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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.11.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-15
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001115022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900111502
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900111502
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-11
- Tag 1900-11-15
-
Monat
1900-11
-
Jahr
1900
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Donnerstag den 15. November 1900. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeilc 25 H. Reklamen unter dem Redactionsstrich (4 gespalten) 75 H, vor den Familiennach richten («gespalten) 50 H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahine L5 (excl. Porko). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ./L 60.—, mit Postbesürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei deu Filialen und Annahmestellen je rin« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck uud Verlag vou E. Polz in Leipzig. SL Jahrgang. ,, Die Wirren in China. Wir haben schon im telegraphischen AuSzuge eine furze Inhaltsangabe der inr „NeichSanzeiger" veröffentlichten Berichte der deutschen Gesandtschaft in Peking mitgetheilt. Den vollen Wortlaut derselben nachzutragen erübrigt sich, da unsere Leser schon durch sehr ausführliche Berichte über den Gang der Ereignisse in Peking unterrichtet sind. Die amtliche Darstellung der Ermordung des Freiherr» v. Ketteler enthält aber noch so viele charakteristische und bedeutungsvolle Einzelheiten, daß wir derselben hier ihrem ganzen Umfange nach Raum geben. Der kaiserliche Geschäftsträger von Below rapportirt u. A. an den Reichskanzler, Fürsten zu Hohenlohe, unterm -'9. August: Am 20. August gegen 2 Uhr Nachmittags erhielt ich folgenden Brief ans dem Tsung li Damen: „Das Sekretariat des Tsung !i Damen beehrt sich mitzutheilen, daß ihm soeben vom Prinzen Ching die folgende mündliche Weisung zugegangen ist. Am Ein gang der zu unserem Damen führenden Gasse seien zwei in Sänften befindliche Beamte Ihrer Gesandtschaft, gerade als sie in die Gaffe einbiegcn wollten, nachdem sie selbst zuerst gefeuert hätten, von Soldaten ihrerseits angegriffen worden, wobei eine der in den Sänften befindlichen Personen getödtet worden sei; man wisse aber nicht, wer der Betreffende sei. Wegen dieses wieder ganz außergewöhnlichen Ereignisses sollten sofort Lienfang und 7u - ko - shih sich auf Ihre Gesandtschaft begeben, um vorläufig ni eondoliren, und die Soldaten, welche gefeuert hätten, sollten sogleich ermittelt und aufs Schwerste bestraft werden. Dies ist die Weisung, welche wir erhalten haben. Da indessen gegenwärtig auf den Straßen keine Sicherheit herrscht, so vermag der Dolmetscher Lienfang und sein College sich nicht zu Ihnen zu begeben. Indem wir uns beehren, dies zu erklären, bitten wir um gefällige weitere Veranlassung." Form und Inhalt dieses Briefes ließen deutlich erkennen, daß die Verfasser desselben, oder vielmehr Diejenigen, in deren .iuftrag er geschrieben war, sich wohl bewußt waren, wer der Ermordete sei. Das Schreiben trug nicht die wüst übliche Adresse: „An den Kaiserlich deutschen Gesandten", icndern war an die deutsche Gesandtschaft als solche gerichtet; jede Anrede war im Text vermieden; auch lagen nicht die Karten der Minister bei, wie dies sonst der Fall zu sein Pflegt. Ich bestätigte sofort den Empfang dieses Schreibens und iheilte dem Tsung li Damen mit, daß der Ermordete der kaiserlich deutsche Gesandte gewesen sei. Gleichzeitig ersuchte ich das Damen, alle Bemühungen eintreten zu lassen, um die Leiche auf