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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.10.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-10-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001010024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900101002
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900101002
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-10
- Tag 1900-10-10
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Monat
1900-10
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Jahr
1900
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz uach höherem Tarif. Sh'tra-Beilagen (gesalzt), nur mit de, Morgen - Ausgabe, ohne Postbesörderuu- 60.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. .Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags »Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ei» halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an die Srpeditto» z« eichten. Druck and Verlag von L. Polz in Leipzig 81. Jahrgang Mittwoch den 10. October 1900. Die Wirren in China. Lpieaclfcchtcrcic». „Reuter's Bureau" berichtet aus Peking unter dem 4. October: Abschriften des EdictS, das die Prinzen Kang-ji, Tsai-tin und Tsai-jing ihrer Titel und Würden entkleidet, sind den Mitgliedern des diploma- lischen Corpö zugestellt worden. Prinz Tu an verliert seine Aemter und seine Pension und wird dem Ministerium deS kaiserlichen Haushalts zur Bestrafung übergeben. Kang-ji und Tschao - schu--tschiao werden dem Ccnsoramt über antwortet. Der Kaiser legt Werth darauf, daß man nicht zögere, mit den Mitgliedern seiner eigenen Familie, denen er eine schlechte Führung der Staatsangelegenheiten vorwirft, streng zu verfahren. Dasselbe „Neutersche Bureau" erfährt weiter aus Peking unter dem 6. d. M.: Prinz Tsching hat vom Kaiser ein vom 1. d. M. datirtes Edict erhalten als Antwort ans dir Denkschrift Tsching's, in welcher dieser im Namen der Ge sandtschaften den Natb ertheilte, der kaiserliche Hof solle nach Peking zurückkehren. Der Kaiser erklärt in dem Edict, er werde nach Peking zurückkehren, sobald die Ver handlungen eine günstige Wendung nehmen. In dem Edict heißt es ferner, es bedürfe chinesischer Machthaber, nm der vielen gesetzlosen Handlungen von Chinesen in Peking Herr zn werden. ES braucht nicht immer wieder gesagt zu werden, was es mit dem Gerede von der Loyalität des chinesischen Hofes auf sich hat. Täglich mehren sich die Meldungen von neuen chinesischen Rüstungen und lassen auf die wahre Stim mung und die eigentlichen Absichten der Kaiserin-Regentin und ihrer „Paladine" schließen. Die jüngste Meldung des „Reuter'schen BureauS" besagt: * Peking, 9. Lctober. Viele Chinesen in den Provinzen kommen dem Aufruf zu den Waffen, welcher in dem Edict vom Juni erlassen war, nach. Wie von Chinesen berichtet wird, sollen sich 50 000 Mann im Südwesten sammeln. In Paotingfu allein sollen 12 000 Mann regulären chinesischen Militärs stehen und ebenso starke Truppen zwischen Paotingfu und Peking. Tie Spedition nach Paotingfn anlangend, so ist sie die erste größere militärische Unternehmung seit der Einnahme von Peking und wird zum größten Tbeil von deutschen Truppen ansgeführt. In Paotingfu, dem ehemaligen Sitz deS Generalgouverneurs der Provinz Tl'chili, 140 km südwestlich von Peking, nahmen im Frühjahr die Boxernnruhcn zuerst größeren Umfang an. Von hier aus flulhete die Bewegung, nachdem an den dort thätigen In genieuren und Missionaren