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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.09.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-21
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000921022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900092102
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900092102
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-09
- Tag 1900-09-21
-
Monat
1900-09
-
Jahr
1900
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Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/«7 Uhr, dir Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Ne-artion und Lrpedilion: JobanniSgasse 8. Dir Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Alfred Hahn vorm. O. Klemm'» Lortim. Uniyerntätsstrabe 3 (Paultnum,, Louis Lösche, Kulhoriuenstr. pun. out, König-Platz D lvez«s-'Prekß c der Hauptexprdition oder den km Ktudt» »ezirk und den Bororten errichteten AuS- vbrstellen abgeholt: vierteljährlich^4.50, eri zweimaliger täglicher Zustellung in- Haus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung iuS Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Äatlies und Nolizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Mnzeigen.Pre1S die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem RedactkonSstrich (4g«- spalten) 50^, vor den Familiranachrichve» (6 gespalten) 40-iK. 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Das würde einen Krieg in Süd-China bedeuten und deshalb glauben wir vorläufig noch nicht an die Richtigkeit der Meldung. Li-Hunq-Tschanq ist jetzt thatsächlich in Takn angelangt und gedenkt nun ge hörig ins Zeug zu gehen. Rack einem aus Washington uns übermittelten Telegramm besagt eine Meldung Admiral Remeys and Taku vom 19. September: Ich habe bei LüHnng-Tsckang amtlich einen Besuch gemacht. Er ist am 18. September auf einem Kausfabrcr eiugetroffen und wird unverzüglich nach Peking weiter reisen. Er dankt den Vereinigten Staaten für die Aufmerksamkeit, die ihm er wiesen wurde. Aokohamaer Meldungen zufolge übersandte am Sonntag Prinz Tsching nachfolgendes Telegramm, das Li-Hung-Tschang bei seiner Ankunft in Tientsin übergeben werden sollte: „Ich habe Ihr Telegramm erhalten. Sie werden von den Mächten beschützt werden. Infolgedessen begeben Sie sich nach Peking, sobald Sie in Tientsin angekommen sind!" Liukundji und Tsckangtschitung, welche ebenfalls von der chinesischen Negierung zu Fricdenöunterhändlern ernannt wurde», sind beide den Fremden freundlich gesinnt. In Peking wird Li erst sehr große Schwierigkeiten zu über winden haben, ehe er als Unterhändler anerkannt wird. Die Gesandten haben noch durchaus keine Vollmacht, mit ihm zu conferrren, und erst neuerdings lehnten die Vereinigte» Staate» das Ersuchen des Prinzen Tsching ab, dem Gesandten Eonger Instructionen zu ertheilen, daß er die Verhand lungen sofort eröffne. Auch von anderer Seite werden Versuche gemacht, die Vereinigten Staaten zur Initiative zu überreden. So wird uns aus Washington 20./9. berichtet: Der chinesische Gesandte Wu-ting-fang überreichte heute im Staatsdepartement ein Telegramm der Vicekönige der südlichen Provinzen, in dem die Regierung der Vereinigten Staaten ersucht wird, ihre Beamten in China anzuweisen, in Friedensver bandlungen cinzutreten. Indem der Gesandte sich dem Ersuchen anschließt, beabsichtigt er, die Vereinigten Staaten zu bestimmen, ihrerseits die Initiative zu Verhandlungen zu ergreifen, in der Hoffnung, daß die anderen Mächte dann das Gleiche thun werden. Um Stimmung für die Friedensverhandlungen zu machen, wird von der chinesischen Gesandtschaft in London verbreitet, dort sei eine Depesche „aus China" eiugetroffen, in welcher gemeldet werde, es sei ein kaiserliches Eviet erlassen, welches die Ausrottung der Boxer befehle. Wir gestatten uns, die Echtheit dieses