittheilte, sieht Krüger heute bedeutend besser aus, als bei seiner Ankunft in Marseille. Vor Allem hat er sich rasiren und neu kleiden lassen, auch hat man ihm nach vielen Drängen seinen alten Cylinder entwunden und durch einen echten Pariser ersetzen können. Doch hat er an der bekannten schwer fälligen Form festgehalten. Die geliebte, kurze Holzpfeife, die eine hübsche Schnitzerei aufweist, zeigte er jedesmal, wenn er sich blicken ließ. Bei den bewegtesten und begeistertsten Kund gebungen verzog sich nicht eine Miene seines Gesichts, dagegen machten dieselben auf die übrigen Herren einen tiefen, sichtbaren Eindruck. Kurz vor 11 Uhr lief der Zug mit fast einstündiger Ver spätung bei Herbesthal über die deutsche Grenze. Die Station war trotz der vorgerückten Zeit mit Menschen massen vollgepfropft. Hier schlugen Krüger zum ersten Male deutsche Rufe: Hurra h! Hoch Krüger! Nieder mit den Engländern! ans Ohr. Er war sofort am Fenster, während ein Mitglied der Gesandtschaft zum Postamt eilte, um ein Telegramm an den Kaiser aufzugeben. Zwei deutsche Zoll beamte in Galauniform bestiegen dann den Zug, um während der Fahrt bis Aachen die Gepäckrevision vorzunehmen. Sie batten nichts zu beanstanden. Auch in Aachen war der Bahnbof überfüllt und die Menge empfing den Zug mit be täubendem Jubel. Von Herbestbal ab wurde kein Fahrgast mehr für den Zug angenommen, nur der bolländische Konsul erhielt die Fahrerlaubniß. Der allgemeine Eindruck der Kund gebungen in Herbesthal und Aachen war der, daß die der Deutschen an ursprünglicher Kraft den französischen und belgischen doch weit überlegen waren, obgleich kaum die Hälfte der in den belgischen Orten anwesenden Massen auf den Beinen waren. Und der nun folgende Em pfang in Köln reihte sich würdig den zwölf Stunden ror- her in Paris verlebten Abschiedsscenen an. Bedauerlicher Weise wurde der geplante feierliche Empfang durch einen (schon tele graphisch gemeldeten) schweren Unfall beim Einlaufen des Zuge» zu nichte gemacht und die Festesfreude durch den Vorfall auf das Empfindlichste getrübt. Der Perron, an welchem der Nord expreß zu halten Pflegt, ist gegenwärtig aufgerissen, um einen Fahrstuhl oder einen Lichlschach: für die darunter liegenven Gepäckräume rinzubauen. Das Ganze war gestern mit einem lächerlich primitiven Lattenzaun abgegrenzt, dessen eineSeitrkaum zwei Schritt von dem Gleise entfernt liegt. Unglücklicher Weise war gerade Krüger's Wagen derjenige, der vor dieser Stelle zum Stehen kam. Die ursprünglich etwa an der Malcknne stehende vieltausendköpfige Menschenmenge stürmte alsbald dem Wagen zu und im nächsten Moment war vor den Augen des an das Fenster tretenden Krüger das Unglück geschehen. Der Latten zaun brach durch und etwa 40 Personen, darunter mehrere Damen, stürzten in die Tiefe. Das etwa drei Meter große und ebenso tiefe Loch war nicht einmal überdeckt. Da zu be fürchten war, daß im nächsten Moment auch das umherliegend« Mauerwerk nachgeben würde, trat die bis dahin im Hinter gründe stehende Polizei etwas sehr energisch, aber in diesem Falle mit Recht, in Action und drängte die Massen vom Wagen Krüger's ab. Der Präsident stand bleichen Angesichts am Fenster und beobachtete die sofort angestellten Rettungsarbeiten, die von der mit anerkennenswerther Schnelligkeit in Erscheinung tretenden Samariter-Abtheilung des Hauptbahnhofes unterstützt wurden. Als man die am schwerstten Verletzten heraufbrachte, wandte Krüger sich erschüttert ab und folgte dem Stations vorsteher, der ihn einlud, den Wagen nach der anderen Seite zu verlassen und ihm über die Gleise hinweg zum Empfangs salon auf dem Mittelbahnsteig zu folgen. Inzwischen hatten die Menschenmengen alle erdenklichen Plätze eingenommen, um Krüger sehen zu können. Sogar auf den Dächern des Zuges standen Arbeiter und Officiere in Uniform