allerlei Schandthaten verübt worden waren, gegen Peking vor. Noch jetzt werden in der Nähe der Stadt fünf belgische Ingenieure und 15 Missionare belagert; sie haben, wie schon migctbeilt wurde, den ihnen von Li-Hung-Tschaug angeboteren freien Abzug unter chinesischer Bedeckung, weil sie Verrath fürchten, abgelebnt. Jene Expedition bezweckt also, Paotingfu, das Hauptquartier der Boxer, auSzubeben und die belagerten Ausländer zu befreien. Auch nach der Richtung, meint die „Köln. Ztg.", dürfte diese Unternehmung von Nutzen sein, daß sie den Chinesen aufs Neue die Rührigkeit der fremden Truppen vor Augen führt und ihnen den Beweis liefert, daß sie nicht an die Straße Tientsin-Peking ge bunden, sondern auch in der Lage sind, Uebelthätern weiter im Innern an den Kragen zu gehen. Uebrigens soll die Nachricht von dem bevorstehenden Ausbruch der Expedition solchen Schrecken verbreitet haben, daß Paotingfu schon jetzt fast verlassen sein soll, eS wäre jedoch bedenklich, aus diesem Gerücht zu schließen, daß die verbündeten Truppen keinen Widerstand finden würden. Von den „Kanonenbooten" frei lich, die die Boxer laut einer über Amerika zu uns gelangten Meldung „auf den Canal" gebracht haben sollen, ist eine ernstliche Gegenwehr nicht zu befürchten, denn einmal sind diese chinesischen Kanonenboote nichts als Segeldschunken, die ihren Mangel an Gefechtskrast und Kampflüchtigkeit unter der grimmigen Bemalung der Bordwände zu verdecken suchen, und dann liegt Paotingfu gar nicht an einem Canal. Von dort bis zum Dünho, dem „Großen Canal", der Tientsin berührt, mißt die Entfernung gegen 100 km. Die Zeitungsmeldungen, daß man auf deutscher Seite eine Expedition nach Tiuganfu plane, beruhen nach einer officiösen Mittheilung der „Post" auf Erfindung. Wir hatten dieselben gleich als unglaub würdig bezeichnet. Auch die englische Meldung, daß die Sendung eines britischen Kanonenbootes auf den Hanfluß mit der Möglich keit in Verbindung gebracht werde, den kaiserlichen Hof, der sich bekanntlich von Taiyuenfu nach Siuganfu in Sckcnsi in Bewegung gesetzt- haben soll, abzufangen, bedarf der kritischen Sichtung. Wie der jetzt viel genannte Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft in Peking H. Cordes in seiner vortrefflichen Abhandlung über die „Handelsstraßen und Wasserverbindungen von Hankau nach dem Innern von China" (Berlin 1899, bei Ernst Siegsr. Mittler L Sohn) auS- führt, kann der Hanfluß, der, in nordwestlicher Richtung aus Sckensi kommend, bei Hankau in den Aangtse fließt, acht oder neun Monate des IabreS 780 km auswärts bis Lao- hokou von kleinern Dampfern befahren werden. Von diesem Orte zweigen zwei Wege nach Singansu in Schensi ab. Der bekanntere führt den etwas oberhalb Laobokou mündenden Tanfluß hinauf zu Wasser bis Kingtzekuan bezw. in der guten Jahreszeit bis Lungkütschai, etwa 1200 km von Han kau, und von dort mit Saumthier oder Kuli über die Wasser scheide zwischen Han- und Weiflnß (Tsinglinggebirge) in fünf Tagereisen nach Singan. Die zweite VerkchrSstraße nach Singan folgt von Laobokou aus dem Hauptarm des Han bis zur Grenze von Schensi. Dort biegt sie in einen von Norden kommenden Nebenfluß ein, welcher bis Mantschuangkuan jenseits der Grenze Schcnsis schiff bar ist. Von dort gehen die Waareu zu Lande über Schanyanghsien nach Singan. Wenn die an geführte englische Meldung überhaupt einen Sinn hat, so könnte er nur dahingehen, daß das britische Kanonenboot zu erkunden habe, ob diese Waarcnstraßen