Edicts so lange zu bezweifeln, als der Widerstand kaiserlicher Truppen gegen die Mächte sortdanert. Das Verhalten all der chinesischen Beamten, die jetzt ihr Herz ausschütten und dabei zu erkennen geben, daß die Chinesen den Ernst der Lage immer noch nicht erfaßt haben, ist im höchsten Grade zweideutig und jedes Vertrauens unwürdig. So hat z. B. jeder von ihnen, obwohl sie erwiesenermaßen täglich mit dem Hof in Verbindung stehen, eine andere Lesart über den Aufenthaltsort des Kaisers initzutheilen. Der Eine sagt, er weile in Taijuenfu, der Andere, er sei in Paoting, der Dritte nennt Kalgan, Prinz Tsching behauptet jetzt, der Hof sei 100 Kilometer nördlich von Peking, und Scheng erklärt, er sei am 9. September 200 Li von Taijenfu entfernt gewesen. Bc- merkenswerth ist auch, daß Scheng die freundliche Haltung Ruß lands sehr verdächtig erscheint. Sie habe, erklärte er, den Arg wohn der Chinesen wachgerufen, und auch cr glaube, daß Ruß land mit Deutschland unter einer Delle stelle und neue Gebiets erwerbungen plane. Alles das giebt einen Vorgeschmack davon, wie sich die sogenannten Friedcnsverhandlunge» mit den Leuten dieses Kalibers gestalten werden; man kann sich darauf gefaßt machen, daß sie allen politischen Klatsch, der in den europäischen Gemeinwesen Chinas üppig in die Halme schießt, aufgreifen und daß sie alle thatsächlichcn oder angeblichen Meinungsver schiedenheiten unter den Mächten sich zu ihrem Zweck und Vor- theil legen werden. Solche Meinungsverschiedenheiten dürften demnächst zuerst über die Behandlung der Kaiserin und ihrer Umgebung zu Tage treten. Rußlands RänmilnqSvo» schlag. DaS „Reuter'sche Bureau" erfährt, cs habe sich als nickt angängig hcrausgestellt, daß die Mächte den Vorscklag Ruß lands, man möge sich aus Peking zurückzieken, annähmen; denn nack zuverlässigen Nachrichten hätten die Boxer, falls Rußlands Vorscklag zur Ausführung gekommen wäre, geplant, wieder nach Peking und Umgegend vorzudringen, und die ganze Arbeit der Niederwerfung der Boxer hätte dann von Neuem in Angriff genommen werden müssen. * Rcm Äork, 20. September. Der Washingtoner Bericht erstatter des „New Parker Herald" bericht, t, Rußland willige ein, eine Trnppenabkheilung in Peking zu be- lajjen. (Wiederholt) Kriegerische Operationen sind, wie wir audcutetcn, noch fortgesetzt nöthiz. So wird berichtet: * Shanghai, 20. September. Tie Verbündeten nahmen die Pcitang- und Lutai-Forts mit großen Verlusten ein. Von einem anderen Correspondeuten wird die Einnahme nur gerüchtweise gemeldet. Die Forts von Peitang liegen an der Mündung des Tsckao-Ho, der sich 15 Kilometer nörd- lick von Taku in den Golf von Petschili ergießt. Die Forts von Lutai befinden sich 25 Kilometer weiter nördlich und be herrschen die Eisenbahn nach Shanghai Kwan. * Washington, 20. September. Nach einer heute eingegangenen telegraphischen Meldung des Generals Chaffee aus Peking ist eine Truppenabtheilung unter dem Befehle des amerikanischen Generals Wilson mit dem Auftrage abgcgangcn, die Boxer ans der Gegend- westlich von Peking zn verjagen, von der Peking mit Kohlen versorgt wird. * Yokohama, 20. September. („Nenter's Bnrean".) General Pamaguchi telegraphirt aus Peking unter dem 16. September: Tie Japaner griffen gestern bei Hc-lang-tang eine Abtheilung Boxer an, sprengten sie auseinander und tödteten etwa 20. * London, 20. September. Ein amtliches Telegramm, das über die am 10. September durch eine von Tientsin entsandte Streit macht vorgenommene Zerstörung von Tilius berichtet, theilt auch mit, die benachbarte große Stadt Tsching-Hai sei unter der Bedingung geschont worden, das; ein Missionar und vier Frauen und Kinder, welche in Hai-nan-hsien sich verborgen hielten, unver letzt nach Tientsin gebracht würden. Der Mandarin nahm diese Bedingung an. Tscheu g-fang, 30 Meilen von Tientsin, ist die letzte