zufinden, und sie der kaiserlichen Gesandtschaft zu übergeben. Eine Antwort auf dieses Schreiben habe ich nie erhalten. Am späteren Nachmittage traf dann noch eine Note des Tsung li Damen an den Doyen des diplomatischen Corps ein, in der erneut auf die Unsicherheit in den Straßen der Hauptstadt hingewiesen, und an die Gesandten die Bitte gerichtet wurde, falls sie dem Tsung li Damen Miltheilungen zu machen hätten, dies schriftlich zu thuu, da bei einem persönlichen Besuch ein Unglück sich ereignen könne. Am Schlüsse wurde hinzugefügt, Laß diese Note erst nach Rücksprache mit dem Prinzen im Laufe des Vormittags hätte rcdigirt, und dann in Folge des Gewehr feuers auf den Straßen nicht sofort hätte übergeben werden können. Auch wenn diese Note eher eingctroffen wäre, hätte sie Wohl kaum den Erfolg gehabt, den kaiserlichen Gesandten von dem einmal gefaßten Entschluß abzuhalten, sich persönlich nach dem Damen zu begeben, und mit diesem Schritte einen letzten Versuch zur Rettung der Situation zu wagen. Nach seiner Ermordung redigirt, bot sie nur einen Beweis mehr für das schmachvolle Spiel, das die chinesische Regie rung bisher und seitdem mit den Vertretern der Mächte getrieben. Die Ermordung des kaiserlichen Gesandten, Freiherrn von Ketteler, in Peking. Angaben des Augenzeugen, Gesandtschafts-Dol metschers Cordes. Ich war am Nachmittage des 19. Juni vom kaiserlichen Gesandten Freiherrn von .Ketteler zum Tsung li Namen ge schickt, um, wie am Tage vorher, abermals die Zurückziehung der unserem Posten in der Lichtcentrale auf wenige Schritte Entfernung gegenüberliegenden Tungfu-Hfiangschen (Kansu) Truppen nachdrücklich zu verlangen. Der mich empfangende Abtheilungs-Dircctor, Sekretär Sung, eine mir seit Jahren bekannte Persönlichkeit, war außerordentlich nervös und sprach in abgerissenen Sätzen von „einer großen Veränderung der Sach lage" — „cs werde schwer halten, die chinesischen Truppen im Zaume zu halten" — „in der chinesischen Regierung gehe Alles drüber und drunter" — „eine Note von Chün-chi-chu (Staats rath, oberste Reichsbehörde) sei schon unterwegs an die Ge sandtschaften, und daraus werde ich das klebrige ersehen." — Ich hielt unter diesen Umständen jedes weitere Palaver für überflüssig, machte Sung dafür verantwortlich, daß die Forde rung meines Chefs, betreffend die Zurückziebuug der Kansu- Truppen, an den betreffenden Oberstcommandirenden, Groß sekretär Jung-lu, gelange, und ging zurück. Bei meiner Rück kunft in die Gesandtschaft meldete ich Herrn von Ketteler sofort, was ich erfahren hatte, und machte kein Hehl daraus, daß ich die Sachlage für sehr bedenklich halte. Nach kurzer Zeit (5 Uhr) kam die Note des Damen, worin der Gesandtschaft eine Frist von 24 Stunden bis zum Verlassen der Hauptstadt gegeben wird. — Herr von Ketteler sträubte sich dagegen, zu glauben, daß die chinesische Negierung ernsthaft meine, was in der De pesche gesagt sei. Sie sei vom Wahnsinn dicsirt. Wir müßten die beiden Prinzen persönlich nocheinmal sehen, um ihnen ernsthaft ins Gewissen zu reden. Wir dürften, ohne diesen letzten Versuch zu machen, eine schwer errungene diplomatische Position nicht aufgebeu, die Milliarden kosten werde, um sic wiederzuerlangen. — So wurden in einer Antwortnote, welche dem Damen um 9 Uhr Abends zugestellt wurde, und über deren rechtzeitige Ablieferung im Namen eine Quittung vorliegt, die beiden Prinzen Ching und Tuan für den nächsten Morgen 9 Uhr um eine Unterredung im Tsung li Namen gebeten. Abends spät hatte ich noch eine längere Unterredung mit meinem Chef im Garten. Ich versprach mir nach dem am Nach mittag im Damen gewonnenen Eindruck wenig