auch für Truppen zu benutzen sind; aber schon aus der kurzen Beschreibung erhellt, daß die Entfernungen und Schwierigkeiten so groß sind, daß auf diesem Weg der chinesische Hof in Singan ebenso wenig zu erreichen wäre wie von Peking aus, ganz abgesehen davon, daß er sich sicherlich bei dem ersten Versuch wieder auf die Beine machen würde. Da auch der, wenn man nach der Karte urtbeilcu wollte, bequemste Weg nach Singan, den Hoangho und den Weisluß aufwärts nickt ein geschlagen werden kann, weil der Hoangho der Schifffahrt unüberwindliche Schwierigkeiten bietet, so wird mau also wohl oder übel auf den Plan, dem Kaiser und der Kaiserin auf ihrer Flucht zu folgen, verzichten müssen. Tic Lage in Peking. Der Rückzug der russischen Truppen anS Peking wird von denjenigen Mächten, die den militärischen Tbeil deS ostasiatischcn Feldzuges noch nicht für beendet halten, mit einer Verstärkung ihres für die chinesische Hauptstadt be stimmten Machtausgcbotes beantwortet. Nach de» Engländern ziehen jetzt auch die deutschen Befehlshaber weitere Truppcnthcile uack Peking, um die Besetzung der ausgedehnten Stadt in dem bisherigen Umfang aufrecht zu erhalle». So wird uns n. A. berichtet, daß letzter Tage ein Bataillon eines deutschen ostasiatischen Infanterie-Regiments mit zwei Geschützen in Peking eingetroffen ist. Dem „Berl. Loc.-Anz." wird aus Peking, 3. October, tclegraphirt: Heute rückte an Stelle der abmarschirten russischen Compagnie, welche bisher den Palast der Kaiserin-Mutter besetzt hatte, eine Compagnie unserer Secbataillone dort ein. Das neu eintreffcnde deutsche Infanterie-Regiment (s. oben) wird in dem östlichen Theile des den Deutschen überwiesenen Stadtgebietes Quartier beziehen. Hier verlautet, gestern sei eine englische Cavallerie-Patronille nahe bei Patasckan, wenige Kilometer südwestlich von Peking, auf vier Compagnien ckinesisches Militär gestoßen. Details hierüber fehlen noch. Es ist noch immer unentschieden, ob Peking oder Tientsin der Sitz der diplomatischen Verhandlungen wird. Hiesige Chinakenncr betonen fortgesetzt, nnr in Peking geführte Ver handlungen würden Eindruck auf die Chinesen machen. In den südlichen Provinzcn scheint die Zeit verhältnißmäßiger Ruhe jetzt auch vorüber zu sein. Ueberhaupt dürfte, wenn der Hof sich dauernd in Sin- ganfu niederläßt, der Tchwerpunct der Ereignisse mehr in die englische Einflußsphäre, das djaugtse - Thal verlegt werden. Aus Shanghai, 31. August, wirq der „Frkf. Ztg." geschrieben: Peking ist freilich befreit, und die Chinesenstadt Tientsin nicht nur genommen, sondern leider auch geplündert worden. Dafür fängt es aber an, in den süd lichen Provinzen zu gähren. Möglich, daß es den bisher den Fremden wenigstens einigermaßen günstig gesinnten Vicekönigen gelingt, diese Gährung zu unterdrücken, möglich aber auch, daß dies nicht gelingt. Jedenfalls wächst die Gährung, wenn sie auch in Hankau nur schwachen Ausdruck fand, im Uangtsethale ge waltig, und das Unglaublichste ist an der Sache, daß man in außerenglischen Kreisen allgemein annimmt, daß englisches Gold dahintersteckt. Ich kann dies kaum glauben, selbst wenn man mir oorhält, daß es in Englands Interesse liege, -am oberen Jangtse eine Revolution unterdrücken zu können, und dann nachher in der Lage zu sein, darauf hinzuweisen, daß es besondere Ansprüche auf dieses Thal habe. Meiner Ansicht nach wird die englische Diplomatie doch bedenken, daß sie, wenn ein solcher Plan, Unruhen zu stiften, gelingen sollte, sich