Boxerfesle in der Nähe Tientsins. Vttaf Waldrrsee. In Shanghai werden große Vorbereitungen für den Empfang des Grafen Waldersce getroffen, der an Bord des Kreuzers „Hertha" Henle dort einlrifft und eine Parade über alle fremdländischen Truppen abuehmen wird. Die Häuser werden festlich geschmückt. Graf Waldersee bleibt 24 Stunden in Shanghai und steigt bei dem deutschen Gesandten v. Mumm ab. Nach Besprechung mit diesem wird cr sofort nach dem eigentlichen Kriegsschauplätze abgehcn, wo die chinesischen Generäle — auch eine Bestätigung der „Friedens absichten" der Kaiserin-Regentin! — von Neuem Truppen ansammeln. Sonst wird noch berichtet: * London, 20. September. Die Versetzung des Gesandten Macdonald von Peking nach Tokio war bereits im April d. I. abgemacht. Macdonald hatte wegen der aufreibenden dienstlichen Thatigkeit in Peking darum gebeten; und dem Gesandten Satow in Tokio war bereits damals mitgetheilt worden, daß er, falls Macdonald bei feinem Wunsche beharre, Len Pekinger Posten über nehmen solle. Der Krieg in Südafrika. —r>. Nack Roberts' amtlichem Bericht auS Nelspruit vom 20. d. M. wäre bei Konmtipoort kein Widerstand der Boercn mehr zu erwarten, Botha's Armee habe sich aufgelöst, nur noch einzelne marodirende Banden feien übrig. Gleichzeitig aber kommt eine andere Meldung, die das gerade Gegenthcil besagt: Lonrcnvo Marques, 20. September. Tie B oere n stehen gegenwärtig auf den Hügeln, die sich in der Richtung auf Komatip oort erstrecken, mit zwei Kanonen und zehn Mitrail- leuseu in einer Stärke von 3000 Mann unter den Generalen Pi en ar und Götze. Die Engländer werden täglich erwartet. Man muß nun abwarten, ob es thatsächlich bei Komati- poort zn einem letzten entscheidenden Widerstande der Boercn kommt oder nicht. Wäre Komatipoort nur noch von einzelnen „marodirenden Banken" besetzt, so würde seine Einnahme durch die Engländer bereits gemeldet worden sein. Tas ist aber nickt ter Fall, nnd deshalb ist anzunehmen, daß Roberts' Meldung im Hinblick auf die englischen Wahlen etwas zn optimistisch gehalten ist. Nützen wird natürlich dieser letzte VerzweislungSkampf den Boeren nichts mehr. — Sonst wird noch berichtet: * Lanronvo Marques, 20. September. (Telegramm des Reuter'jchen Bureaus.) Das ganze Gefecht an der portugiesischen Grenze war, wie sich herausgestellt hat, nur ein Scharmützel zwischen Kaffer» und Boeren, welche Letzteren sich in einer starken Stellung 300 Zards von der Station Resjano Garcia befanden. Portugiesische Truppen patrouilliren in den Bergen und beobachten die Vorgänge scharf. Zur Abreise «rüqer'S. AuS dem Haag wird uns gemeldet: Wenn englische Blätter behaupten, das Anerbieten, Krüger ans einem hollän dischen Kriegsschiffe nach Europa zu bringen, schließe eine unfreundliche Handlung gegen England in sich, so ist dies gerade das Gegentheil des wahren Sachverhalt-. Die holländische Regierung würde das Anerbieten nicht gemackt haben, wenn sie nickt ganz genau wüßte, daß gerade diese Form der Abreise Krüger's den englischen Wünschen am meisten entspricht. Denn in diesem Falle müßte Krüger sofort nach Holland gehen, könnte also weder in Neapel, nock Marseille an Land kommen, so daß eine etwaige Agitationsreise durch Frankreich unmöglich würde. In Holland wünscht man auch, daß die Boeren auf weitere zwecklose Bemühungen bei den verschiedenen Regierungen ver zichten. Man glaubt hier, Krüger werde so lange in Lourenyo MarqueS verbleiben, bis auch Steijn und die übrigen Re gierungs-Mitglieder der beiden Boerenstaaten dort eintreffen und sie die Reise gemeinschaftlich an Bord deS holländischen Kreuzers antreten können. * Pcrim, 20. September. Der holländische Kreuzer „Gelder land" geht, nachdem er hier Kohlen eingenommen, nach der Dela- goa-Bai in See, um den Präsidenten Krüger nach Holland zu bringen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 