Erfolg von der Unterredung mit deu Prinzen, zweifelte überhaupt stark daran, ob wir dieselben am nächsten Morgen im Damen antreffen würden. Ich suchte auf einen Entschluß zu drängen, ob wir gehen oder bleiben wollten. Wenn es möglich sei, so sollten wir meines Erachtens pflichtmäßig bis zur Ankunft der Er satztruppen uns halten. Dies sei zwar, da morgen um 4 Uhr Nachmittags die Soldaten wahrscheinlich gegen uns losgelasseu würden, fast sicherer Tod, aber es sei nicht zu verkennen, daß der Abzug mit dem großen Troß an Frauen, Kindern und Chinesen, den wir mitzunehmrn gezwungen seien, mit Rücksicht auf die gänz liche Unzuverlässigkeit der chinesischen Truppen auch seine großen Gefahren habe. Ich gebrauchte bei dieser Gelegenheit das Bild vou Hunden, die man im Zaume halten könne, so lange man ihnen die Stirn zeige, die sich aber in blinder Wuth auf uns stürzen würden, sobald wir den Rücken wenden sollten. Herr von Ketteler war ganz meiner Meinung, wollte aber auf den letzten Versuch nicht verzichten, persönlich auf die leitenden chinesischen Regierungsvertreter einzuwirken. Am 20. Juni, Morgens um 8 Uhr, kam der Herr Gesandte zum Namen-Besuch angezogen zu mir und sagte, er gehe voraus nach der französischen Gesandtschaft, wo eine Conferenz der fremden Vertreter stattfinde. Ich möge 20 Minuten später mit den beiden Sänften folgen. Eine bewaffnete Eskorte (1 Untcrofficier und 4 Mann vom Schutzdetachement) solle bei dec österreichischen Gesandtschaft auf uns warten. Ich verließ, wie angewiesen, die deutsche Gesandtschaft mit den Sänften und den gewöhnlichen beiden Amtsreitern (Chinesen) um 8 hr 20 Minuten Vormittags und wartete in einer der Vorhallen der französischen Gesandtschaft auf die Be erdigung der Conferenz. Da ich den Herrn Gesandten ohne Waffen hatte fortgehcn sehen, so hatte ich auch den Winckester- Carabiner, den ich auf Anrathen des Gesandten auf diesen Wegen in den letzten Tagen stets mitgenommen hatte, zu Hause gelassen. — Kurz nach 8(H Uhr kam Herr von Ketteler allein aus der Versammlung. Er sah etwas nervös aus. Als wir diS' Sänften bestiegen, meinte er, ob cs nicht vielleicht gerathen sei, die bewaffnete Escorte zurückzulaflen. Ich ant wortete — hatte ich doch an den beiden vorhergehenden Tagen denselben Weg unangefochten allein gemacht, ohne daß dem Damen mein Besuch angekündigt und damit eine Gelegenheit ge geben wäre, für die Sicherheit des Weges zu sorgen —, daß die bewaffnete Escorte geeignet sei, Aufsehen zu erregen und deshalb wohl besser zurückbleibe. Ich mache aber darauf aufmerksam, daß ich gänzlich unbewaffnet sei: Wir müßten die Verant wortung für Alles, was geschehe, der chinesischen Regierung über lassen, die a u f u n s e r e n Besuch vorbereitet sei. Der Gesandte antwortete hierauf nicht. Ich hatte, indem ich mich der Meinung des Gesandten, daß die Escorte besser zuriickbleibe, anschloß, besonders Patrouillen und kleinere Trupps bewaffnete und unbewaffnete Kansusoldatcn im Auge, auf die ich bei anderen Gelegenheiten nördlich des Gesandtschaftsviertels ge stoßen war. Sic hatten mich bisher sret passircn lassen, ja sogar mehr oder weniger freundlich mit mir gesprochen. Der Anblick von 5 mit Gewehren bewaffneten fremden Soldaten muhte aber auf diese verwilderte und von großem Selbstver trauen beseelte Soldateska entschieden eine herausfordernde Wirkung haben und sie zu Thätlichkeiten reizen, zumal die Kansuleute leicht in großer Ueberzahl auftretcn konnten und erst drei Tage vorher mehrere ihrer Kameraden, welche sich aggressiv benommen hatten, von einer unserer Patrouillen ganz nahe der Gegend erschossen waren, die wir zu passiren