des indirecten Mordes der Engländer im Uangtsethale schuldig machen würde. Freilich — Diplomaten können manchmal recht grausam sein! Im klebrigen ist nicht zu leugnen, daß auch in Shanghai Lie englische Presse es nicht an Versuchen fehlen läßt, die chinesische Bevölkerung zu reizen. Wenn beispielsweise die eng lische Municipalität beschloß, zur Feier des Entsatzes von Peking eine Schmückung der Straßen und eine großartigeJllumination zu veranstalten, nebst einem glänzenden Fackelzuge; so mußte sie sich darüber klar sein, daß dies. Unternehmen in einer chinesischen Stadt Unwillen erregen würde. So entdeckte man denn auch, daß von Seiten der Chinesen der Abend zu einer Brandstiftung benutzt -werden solle. Was sich daran angeschloffen haben würde, war klar. Wer erst die Brandfackel schwingt, der schwingt auch das Messer, und die Jubelfeier hätte einen höchst merkwürdigen Abschluß finden können. Nebenbei sei bemerkt, daß die Aus^ schmilckung der Straßen im Europäerviertel nicht nur Chinesen, sondern auch andere Sterbliche verletzte. Der englisch gesinnte, oder doch englisch beeinflußte Stadtrath ließ nämlich in dem internationalen Settlement nur mit den englischen Farben ver sehene und mit englischen Wappen geschmückte Masten aufstellen, so daß sich -der deutsche Äeneralconsul zu einem ernst lichen Proteste veranlaßt sah. Allerdings ist anzunehmen, daß es nicht allein diesem Proteste, sondern in erster Linie der rechtzeiti gen Entdeckung des chinesischen Brand st iftungscom- p l o t t s zu danken war, daß die Illumination abbestellt wurde. Dafür fand eine prächtige und wohl zu rechtfertigende Parade statt. Der Durchzug der Freiwilligen durch die Stadt mußte Eindruck auf die zusammenge strömten Chinesen machen. Freilich sah ich manchen haßerfüllten Blick auf die fremden Truppen fallen, die da mit rauschender Musik durch Chinesenmassen marschirten. Ich stih sogar hier und da ein fast verächtliches Lächeln, welches mir gar nicht gefiel und auch durchaus unverdient war, denn die Shanghai-Bolunteers sind ganz entschieden in ihrer ganzen Haltung ein durchaus militärischeres Corps, als die englischen Bolunteers in der Heimath. Es mag sein, daß dies daraus zu erklären ist, daß die Vokunteers in der Heimath aus Lust am Soldatenspiel Vokunteers sind und die anderen aus bitterer Roth. Wer hier nicht Soldat ist nach bestem Wissen und Können, der ist beim Ausbruch von Unruhen schlimm daran! Von deutschen Truppen nahm nur eine Shanghaier Volunteercompagnie Theil, die beim Parademarsch am besten die Beine warf. Die übrigen Truppen gingen, aber sie marschirten nicht. Damit möchte ich nicht unbedingt behauptet haben, daß durch das bessere Beine- werfen der Beweis größerer 'Leistunoissähigkeit gegeben sei, aber es that mir doch wohl, dieses Beinewerfen — vielleicht des halb, weil es eine Erinnerung an die eigene Vergangenheit wachrief. Den strammsten Eindruck machten in mancher Be ziehung die Anamiten, eine von französischen Offi- cieren und Unterofficieren gedrillte anamitische Compagnie, die, chinesisch gnug aussehend und barfüßig, mit großem Schneid ihre Griffe machte und merkwürdig gut stillstehen konnte. Weniger gut gefielen mir die Japaner, von denen ich, nach dem, was man mir von ihnen erzählt hatte, militärischere Haltung er wartet hatte, und noch weniger die indischen Gurkas. Auch über sie hatte ich mir eine Ansicht gebildet, die ich fallen lassen mußte. Sie machten keineswegs einen schneidigen Eindruck, sondern