21. September. Der alte Führer der Socialdemokratie, Liebknecht, ist zwar todt, aber sein Geist schwebt augenscheinlich über dem Parteitage, den die Socialdemokratie in Mainz ver anstaltet hat. Es gebt das namentlich hervor auS der Be handlung, welche die deutsche auswärtige Politik auf diesen; Parteitage erfährt. Von Liebknecht war man es ge wohnt, daß er Absurditäten in Bezug auf die äußere Politik zum Besten gab, und im Reichstage hat dieser Führer der Socialdemokratie mehr als einmal durch seine Excursionen aus dieses Gebiet das Lächeln anderer Fraktionen und wohl auch ein unheimliches Gefühl bei den eigenen Parteigenossen hervorgerufen; was aber der diesjährige Parteitag, bei welchem der Abgeordnete Singer die Rolle übernommen hat, die bisher Liebknecht gespielt, in der Beurtheilung der auswärtigen Politik Deutschlands ge leistet hat, läßt fast die Vermutbung zu, daß in Zukunft noch krassere Ungereimtheiten von Seilen der Socialdemokratie auf dem Felde der hohen Politik zu erwarten sind, als bisher zu verzeichnen waren. Der Parteitag hat sich nicht daraus beschränkt, die auch von anderer Seite beklagten „Neben geräusche" und „Begleiterscheinungen" der deutschen China politik zu rügen, sondern er hat in zwei langen, bereits mit- getbeilten Resolutionen diese ganze Politik als eine „Raub- und Eroberungspolitik" verdammt. Der Wortlaut dieser Resolutionen ist so ziemlich das Ungeheuerlichste, was in Verunglimpfung der deutschen Politik, die gerade wegen ihres Mähbalkens in der ganzen Welt Anerkennung findet, geleistet werden kann. Dem socialdemokratischen Partei tage war cs Vorbehalten, die notbwendige Expansion auf dem Weltmärkte, an ter Deutschland, falls es nickt wirthschaftlich und politisch seine Stellung einbüßen will, theilnehmen muß, Feuilleton Der neue Tag. Roman von Klara Zahn. Nachdruck vcrdotcn. Ein Wehelaut kam von Anny's Lippen, ihre stolze Haltung brach zusammen unter dec plötzlich auftauchenden Furcht, sie könnte den Geliebten für immer verloren geben muffen. Todes angst sprach aus ihren Augen, bebte durch ihrer Stimme Klang, als sie sprach: „So hoch steht er in Deiner Achtung, und dennoch zerschlugst Du mir mein Glück? — Vater, Vater, warum thatest Du mir das?" Ein Stöhnen rang sich aus des Mannes Brust. Er hätte sich vernichten mögen angesichts der grenzenlosen Qual seines Kindes, die er verschuldet hatte, — verschulden mußte. Zusammengesunken hockte er in seinem breitlehnigen Stuhle, scheinbar stumpf und theilnahmlos. Anny wandte ihr blasses Gesicht von ihm und verließ müden Schrittes das Zimmer. — Was nun? — Sie wollte denken, — denken auf Rettung — bis morgen. — In ihrem Zimmer harrten ihrer, auf dem Fenster tritt zusammengekauert, die Knaben. Angstvoll forschten ihre Augen in den verstörten Mienen der Schwester. „Anny", schluchzte Hans auf, „hat Dich der Vater auch ge schlagen?" Bei dem Wehruf des Kindes brach des Mädchens Fassung zusammen, sie schluchzte leidenschaftlich. Die Kinder um drängten sie zärtlich. Ernst suchte mit Liebkosungen zu trösten, HanS sprach kaum ein Wort, in seinem Gesicht aber war ein drohender, fast männlicher Ausdruck. Mühsam beruhigte sich Anny. „Ihr lieben, lieben Jungen, werdet Ihr es mir denn ver zeihen können, wenn ich von Euch gehen, Euch allein zurücklaffen muß?" flüsterte sie schmerzlich. „Wenn Du mußt, Anny!" sagte Hans stolz und fest. „Wir sind doch Jungen und werden Dich immer lieben!" Ernst wollte sich von der Opferwilligkeit des älteren Bruders nicht übertreffen lassen und meinte kindlich wichtig: „In zwei Jahren werden wir ja doch confirmirt, und dann sind wir er wachsen und dürfen Dich besuchen." „Mich besuchen! Wo werde ich sein in zwei Jahren?" „Kannst Du uns nicht sagen, was geschehen ist?" forschte Hans. „Wir sahen den lieben neuen Freund, der doch noch eben mit uns so fröhlich war, fortgchen, cr sah ganz böse aus, und dort drüben auf der Straße blieb er stehen und schaute sich immerfort unser Haus an. Dann sah er mich und da grüßte er mit der Hand, und ich konnte genau sehen, er hatte ganz trau rige Augen. Dann winkte er noch einmal, als wollte er Lebe wohl sagen, und ging schnell die Straße hinunter in das große Hotel am Markte." Anny hatte mit wachsender Spannung der Rede des Knaben gelauscht. Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte sie. Wenn cr davon ginge in seinem Zorn, ohne Abschied von ihr, ohne ihr die Möglichkeit einer Zukunftshoffnung zu lassen! — Nur das nicht! Das mußte sie verhindern. Wie, aber wie? — Da ge wahrte sie die fragend auf sie gehefteten Augen der Knaben. „Geht, Kinder, geht. Laßt mich jetzt allein. Es gilt für mich in dieser Stunde die wichtigste Entscheidung meines Lebens. Später will ich Euch Alles erklären, Ihr sollt an mir nicht irre werden. Jetzt geht, ich bitte Euch!" „Ja, liebe Schwester", sagten die Buben, und ein feierlicher Ernst lag auf den jungen Gesichtern, als sie sich schweigend entfernten. Was thun? stürmte es durch Anny's Gedanken, und doch handelte sie schon, wenn auch vorerst ganz mechanisch. Sie holte Hut und Handschuhe herbei, legte den weichen, Hellen Mantel um ihre Schultern und stand in wenigen Minuten zum Aus gang gerüstet. — Zu ihm! Durfte sie denn das? — Sie war so fest verwachsen mit den Ansichten ihres Standes, daß ihr selbst in dieser Gemiithswallung diese Frage durch den Sinn ging. Nur Secundcn lang. Dann hatte sie mit einer ener gischen Bewegung Les Hauptes symbolisch die Kette gesprengt, die sie fesselte. Es galt ja mehr als das Leben. Wer konnte sie hindern wollen, um ihr Heiligstes zu kämpfen? — Welches Sittengesetz besaß diese Macht gegen das sittliche Gesetz ihres Herzens? — Daß sie zu ihm ging, war entschieden. — Nicht heimlich, nicht versteckt wollte sic es thun, mit offener, freier Stirn, wie es ihrem großen Empfinden geziemte. Was aber würde sie ihm sagen? — Sie wußte ja selbst keine Erklärung für des Vaters Handlung! — Nur trennen durfte sie dieselbe nicht von Fred, in keinem Falle. Sie war bereit, all' ihr Hab und Gut, das Vaterhaus, die lieben Knaben, Alles, was sie bisher besaß, zum Opfer zu bringen für den Geliebten. Wer so Großes zu bieten hat, wie sie sich dessen in ihrer Liebe be wußt war, der durfte auch fordern, daß der Geliebte seinem Stolze ein Opfer der Liebe abringe. Getragen von diesen Ge danken, schritt sie ihrem Ziel entgegen. Sie war ganz ruhig geworden. Zwar wußte sie noch kein einzig Wort, daS sie Fred sagen wollte, aber sie wußte, was sie wollte, das war ja genug, es mußte ja zum Sieg der Liebe führen. Sie trat in das ihr bezeichnete Hotel und fragte nach Herrn Alfred Hehl aus Innsbruck. „Der Herr in Nr. 14", erklärte der herbeieilende Kellner. „Wünschen gnädiges Fräulein, daß der Herr in den Salon herunter komme?" fragte der Portier. „Nein, danke, ich werde selbst zu ihm gehen", sagte Anny. Das Blut schoß ihr heiß in die Wangen, als sie den selt samen, lächelnden Blick gewahrte, den der Kellner mit dem Portier austauschte. Sie sagte herrisch: „Weisen Sie mich zurecht, bitte." Mit übertriebener Unterwürfigkeit übernahm der Angestellte die Führung und zog sich vor der bezeichneten Zimmernummer discret zurück. Einen Augenblick blieb Anny stehen, den übermäßigen Schlag ihres Herzens zu beruhigen. Dann drückte sie, ohne anzu klopfen, auf die Klinke und trat in das Zimmer. Fred saß in brütender Stellung, die Hände in die Haare gewühlt, auf einem breitlehnigen Divan. — Sein Reisegepäck stand noch uneröffnet auf dem Teppich. — Das leise Geräusch ließ ihn aufblicken. — „Anny!" stieß er hervor. Doch ehe noch das Mädchen sich ihm genähert hatte, war eine seltsame Ver änderung mit dem Jüngling vor sich gegangen. So hatte Anny ihren Fred