hatten. Wir verließen die französische Gesandtschaft und bogen hinter derselben gleich links in die nach dem Zollhaus und der öster reichischen Gesandtschaft führende Querstraße ein. An der österreichischen Barrikade auf der Chang-an-Straße stand unsere Escorte. Der Herr Gesandte schien im Voriibcrgehen an der selben noch einen Moment zu schwanken, ob er sie mitnehmen solle oder nicht. Erst als er die Barrikade passirt und die Escorte das Gewehr über genommen hatte, um zu folgen, sagte er zu dem Untcrofficier: „Sie bleiben hier, bis wir aus Sicht sind. Dann kehren Sie in die Gesandtschaft zurück; ich brauche Sie nicht." Wir gingen die Chang-an-Straße nach Osten hinab. Ich sah, wie der Führer oer Sänftenträger den Vorhang vor der Sänfte des Gesandten herablassen wollte, und hörte, wie Herr v. Ketteler sich dieses verbat. Mir gefiel dieses neue Zeichen der männlichen Art meines Chefs, und ich folgte seinem Beispiele. So bogen wirmiioffenemVisier indieHatamen-Straßc hinein. Hier stand eine Menge Menschen, welche uns mit Inter esse betrachteten, ohne jedoch die geringste Neigung zu Feindselig keiten zu zeigen. Unsere beiden Sänften gingen auf dem er höhten Straßendamm dicht hintereinander. Von den beiden chinesischen Reitknechten ritt einer wie gewöhnlich vorauf, der an dere folgte den Sänften. Als wir den Tungtan-Pailou (Ehren bogen) passirten, sah ich einen von vier bis fünf Lanzenträgern begleiteten chinesischen Karren vor uns. Dieser Karren fesselte eine Weile meine Aufmerksamkeit. Als ich den Blick von ihm wieder auf die drei Schritte vor mir getragene Sänfte de4 Herrn Gesandten richtete, sah ich ein Bild, welches mein Blut eine Se kunde zum Stocken brachte: Links neben der Sänfte, welch« so eben die Polizeistation nördlich des genannten Pailou passirt hatte, stand wie aus der Erde gewachsen ein Bannersoldat (augenscheinlich Mandschu) in voller Uniform, Mütze mit 6. (?) Rangknopf und blauer Fever, in AnschlagsteI - lung, die Gewehrmündung kaum einen Meter von. dem Sritenfenster d«r Sänfte ent fernt, genau da, wo sich der Kopf des Herrn von Ketteler befinden mußte mitdemGewrhrderBewegungderSänftefol- gend. Nicht einer der neun Sänftenträger, deren Aufmerk samkeit allerdings wohl auf den Boden gerichtet war, hatte von dem Auftreten der Erscheinung das Geringste gesehen oder ge hört, denn Jeder ging ruhig seines Weges. Ich rief ent setzt „halt". In demselben Augenblick krachte der Schuß des Bannersoldaten vor mir — Vie Sänften wurden hingeworfen — ich sprang auf und erhielt in diesem Moment einen Schuß von links hinten, der den oberen Theil meines linken Oberschenkels und den Unterleib durchbohrte. Der Schuß war wahrscheinlich, ebenso wie bei Herrn v. Ketteler, auf meinen Kopf gezielt gewesen, aber durch das Hinwerfen der Sänfte uud mein Aufspringen deplacirt worden. Als ich den eine Halbthür bildenden Vorhang vor meiner Sänfte entfernt hatte und in der Oeffnung derselben stand, sah ich die Sänfte des Herrn Gesandten noch vor mir stehen. Von ihm selbst war nichts zu sehen oder zu hören. Ein Augenblick des Zauderns war sicherer Tod. Ich lief, so gut ich konnte, von lebhaftem Gewehrfeuer verfolgt, nach der nächsten schützenden Straßenecke halbrechts etwa 50 Schritte vor mir. Im Momeni bevor ich dieselbe erreichte, sah ich mit einem Blick nach rückwärts die Sänfte des Gesandten noch auf dem Stratzendamme stehen, ohne von ihm selbst jedoch das Geringste zu bemerken. — Die Seitenstraße war ganz menschenleer. Man feuerte weiter in die enge Gasse hinein hinter mir her. Ich glaubte, ich sei in der T'angtze-Hutung, in der das Tsung li Damen liegt. Dort konnte ich den