vielmehr den Einruck von Recruten, die ihren ersten Parademarsch machen. Besser sahen die „Rajputs" aus, hohe, braune Gestalten von ernstem Aussehen. Wären sie in schottischen Uniformen gewesen, so hätte man sie für Schotten halten können. Nicht vergessen darf ich die Freiwilligen-Com- pagnie der Amerikaner, die mit ihrem Karabiner im Arm einen recht flotten Eindruck machten. Doch der Hauptkindruck war der aus die Chinesen, die wohl einsehen mochten, daß ein Stadttheil, der über so gut be waffnete und energische Mannschaften verfügt, nicht ohne blutigen Kampf genommen werden kann. Diesen Eindruck ver stärkte die Landung von 700 Franzosen mit einer Batterie am nächsten Tage. Die Infanterie war Marine-Infanterie, die Artillerie hatte zwei Drittel tongkinesische Bemannung. Bei der Marine-Infanterie fiel die elegante und doch dabei schneidige Haltung höchst wohlthuend auf. Die von Kopf bis zu Fuß hell blaue Uniform dagegen wirkte nicht besonders anmuthend. Darauf kommt es aber auch nicht an. Jedenfalls machte die Truppe einen vorzüglichen Eindruck. * Loudon, 9. October. Dem „Reuter'schen Bureau" wird aus Shanghai von gestern gemeldet: Heute vor Tagesanbruch wurden Feuilleton» ii Der Bundschuh. Roman von Woldemar Urban. Nachdruck verboten. E r st e s B u ch. I. Ein blaues Blümlein, ein grünes Blatt, Das gab ich dem Mütterlein meine, Nun b'hüt dich Gott, lieb' Vaterstadt, Ich geh' nach Straßburg am Rheine. Ich geh', wohin die Winde weh'n, Wohin die Wolken ziehen, Wohl durch die Thäler, wohl über die Höh'n — Wo wird mein Glück mir erblühen? Frau Nachtigall singt und ahnend klingt Es mir im Herzen mein wieder: Was die Erde bringt, was das Sternlein blinkt, Erring' ich durch meine Lieder. So sang Veit Led. Ein junges, kaum zwei- oder dreiund zwanzigjähriges Bürschcl, wanderte er rheinaufwärts in die frische grüne Welt hinein, ein sorgloses, muthwilliges Blut, den unbändigen, echt deutschen Wandertrieb im Herzen. An der Seite, wo andere Männer das Schwert führen, trug er sein In strument, die Fiedel, mit der er sich die Welt zu erobern gedacht». Man sah sowohl dem frohfrischen, runden Gesicht mit den kecken, zuversichtlichen Augen, als auch der noch fein säuberlichen und sorgfältigen Kleidung an, daß Veit Led seinen ersten Ausflug vom HauS machte. Die Sorgfalt der Mutter lag noch auf ihm, und die naive Ahnungslosigkeit der Jugend von Welt und Men schen, die voreilige Erwartung, daß nun die Welt und Menschen nichts Eiligeres zu thun haben würden, als seine junge Herr lichkeit anzustaunen und sich ihm von der besten Seite zu zeigen, sprach aus seinem Wesen. Wenn aber Veit nun auch keck in die Welt hineinsang, wenn er auch mit wachsendem Muth den spärlich sprossenden Flaum auf der Oberlippe streichelte, so ruhten doch die Augen so mancher jungen Frau und so manchen jungen Mädchen» unruhig, unheil sehend und ängstlich auf ihm, wenn er auf seiner Wanderschaft die Gassen ihrer Städtchen durchschritt. Er war noch gar so jung für die Welt und gar so hübsch. Manches Auge winkte ihm zutraulich zu, als wollte es sagen: Bleib', junger Bursch. Wenn Du wüßtest, wie die Welt geht, hättest Du nicht solche Sehnsucht nach ihr. Und gerade zu jener Zeit — es war im Frühjahr 1626 — war die Welt so voller Gefahren, wie niemals zuvor in Deutsch land. Die ganze Rheingegend, Schwaben, Bayern und das Elsaß bis hinunter zu den eidgenössischen Städten stand im Hellen Auf ruhr. Ueberall zuckte die rothe Flamme der Revolution