Volltext Seite (XML)
Schreck« Skuude hinab zu bringen. Sie hatte eines der Mädchen um ein Glas Wasser gebeten, aber noch ehe sic es an die Lippen gesetzt, war sie umgesunken, und man hatte die Ohnmächttge zunächst auf ein Sofa gebettet. Sie war noch nicht aus ihrer tiefen Bewußtlosigkeit erwacht, als die Kunde kam, man habe den abgestürzten Stadtherrn gefunden, aber nicht ihn allein, sondern noch einen zweiten, und sie hatten sich so fest umklammert ge halten, daß es nur mit Mühe gelungen fei, sie vonein ander zu trennen. Auf Tragbahren brachte man beide in den Gasthof, wo sogleich mehrere Aerzte zur Stelle waren. Sie brauchten Ranten, der fast bis zur Unkenntlichkeit zer schmettert und entstellt war, nicht erst zu untersuchen, um festzustellen, daß er auf der Stelle todt gewesen sein müsse. An Rudolf Jmberg aber entdeckten sie zur größten Ueber- raschung noch schwache Lebenszeichen. Tie Hoffnungen auf die Erhaltung dieses Lebens freilich schienen bei der Art der Verletzungen, die man nun in sorgfältiger Unter suchung seststellte, äußerst gering. Ter einheimische Arzt und die beiden fremden Kollegen, die sich unter den Sommergästen befunden hatten, stimmten darin überein, daß der arme junge Mann es höchstens noch ein paar Stunden machen könne, und daß er vor seinem Ende wohl schwerlich noch einmal zur Besinnung kommen werde. Ta erschien plötzlich noch ein vierter Helfer in Ge stalt eines berühmten süddeutschen Chirurgen, der erst tags zuvor in der Sommerfrische cingetroffen war, weshalb die Kollegen von seiner Anwesenheit noch keine Kenntniß hatten. Er untersuchte den Verunglückten noch einmal, und die Erklärung, die er dann abgab, setzte die anderen einigermaßen in Erstaunen. Tenn während sie ziemlich einig gewesen waren, dem rettungslos verlorenen Patienten alle Manipulationen zu ersparen, die ihm nur überflüssige Qualen bereiten konnten, faßte der große Heiliünstler mit der ihm eigenen Energie seine Aufgabe sogleich von einem ganz anderen Standpunkte auf. „Co lange noch Athem m ihm ist, haben wir kein Recht, ihn verloren zu geben," erklärte er, und die Be rufsgenossen kamen aus der Bewunderung gar nicht heraus, als sie sahen, mit welcher Sicherheit er unver züglich die Behandlung in Angriff nahm Ein paar Mal allerdings schien das schwach glimmende Taseins- sünkchen unter seinen Händen ganz verlöschen zu wollen, und alle Hilfsmittel der ärztlick>en Wissenschaft mußten aufgeboten werden, um es immer von Neuem anzufachen. Aber nach Verlauf einer Stunde waren doch die ge brochenen Glieder nach allen Regeln der Kunst einge richtet, geschient und verbunden, und man hatte dem noch immer Bewußtlosen in einem ruhig gelegenen Zimmer des Erdgeschosses sein Lager bereitet. Der große Chirurg, der nur ein paar Tage hier hatte verweilen wollen, erklärte nun, daß er jedenfalls bleiben werde, so lange seine Anwesenheit dem Verun glückten von Nutzen sein könne. Wenn er sich damit auch ohne Zweifel um einen guten Lheil der gesuchten und er hofften Erholung brachte, so hatte sein hochsinniges Be nehmen dem Kranz seines Ruhmes doch abermals ein neues Blatt eingefügt und ihm die Verehrung der ganzen Touristengcsellschoft im Fluge gewonnen. Zwar meinten die anderen Aerzte achselzuckend: „Schade um die aufgewandte Mühe, denn er kann die Nacht doch nicht überstehen." Aber schon am nächsten Lage prvphezeiht« sie nichts mehr, denn Rudolf Jmberg hatte nicht nur die Nacht überstanden, sondern sein Herz arbeitete auch wieder viel kräftiger, und er hatte sogar fchpn vorübergehend das Bewußtsein wieder erlangt. „Es ist ein Wunder," jagten die Herren fetzt, und neidlos fügten sie hinzu: „Wenn diese Taseinsverlänger- ung