Vorfall gleich melven und vielleicht Schutz finden. Ich lief, so lange meine Kräfte reichten. Allmählich hörten die Schüsse auf; aber ein paar mit Lanzen bewaffnete Leute ohne weitere Abzeichen (vielleicht dieselben, welche vorhin den Karren begleitet hatten) wollten sich di« Gelegenheit nicht entgehen lassen, einen ermatteten Fremden zu tödten. Sie verfolgten mich eine ganze Weile und ich hörte den Einen dem Andern zurufen: „Der thut's nicht mehr lange". Dann fühlte ick meine Kräfte schwinden. Ein Halbdunkel legte sich vor meine Augen. Ich sah hinter mir nur noch einen Lanzenträger, der im Laufen Stoßbewegungen nach mir machte. Auf Alles gefaßt, ging ich langsamer unv hielt das mit schwarzem Tuch überzogene Armbrett der Sänfte, welches ich instinctiv mitgenommen hatte, zum Schutze gegen die Sonne über meinen unbedeckten Kopf. Dieses Armbrett muß mein Verfolger wohl für eine der un heimlichen Waffen gehalten haben, mit denen die Chinesen uns Fremde stets ausgerüstet glauben. Die Lanze blieb zurück. Daß ich nicht in die T'angtze-Hutung, sondern in eine Feirilletsn. Lj Die Malerin. Roman von I. Marsden Sutcliffe. Nachdruck verbct u. Ihr Manu wand sich diesmal noch um eine vollständige Er klärung herum. Zwar niußte er ihr gestehen, daß er keinerlei zu verlässige Einkünfte besäße, sondern sich Alles, wovon sie Beide lebten, in der Weise erwerbe, wie sie ja gesehen hätte. Er erging sich dabei aber fortwährend in Hinweisen, wie unendlich wichtig ihre Hilfe sei, um sein Heim den Gästen nur ja recht angenehm und behaglich zu machen, und gab ihr zu verstehen, sie sollte sich doch vou solchen Kleinigkeiten nicht schrecken lassen. Kleinigkeiten! Arme Winny! Sie war von dieser Entdeckung so erschüttert, daß jede Spur etwa erwachter Neigung zu ihrem Manne völlig schwand, da er sich, anstatt sie vor der geringsten Beleidigung zu schützen, der un auslöschlichen Gemeinheit und Niedrigkeit schuldig machte, sie zur Anziehungskraft für seine Spielhöhle zu entwürdigen. Welche andere Erklärung hätte es sonst wohl gegeben für den sich bald darauf ereignenden Vorfall. Lord Algy Herbert hatte sich, des Spielens müde, eines Abends zu ihr ans Clavier gesetzt und ihr licbegirrende Worte ins Ohr geflüstert. Sie erhob sich, tiesgekränkt, mit der Würde einer beleidigten Königin, und konnte sich doch nicht verhehlen, daß ihr Erröthen, ihr stürmisch sich bebender und senkender Busen und ihre Entrüstung dem ge dankenlosen Burschen womöglich als zu ihrer Rolle gehörig er scheinen möchten. Empört fragte sie ihren Mann, ob seine Gäste wüßten, daß sie seine Frau vor sich hätten. Er aber lachte und meinte, er habe es nicht für nöthig erachtet, die Herren über ihre intimen Beziehungen zu einander aufzuklären. Wahrlich, an diesem Abend drang der Stahl ihr bis ins Herz. Sie sah keine Hoffnung mehr im Leben vor sich, und keine Mög lichkeit, sich aus ihrem traurigen Loose zu befreien. Dann war die Geburt ihres Söhnchens gekommen. Mutter freuden und die damit an sie herantretenden neuen Aufgaben, sowie der Umstand, daß sie sich auS diesem Grunde dem Treiben in ihrem Hause hatte entziehen können, dieses Alles hatte sie etwas getröstet. Das Bewußtsein, jetzt einen Lebenszweck zu haben, hatte sie wenigstens zum Theil über ihren nächstliegenden Sorgen die so trostlose Zukunft vergeffen lassen. Drittes Capitel. Als sich Winfriede nach ihres Mannes Fortgang im Gasthof zimmer allein sah, schaffte sich die so lange zurllckgchaltene Er regung gewaltsam ihr Recht. Dem schrecklichen Ringen ihres! Kindes nach Luft, so sehr der Anblick der Qualen ihres Lieb- > lings ihr junges Mutterherz zerriß, hatte sie in dumpfer