nebeneinander, um seinen Anblick zu erhaschen. Während der ganzen Zeit er dröhnte die Luft von Hurrah- und Hochrufen. Erst nachdem der Präsident im Empfangssalon verschwunden war, räumte die Menge das Feld, um gleich darauf vor das ganz in der Nähe liegende Domhotel zu ziehen, wohin Krüger und seine Begleiter sich nach Entgegennahme verschiedener Be grüßungen in Landauern begaben. Nur mit größter Mühe gelang es, ihm Eingang in das von Abertausenden umlagerte Hotel zu erzwingen, dessen Thüren die Menge zu stürmen suchte. Krüger ging sofort in den für ihn bestimmten, in der ersten Etage gelegenen Salon, dessen Fenster nach dem Domplatz hinausgehen. In 13 weiteren, rechts und links gelegenen Zimmern fanden die Herren seines Gefolges Unterkunft. In dem Moment, als Krüger sich am Fenster zeigte, erhob sich rin unbeschreibliches Hoch- und Hurrahvufen, betäubend und großartig zugleich. Gleichzeitig erstrahlte der weite Platz und der herrliche Dom in rothem bengalischem Licht, das ein Boerenfreund abbrannte. Die Menge, welche von Kennern auf ca. 20 000 Menscken geschätzt wurde, schwoll, durch keinerlei polizeiliche Beschränkungen gehindert, immer mehr an, und für die nächste halbe Stunde war es den im Hotel wohnenden Journalisten, denen die Hoteldircction in liebens würdigster Weise Zimmer neben, bezw. über Krüger's Wohnung angewiesen hatte, als ob das Hotel in seinen Grundvesten er bebe. So oft Krüger sich zeigte, schwoll das Getöse orkanartig an, und jeder Versuch, die Menge zum Schweigen zu bringen, weil man hoffte, eine Ansprache Krüger's zu hören, blieb ein s) Lucie. Original-Roman von Ferd. Gruner. Nachdruck »ertatnr. Lucie eilte hinaus, und nachdem sie einige Minuten angesichts de» BatrrS ihrem Schmerze freien Lauf gelassen, ihm die Lippen geküßt, befahl sie den Knechten, den Gutsherrn in ihr Zimmer zu tragen, woselbst sie ihn mit Hilfe der Dienstmägdr entkleidete und zu Bette brachte, denn auch sie hoffte, daß vielleicht doch noch ein Funken Leben» in diesem theuren Körper wohne, den un ermüdliche Sorgfalt zu neuer Kraft entfachen könnte. Der alte Reitknecht hatte sich auf sein Pferd geworfen und, rin andere» am Zügel führend, sprengte er in tollem Jagen der Stadt zu, um den alten HauSarzi, vr. Bollant, herbeizurufen. Der alt« Herr, den er mitten au» dem Schlafe herauS- trommrlte, war auch sogleich dazu bereit, und kaum hatten die Pferd« ein paar Minuten verschnauft, so ging es wieder in gestrecktem Galopp über die nächtlich-düstere Landstraße, dem Gut»hofr zu. ES war ein Glück, daß vr. Bollant, als früherer Kavallerie-Regimentsarzt, ein sicherer Reiter war, sonst hätte er bei diesem stürmischen Ritte sein Leben riskirt. Denn der Reitknecht feuerte die Pferde immer von Neuem zur Eile an, so daß der Arzt kaum Zeit sand, sich über dir näheren Umstände de» fürchterlichen Vorfalles zu unterrichten. Die Pferde dampften, und schnaubend zogen sie durch dir Nüstern den Athen, rin, als daS Herrenhaus erreicht war und der alt« Johann dem Arzte au» dem Sattel half. Schweigend geleitete er ihn über die Stiegen in das matt erhellt« Zimmer Lucie'» zu dem Bett«, in welchem der Gutsherr lag. Dessen Wangen waren womöglich noch gelblicher geworden, und der starre Zug des Entsetzens stach von dem Hellen Weiß der Kiffen noch mehr ab. Schweigend drückte der Arzt Lucie die Hand, deren rothgeweinte große Augen in banger Angst sich auf ihn richteten, als er sich nun zu dem Gutsherrn niederbeugte, di« Hand auf seine Schläfe leatr, di« fast grschloffenen Augenlider etwa» hob und dann dir Wunde untersuchte. Unendlich vor sichtig ging er dabei zu Werke und eingehend prüfte er di« Wund« in der linken Brust, deren Blutverlust eia sehr starker gewesen sein mußte. „Ein Schuß!" murmelte er, al» er mtt Hilfe de» alten Josef den Schloßbefitzer auf die Seit« gelegt und die