empor, zerstörte Burgen, brennende Städte, „abgehauste" Bauern und Edelleute und tausendfaches Elend bezeichneten ihre Spur, alle Landstraßen waren überfüllt mit zweifelhaftem Gesindel, Bett lern, Landsknechten und Räubern, oft das Eine im Anderen, und große Bauernhaufen, bis zu zwanzig und dreißigtausend Mann stark, denen sich natürlich der ganze Abhub des Landes zugesellte, zerstörten trotzig und unbezwungen alle bisherige Ordnung mit wilder Gewalt. Keine Reichsgewalt war vor handen, und der sogenannte deutsche Kaiser, der Spanier Karl der Fünfte, weilte fern im Süden, in seinem geliebten Spanien. Also die hübschen Jungfräulein hatten wohl Recht, wenn sie dem jungen Spielmann zutrauliche Blicke zuwarfen, als wollten sie sagen: Bleib', junger Bursch! Wenn Du wüßtest, wie die Welt geht, hättest Du nicht solche Sehnsucht nach ihr. Veit wußte es nicht, wie die Welt geht, denn sonst hätte er wohl schon den Bitten und Thränen seiner Mutter nachgegeben. Aber er wollte von all' den Warnungen nichts hören und lief in die Welt, wie sein Vater auch in die Welt gelaufen war, als Beit noch ein kleiner Junge gewesen. Oft dachte er daran, wie hübsch es sein müsse, wenn er auf seinen Kreuz- und Querfahrten im deutschen Land seinen Vater auffinden würde. Er glaubte ihn wiedererkennen zu müssen, obwohl Veit erst kaum fünf Jahre gewesen, als sein Vater Köln — Veit stammte aus Köln — verlassen mußte. Weshalb der alte Led vom Haus fliehen mußte, wußte Veit nicht, nur soviel war ihm durch seine Mutter bekannt geworden, daß sein Vater in Köln hat „gefragt"*) werden sollen. Dem wollte er natür lich ausweichen, denn er liebte seine gesunden Glieder. Der Frühlingswind, der rauschend durch den schwarzen Tann des Elsaß fuhr und ächzend und krachend die Wipfel bog, hatte den Gesang des jungen Spielmanns kaum verweht, als er sich plötzlich und in einer gewissen spöttischen Tonart angerufen hörte: „Wohin des Weges, junger Fink?" Veit sah sich überrascht um und bemerkte in der Dämmerung *) Gefoltert. zwei Gestalten im Straßengraben liegen, Bettler, Strauchdiebe oder Aehnliches. „Was geht es Dich an, alter Schuhu?" gab er kurz angebun den zurück und wollte rasch vorüber. Da erhob sich der eine der Bettler halb von seinem Lager, schaute einen Augenblick aufmerksam nach Veit hin und sprang dann rasch auf, um näher zu treten. Es war ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren, eine zerlumpte und verlodderte Ge stalt mit nackten Füßen und aufgekrempten Hosen, so daß etwas über den Knöcheln merkwürdige rothbraune Ringe sichtbar wur den, die mit Blut unterlaufen und wund zu sein schienen, als ob der Mann im Block gelegen hätte. Ein graumelirter, struppiger Bart überzog fast das ganze Gesicht. Der Mann hinkte, oder that wenigstens so und bettelte Veit mit plötzlich veränderter winselnder Stimme an: „Um Christi Barmherzigkeit willen, hilf' einem armen, kranken Manne, der unschuldig gelitten und sich kaum auf den Füßen erhalten kann." Der andere Bettler, der im Straßengraben geschlafen zu haben schien, hob jetzt auch ein wenig den Kopf und blinzelte eigcnthiimlich spöttisch und belustigt zu Veit hin. Laß' ihn laufen, Joerg, rief er dann mit einer tiefen Baßstimme verächt lich, es ist ein Wittscher. *) „Gieb' mir Dein Griffling**) junges Herrlein", fuhr der Andere bettelnd fort, „und hilf' einem armen, alten Manne von der Stelle. Gieb' mir Dein Griffling, sonst falle ich um." Erstaunt, aber doch vom Mitleid bewegt, gab ihm Veit die