Ver- f zweiflung zugeschaut. Sein Verscheiden hatte sie stumm, ohne Schmerzenslaut, als eine Erlösung für den Kleinen dahin genommen. Selbst der Beerdigung ihres Söhnchens hatte sie trotz des herzbrechenden Schmerzes der Trennung einer Mutter von ihrem Erstgeborenen thränenleeren Auges beige wohnt. Jetzt, da jener unwiderrufliche Schritt gethan war, jetzt brach der scheinbar versiegte Thränenquell unaufhaltsam durch und brachte ihrem gequälten Herzen und ihren übermäßig an gestrengten Nerven Erleichterung. Aber nun tauchte der Zweifel in ihrer Seele auf, ob sie wohl recht gethan? Ob ein Weib sich je rechtfertigen könne, dies heiligste aller Bande gelöst zu haben? Und machte dieser Schritt denn Geschehenes ungeschehen? Blieb sie nicht nach wie vor Reginald's Weib? Konnte wirklich nur der Tod sie befreien? Nicht aber Schlimmeres noch, als dieser, konnte Verunehrung und Schande daran nicht doch etwas ändern? Da kam eS wie eine Erlösung über sie: Nimmermehr durfte sie zu dem Leben zurückkehren, welches ihr, wenn sie es jetzt, nach der ihr gewordenen Erkenntniß, noch weiter fortsehte, unauslösch liche Schande bringen müßte! Nein! Das schwor sie zu: Sie wollte, was es auch koste, fortab wahr und sich treu sein und bleiben! Sie fing an, daS Hinscheiden des Kleinen als ein ihr auf erlegtes Sühnopfer anzusehen, aber auch als Quell, aus dem sie die Energie zu schöpfen vermöchte, sich von den Schlacken zu befreien, die ihr durch die Ehe mit einem Unwürdigen an haften müßten, sich aus dem Morast wieder emporzuschwingen, in welchen sie von ihrem Gatten hcrabgezogen war. Und wer will sich erkühnen, zu sagen, daß sie mit diesen Gedanken völlig Unrecht hätte?! Sehr beruhigt genoß sie zum ersten Male seit langer Zeit eine wirklich ungestörte Nachtruhe, aus der sie sich frisch und ge stärkt erhob, wie sie das kaum noch für möglich gehalten hatte. Sie fühlte die Kraft in sich, den schweren Kamps ums Dasein ganz allein zu führen und jede ihr entgcgentretende Aufgabe zu lösen. Es war ihr zu Muthe, als ob ihr früheres Leben schon weit hinter ihr läge, und al» ob sie, das Bild ihres tobten Lieblings vor Augen, getrost in di, Zukunft schreiten dürfe. Die Er innerung an ihn, der so rein und unschuldig dahingegangen war, würde sie durch alle an die Menschen hcrantretenden, Niemand ersparten Versuchungen sicher hindurchtragen, so daß sie froh einer dereinstigen Wiedervereinigung mit ihm entgegensetzen dürfe, ohne je vor seinem Andenken erröthet sein zu müssen. Als sie beim Frühstück einen Blick in die Zeitungen warf, las sie, daß auf dem Sollent eine Segelyacht gekentert und gesunken sei. Der Eigenthümer und dessen jüngerer Bruder, beides Söhne des Barons Denison auf Albertshof in der Grafschaft Sufflok, wären dabei ertrunken. Bei der Nachricht vom Ver luste seiner beiden ältesten Söhne habe den Vater der Schlag gerührt; für sein Leben sei nach Ausspruch berühmter Aerzte keine Hoffnung mehr. Zum Schluß war erwähnt, daß in Folge dieses Unglücksfalles der frühere Rittmeister von den 10. Husaren, Reginald Denison, Erbe der großen Besitzungen und des immensen Vermögens sei. Der arme Baron! dachte Winfriede theilnahmsvoll, obgleich sie die Verwandten ihres Mannes nicht kennen gelernt hatte. Welch' furchtbares Schicksal! Und Reginald? Aller Wahr scheinlichkeit nach ist er schon in wenigen Stunden Sir Denison auf Albertshof. Und ich? — ich? — nun, ich bin Winfriede West! Viertes Capitel. Albertshof, das schöne, alte Schloß mit seinen altmodischen Giebeln und THUrmen ist eines der reinsten Gebilde der unter der Königin Elisabeth beliebten und nach ihr auch benannten Bauart, des Stils „Königin