niemals gesehen. Nie hatte er eine so schroffe Un nahbarkeit in seinem Wesen gezeigt. Vergebens suchte Anny nach Worten. Dieser Situation war ihr weiches Fühlen nicht gewachsen. — Was auch geschehen war, sie hätte nimmer ge glaubt, daß die Liebe, die dieser Mann ihr so heiß und zärt lich entgegengebracht hatte, dadurch ausgelöscht werden könnte. — War dies der Fall, — war dies nur denkbar, dann, — was sollte sie dann hier? " Fred las jeden Gedanken aus ihren Mienen. „Es ist recht", begann er mit leisem, aber festem Tone, „daß Du in solcher Lebenslage, wie wir uns befinden, des gemeinen Vorurtheils nicht achtest und zu mir kommst, ehe wir uns für immer trennen. Es ist zwar keine Milderung unseres herben Schicksals, aber wir werden einst, wenn unsere Herzen über wunden haben, dieser ruhigen Abschiedsstunde gedenken." Sccunvenlang schien es Anny, als ob Alles um sie wanke; heiß und bitter stieg das Bewußtsein in ihr auf, daß sie, die Schuldlose, eine Verurtheilte war, noch ehe ihre Lippen ein Wort der Gegenwehr stammeln konnten. — Freilich war er der Beleidigte, der Tiefgereizte, — wo aber war seine Liebe? — Nichts, nichts weiter vermochte sie zu denken. Fred harrte ver gebens auf ein Wort von ihr. Sie war bald nach ihrem Ein tritt wie gebrochen auf ein kleines Sesselchen gesunken, Fred, der ein paar Mal das Zimmer durchmessen hatte, stand an den dunkeln Kachelofen gelehnt vor ihr. — Ihr hoffnungsloses Verstummen rührte ihn mehr, als tausend flehende Worte eL vermocht hätten. Furchtbar war der Kampf, den er im Innersten mit sich kämpfte. „Nicht schwach werden", das war Alles, was er zu denken vermochte. Zögernd begann er wieder: „Es wird eine schwere Zeit für Sie kommen, seien Sie stark und muthig, Anuy." Er wußte gar nicht, wie weh er dem Mädchen that mit seiner Ge lassenheit und mit der fremden Anrede, die er ganz unwillkür lich gebrauchte, er fuhr fort: „Versuchen Sie es, Ihrem Vater zu vergeben, was er an uns gethan hat. Es ist ja schwer, ich weiß es, aber unmöglich ist es nicht für ein Kind. Ich möchte, daß Sie ihm die Kindestreue bewahren und ihn nicht jetzt im Zorn verlassen. Die Zeit gleicht Vieles aus. Und Sie haben die Knaben, die so sehr an Ihnen hängen und Ihrer auch noch sehr bedürfen; das ist doch immer ein wüddigeS Menschenloos, für Andere leben zu können." Fred schwieg. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Jetzt kam es schwer und langsam von Anny's Lippen: „Und Du?" — „Ich habe meine Kunst. Ich werde arbeiten." Wie mit körperlichem Schmerz erfaßte Anny die Erkennt- niß, — das war das Wesentliche für diesen Mann, sein Lcbens- mittelpunct, um dessen willen alle seine Lebenskräfte kreisten seine Liebe ein holdes Ungefähr, das er im Vorwärts schreiten gefunden und ergriffen hatte, und das er nun zur Seite liegen ließ, ein Fremdes, von seinem Wesen Getrenntes. — Und sie — und sie? Sie hatte dem Augenblick ihrer Liebe entgegengelebt, so lange sie denken konnte, unbewußt war all' ihr junges Sinnen und Sehnen dem großen Geheimniß ent gegengestrebt, — und nun — vor ihr eine Welt ohne Liebe, die schaurige Oede, — das offene Grab. — Aber wenn man schon sterben muß, so braucht man doch nicht feige zu sterben. — Der Stolz war es, der ihr diesen Gedanken zuflüstrrte. Unter dem Eindruck dieser Empfindung erhob sie sich langsam. Sie wußte gar nicht, wie kalt und geistesabwesend ihre Worte klangen: „Lebe wohl, Fred. Werde ein großer und berühmter Meister, ich wünsche cs Dir." Sic schritt der Thür zu. „Anny", kam es gepreßt von des Mannes Lippen, „warte noch. — Du hast mir nichts von Dir gesagt, was wirst Du thun?" Verwundert schüttelte Anny den Kopf. „Ich? — Nichts" — sagte sic mechanisch. „Doch, — in Deinen Augen steht ein Entschluß, — Anny, ich möchte doch über Deine Zukunft ruhig sein können!"
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