Hand, aber statt sich darauf zu stützen, wie er erwartet, streifte der Bettler flüchtig den Aermel von Veit's Rock etwas zurück, wodurch eine kleine Narbe, die er schon seit frühester Jugend am Handgelenk hatte, zum Vorschein kam. *) Wittscher ist ein Ausdruck aus der mittelalterlichen Gaunersprache oder Rothwelsch, und heißt im Gegensatz zu Cochemer (der Wissende, Kundige oder Genosse) der Unkundige oder Dumme. Uebrigens war die Gaunersprache nicht lediglich eine Sprache der Gauner, wie schon die zahlreichen, dem He bräischen entlehnten Bestandtheile ihrer Worte beweist (wie z. B. Gaver (Mann), Kis (Geld), Kesuv (Silber), achlen (essen), Lehem (Brod), woraus später Lehm wurde, u. s. w.). Es be dienten sich ihrer vielmehr alle Leute, die die Landstraßen be völkerten, also Kaufleute, besonders Juden, und vor allen Dingen die Handwerksburschen, diese unglaublich zähe Gilde deutscher Reisenden, welche auch durch so viele Jahrhunderte hindurch ein zelne Ausdrücke des Rothwelsch bis in unsere Tage erhalten hat. **) Griffling gleich Hand. „Was hast Du mit Deinen Füßen gemacht?" fragte der Spielmann, unwillkürlich in seinen Kölner Dialect zurückfallend, „bist Du im Block gewesen?" lieber das Gesicht des alten Bettlers flog plötzlich ein fröh liches, Helles Lachen, so daß sich sogar sein Genosse, der noch immer im Straßengraben lag, erstaunt aufrichtete und den Beiden zusah. „Hollah, mein Junge, kommst aus Köln?" fuhr es dem alten Manne übermüthig froh und noch immer lachend aus den Lippen. „Woher weißt Du das?" fragte Veit erstaunt. „Ich komme allerdings da her." „Stattliches Bürschlein", fuhr der Andere statt aller Ant wort noch immer lachend und mit vor Freude glänzenden Augen fort, „stattlich und flott, aber link, oh, wie link.*) Und was macht das Gretlein, he? Was macht die gute Mutter Led?" Ueberrascht, aber mehr neugierig und interessirt als miß trauisch, sah Veit den alten, und wie er meinte, hilflosen Mann an. — „Woher kennst Du meine Mutter?" fragte er. „Ha, ha, ha", lachte der Alte laut und urwüchsig, „woher ich seine Mutter kenne! Du bist mir ein drolliges Bürschlein. Als ich Deine Mutter kennen lernte, mein Herr Flaumbart, da lagst Du noch bei der Frau Holle im Teich. Verstanden? Bist aber ein flinkes Kerlchen geworden, ein schmuckes Hähnchen, aber noch nicht flügge, ei, potztausend, so ein grüner Jung'!" „Du scheinst mir mehr flügge zu sein, als nöthig ist", er widerte Veit nun doch etwas übellaunisch. „Ich sehe nicht ein, weshalb ich grüner sein soll, als andere. Ich habe meine Füße noch in keinen Block zu legen brauchen, wie Du. Kannst Du denn laufen?" Der junge Spielmann verfehlte bei dem Alten offenbar seinen Effect, denn dessen Heiterkeit wuchs mit jedem Wort, das er sagte, so daß er vor Lachen im Gesicht ganz blau wurde und längere Zeit kein Wort sagen konnte. Auch der andere Bettler, der jetzt ebenfalls flink und gelenkig aufsprang, wollte sich vor Lachen ausschütten und sagte: „Laß' ihn, Joerg, laß' ihn. Was willst Du mit dem wittschen Flux?" „Komm mein Jung'", sagte Joerg endlich wieder gutmüthig, „wir haben hoffentlich die gleiche Straße, und wenn Deine Trittlinge so gut im Stande sind, wie die meinen, so kannst Du Gott danken. Willst nach Rappoltsweiler hinein?" „Ja, woher weißt Du das?" „Sehe ich nicht die Fiedel dort hängen? Bist ein Klingfetzer, he? Willst Dich in Rappoltsweiler in die Gilde aufnehmen *) Einfältig, unerfahren.
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