Elisabeth", ^chon durch Jahr hunderte ist es im Besitz der Familie Denison und thront in mitten eines weiten Parkes, welcher voll alter Riesen-Eichen und mächtiger Nußbäume steht und einen Wildreichthum birgt, wie er nur noch selten anzutreffen ist. Alle Denison's hatten sich seine Pflege angelegen sein lassen. Berühmt sind auch die fisch reichen Teiche, welche, wie man sagt, schon von den Mönchen der altten Abtei angelegt worden sein sollen. Heute steht der alte Herrensitz verdüstert da. Das Unglück ist unter seinem Dache eingezogen, und der Toss will sich ein drittes Opfer holen. Es ist zehn Tage her, seit jene Schreckens nachricht den alten Baron ereilte und ihn der Sprache und des Bewußtseins beraubte. Die von fern her herbeigerufenen Aerzte haben sich in Erkenntniß ihrer Ohnmacht bereits von der Familie verabschiedet und sind nach den Stätten ihres Berufes zurückgekehrt. Es handelt sich vielleicht nur noch um Stunden, höchstens noch um wenige Tage, dann muß die Auflösung er folgen. Die Baronin, eine würdig«, alt« Dame mit weißem Haar, wacht am Bette ihres Gemahls, ihre Tochter, die Gräfin Pole, ist in dieser schweren Zeit bei ihr. Und noch eine Frau ist im Krankenzimmer, die der Baronin jetzt fast näher steht, als die eigene Tochter. Es ist die Wittwe ihres ältesten Sohnes, eine kleine Blondine mit noch sehr jugendlichen Zügen. Traulich angeschmiegt, sitzt sie Hand in Hand mit der Schwiegermutter. Heimsuchung und schwere Sorgen haben sie einander näher gebracht, als Glück und Sonnenschein es vermocht. Die junge Frau hat eine Charakterstärke gezeigt, wie Niemand sie in der kleinen, zarten Person vermuthet hätte. Ihren eigenen Herzens tummer bewältigend, wacht sie mit wahrhaft rührender Sorgfalt zusammen mit der so tief gebeugten Schwiegermutter am Sterbebette deren geliebten und verehrten Mannes. Sie hat in dieser sich bethätigenden Liebe ein wirksames Heilmittel für ihren Schmerz um den eigenen Gatten gefunden. Und doch hatte sie vor nicht gar langer Zeit im bräutlichen Schmucke geprangt. Ihr Mann hatte sich in sie verliebt, als sie fast noch ein Kind war. Herangewachsen, wurde ihr ein reiches bräutliches und ehe liches Glück zu Theil, zu schön, um lange zu währen. Kaum war der Brautkranz ihr von der Stirn geglitten, da trug sie schon das Wittwenhäubchen, was zu dem jugendlichen Gesichte durch aus nicht passen wollte. Reginald dagegen fehlte immer noch. Seine Angehörigen haben nichts mehr von ihm gehört, seit er vor etwa vier Jahren das väterliche Scbloß verlassen hat. Lord Bruton, Denison's nächster Guts-Nachbar, hat Nach forschungen anstcllen lassen nach dem Verbleib des ungerathenen Sohnes. Die ihm gewordene Auskunft glaubt er am besten für sich vehalten zu sollen. Lord Pole ist ganz in der gleichen Lage. Aus der Gruppe der am Krankenbette weilenden Frauen wurde die Gräfin Pole durch einen Diener abgerufen. Lord Bruton war da, um nach seines langjährigen Freundes Be finden zu fragen. „Es geht leider zum Letzten, das Ende ist wohl nicht mehr fern", flüsterte die Gräfin. Nach herzlicher Entgegnung des Lords fragte sie: „Haben Sie noch immer keine Nachricht über Reginald? Er sollte als nächster Erbe doch wahrlich hier sein!" „Ist er das wirklich?" „Gewiß, obwohl sein Vater nichts mehr von ihm wissen wollte." Lord Bruton konnte dem alten Herrn darin nicht Unrecht geben. Schon die Hälfte von dem, was er Uber Reginald's Leben erfahren, genügte in seinen Augen, um Reginald's Verbannung aus dem väterlichen Hause zu rechtfertigen. Doch erwähnte er davon nichts, sondern sagte nur, Reginald besäße zwar eine
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