kleine schwarz. geränderte Oeffnung im Rücken untersucht hatte. „Ein Schuß, und zwar ein heimtückischer, meuchlerischer. Hinterrücks wurde Herr Rawen niedergcschossen." Ingrimmig blitzte es dabei über sein verwittertes Soldatengesicht. „Erbärmlich, ein solches Leben . . ." Seine Worte erstarken in ein unverständliches Murmeln. Als er endlich den Verband angelegt hatte, hob er seinen weißhaarigen Kopf, und mit schmerzlichem Bedauern Lucie, die klopfenden Herzens am Bettrande stand, die Hand reichend, sagte er: „Noch ist nicht alles Leben erloschen. Schwach regt sich noch das Herz, aber ... es ist meine Pflicht, es Ihnen zu sagen, gnädiges Fräulein, wie schwer es mir auch hier gerade wird, menschliche Kunst vermag schwerlich zu helfen. Der Mörder hat zu gut gezielt. Seien Sie stark, um dieses grausame Geschick zu ertragen!" Ein heißer Thränenquell floß auS den Augen Lucie'S, und brünstig küßte sie wieder und wieder die kalten blutleeren Lippen des BatrrS, als wollte sie ihm Leben einhauchen, damit er einmal noch die Augen öffne, ihr einen Blick schenke. Und — war «S die suggestive Gewalt dieses elementaren Schmerzes, war es der Klang der lieben Stimme? — Die Wimpern des schon halb Verschiedenen bewegten sich langsam und di« Lippen zuckten. Der rasch herbeigetrrtene Arzt schob das Kiffen ein wenig tiefer unter den Kopf und strich mit der Hand leise über die Schläfe deS Gutsherrn. Stockend, kaum fühlbar klopfte der Puls. Es war das letzte Aufflackern vor dem Erlöschen. Ein« Weile ließ der Arzt Lucie gewähren, die den Vater mit den zärtlichsten Kosenamen rief, dann fuhr's ihm plötzlich durch den Sinn, jetzt war vielleicht der Augenblick, zu erfahren, wer dieses Menschenleben meuchlerisch gefällt. Ein dringlich redete er auf den Sterbenden ein, der ihn mit starren Augen ansah. Aber er schien ihn nicht zu verstehen, nichts deutet« darauf. Der Glanz in seinen Augen erstarb, der Kopf fiel ihm tiefer auf die Brust . . ., da öffnete er noch einmal di« Lider, uad den Blick Lucie'S suchend, lallte «r: „Mar!" vr. Bollant näherte die Lippen seinem Gesichte und in furchtbarer Erregung fragt« er: „War er der Mörder, er?" — Aber keine Antwort ward ihm zu Theil, die Augen schlossen sich und der Mund blieb stumm — für immer. Ueber Lucie'S Gesicht hatte sich bei dem einzigen Worte, das der Gutsherr noch gesprochen, ein Zug gelegt, der Entsetzen, Angst und Kummer ausprögtr. Schirr unheimlich blickten ihre Augen, die sich weit geöffnet hatten, aber keine Thränen linderten den Schmerz. Bewegungslos kniet« st« am Brttrandr, die Hände krampfhaft ineinander gefaltet. Sie hörte die milden Worte des Arztes nicht, und mit Gewalt mußte sie dieser emporziehen und in das Nebenzimmer führen, wo sie sich hilflos in einen Sessel niederkauerte. „Gnädiges Fräulein, verzweifeln Sie nicht! Nun gilt es, den Mörder Ihres Herrn Papa ausfindig zu machen", sagte er; „hoffen wir, daß er der menschlichen Gerechtigkeit nicht entgehe!" „Aber wo sollte er zu finden sein?" fragte Lucie, und scheu-ängstlich hafteten ihre Augen an des Arztes Gesicht. Dessen Züge verfinsterten sich. „Man wird ihn zu. finden wissen, und vielleicht giebt das letzte Wort des Herrn Rawen einen Anhaltspunkt hierfür." Da erhob sich Lucie jäh aus dem Sessel, und dicht an den Arzt herantretend, sagte sie mit zitternder Simme: „Herr Doctor, Papa nannte nur einen Namen, den Namen meines Bruders Max, weil er ihn um sich sehen, weil er ihm vielleicht Manches verzeihen wollte, das er ihm bisher nicht verziehen. Und Sie, Doctor, wollten dieses Wort, das nur die Liebe dictirt, in einem anderen Sinne deuten?" Tödtliche Angst jagte über ihr Gesicht, sie schrie dabei fast auf. „Beruhigen Sie sich, gnädiges Fräulein", entgegnete Doctor Bollant milder und berührte leise ihren zitternden Arm. „Ich wollte nichts gesagt haben, aber ich fürchte, daß man dem Worte eine andere Deutung geben wird, als Sie «S thun und wie ich «S wünsche." „Das wäre entsetzlich, fürchterlich, ein neuerlicher Mord!" flüsterte Lucie und sank zurück in ihren Sessel. „Aber das ist ja unmöglich, daS kann ja nicht sein! . . ." Sie weinte bitterlich vor sich hin. Ueber daS verwitterte Gesicht des alten Arztes ging ein trübes Lächeln. Er bereute jetzt fast, den Versuch gemacht zu haben, dem Sterbenden die Mittheilung abzuringen, wer sein Mörder gewesen sei. Diese- kleine Wörtchen von der lallenden Lippe deS Sterbenden, eS vernichtete vielleicht ein Menschenleben. War zwischen der Frage de» Arztes nach dem Mörder und diesem Namen irgend ein Zusammenhang? War es die Antwort darauf? Oder war es der sehnende Ruf des Vater» nach seinem Stieskinde? War es eine Anklage, oder sprach's Ver zeihung au»? Drittes Capitek. Und noch ein neuer schwerer Schlag brach über Schloß Rawen herein. Die entsetzlichen, so jäh aufeinander folgenden Ereignisse waren für die angegriffenen Nerven der Gutsherrin zu viel, sie drückten str nieder, und rin hitzige» Nervrnfirber warf sie in jener Nacht aufs Krankenlager, als sie den Gatten in starrer Todcsruhe auf Lucie's Lager hingcstreckt sah. Die schwachen, jungen Schultern Lucie's hatten viel, sehr viel zu ertragen. Wenigstens ein Trost war eS in dieser schrecklichen Zeit, die ihr frohes Herz mit den bittersten Kümmernissen des Lebens anfllllte, daß ihr Halbbruder Max, der in dem nur wenige Bahnstundcn entfernten Dresden als Bildhauer wohnte, auf ihre telegraphische Meldung sofort herbeigecilt kam, vergessend, was ihn von dem Tobten getrennt. Max Horwart war der Sohn der Wittwe Horwart, mit welcher Alfred Rawen, Lucie's Vater, in erster Ehe vermählt war. Sie war die Wittwe eines reichen älteren Bankiers ge wesen, der kurz nach der Geburt des Knaben gestorben war. Maxens Mutter war wenige Jahre, nachdem Rawen dieses prächtige Gut erworben, einer tückischen Krankheit erlegen, worauf nach mehrjähriger Trauerzeit Rawen seine zweite Frau Hanna heimführtr. Der muntere Junge sollte unter strenge Zucht gebracht werden, und so übergab ihn der Stiefvater einem hervorragenden Erziehungsinstitute. Max wuchs heran, die meiste Zeit fern von dem Gute seines Stiefvaters weilend, dort fast nur die Ferienmonate verbringend. Trotz der strengen Regeln des Institutes blieb er ein toller Junge, dem die Freiheit über Alles ging. Er schüttelte daher auch lachend den Kopf mit dem mädchenhaft hübschen Gesichte, als ihn Herr Rawen seinen Herzenswunsch wissen ließ, daß er Officier werden möge. „Nein, Papa", sagte er und wurde einen Augenblick ernst, „ich paffe nicht zum Habt-Achtstehen und Commandiren. Ich würde es nicht übers Herz bringen, mit den armen Soldaten so streng und grausam zu sein, wie der Dienst es vorschreibt. Lasse mich das werden, was Du bist, ein Landwirth, ein Gutsbesitzer! Aber freilich", fügte er lachend hinzu, „das könnte ich auch nicht werden; denn ich glaube, es würde mir auf die Dauer zu lang weilig werden, meinen eigenen Kohl zu bauen. Doch für die Kunst trage ich ehrliche Begeisterung in mir. Ein Maler, «in Bildhauer möcht' ich werden, ein freier Mann, den es nicht scheert, wenn draußen Wind und Wetter ziehen, der aus dem Inneren schafft!" Streng hatte der Gutsbesitzer erst auf den unfolgsame« Stiefsohn niedergeblickt, der so jung schon seine» eigenen Wege gehen wollte, aber allmählich zog e» milder über sein sorgen gefurchtes Gesicht; er war in seiner Jugend em leidenschaftlich«, Kunstfreund gewesen, und noch in di« spätere Lebenszeit halte er sich einen Funken diese» Empfinden» hinüberger«tt«t. E» war daher auch nur rin schwacher widerstand, den er Maxens Plänen entgegensetzte, der endlich, jubelnder Begeisterung »oll.
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