wirklich als ein Gewinn für ihn anzufehen ist, so hat er sich einzig und allein bei dem Professor dafür zu bedanken." Auf Grund der Briefe, die man bei Rudolf vor gefunden, hatte man den Doktor Volkmar telegraphisch von dem Unfall in Kcnntniß gesetzt, der seinen Freund betroffen. Am Wend des zweiten Tages schon traf der Rechtsanwalt daraufhin in dem Gebirgsdorfe ein. Wer er kam nicht allein, sondern in Begleitung eines gram gebeugten alten Mannes, den er unter beständigem tröstenden Zuspruch nrit beiden Armen stützen mußte, als sie aus dem Wagen stiegen. Rudolf lag völlig theilnahnllos, als sie das Kranken zimmer betraten. Seine Augen waren wohl weit ge öffnet, aber er erkannte den Vater so wenig als den Freund, und sein Aussehen war noch immer ganz das eines Sterbenden. Weil der alte Pfandleiher in seinem grenzenlosen Kuurmer kaum eines anderen Gedankens fähig war als des einen, daß auch er nicht mehr leben tönne, wenn sein Sohn ihm genommen würde, mußte Volkmar statt seiner alle im Interesse des Patienten ge botenen Anordnungen treffen. Es war daher selbstver ständlich, daß er sich auch über die Ursache des Unfalls und über die Ereignisse, die ihm voraufgegangen waren, so genau als möglich zu unterrichten suchte. Daß Rudolf Jmberg das Opfer eines wohlvorbe- reitcten, schändlichen Verbrechens geworden war, erschien ihm auf Grund der in Erfahrung gebrachten Thatsachen bald als gewiß. Schon der Umstand, daß die beiden Verunglückten sich umschlungen gehalten wie Männer, di« um Tod und Leben miteinander ringen, hatte ja von vornherein dafür gesprochen. Außerdem aber war durch eine genaue Untersuchung unzweifelhaft festgestellt worden, daß die Lockerung des Schutzgeländers durch die Ent fernung einiger Nagel absichtlich herbeigeführt worden war. Wenn aber einer der beiden Wgestürzten diese Schurkerei begangen hatte, so konnte es nur Rauten ge wesen sein, und Volkmars weitere Nachforschungen brachten ihn schnell genug auf die richtige Spur. Freilich waren es vorerst nur Dermuthungen, die er über den Zusammenhang der Tinge und über den Her gang des schrecklichen Ereignisses anstellen konnte. Tenn der, den er für den Schuldigen hielt, war todt, und die beiden einzigen Personen, die außer ihm vielleicht hätten Auskunft darüber geben können, würde man vergebens gefragt haben. Lilli v. Ranten lag ja in Rudolfs bis heriger Wohnung ebenfalls schwer krank darnieder, und man fürchtete für ihr Leben kaum weniger als für das seine. Frau Therese Haller, die durch Volkmar benach richtigt worden war, befand sich nach einer von ihr ab- gcsandten Antwvrtdepesche bereits auf dem Wege nach Tirol, um ihrer von einem gefährlichen Gehirnfieber be fallenen Nichte beizustehcn. Und da verschiedene An gelegenheiten von höchster Wichtigkeit den Rechtsanwalt zu seinem schmerzlichen Bedauern nach Hause zurückriefen, hatte er beschlossen, nur noch ihre Ankunft abzuwarten, ehe er die Heimreise antrat. Welche Rolle auch immer der unglückselige Brillant schmetterling bei den Vorgängen gespielt Haber, mochte, die sich hier zugetragen — daß er einen entscheidenden Antheil an ihnen gehabt, konnte nicht zweifelhaft sein. Volkmar war fest entschlossen,, nicht unthätig zu warten, bis einer der Betheiligten im Stande sein würde, den Schleier des düsteren Geheimnisses zu lüften. Wer ohne eine voraufgegangene Besprechung mit Frau Haller konnte er nichts unternehmen, und um ihrer so rasch und so sicher als möglich habhaft zu werden, fuhr er ihr bis zur letzten Bahnstation entgegen. 198 Pünktlich lief der Zug der Gebirgsbahn ein, aber Volkmar glaubte seinen Wgen nicht trauen zu dürfen, als er, während er nach der imposanten Erscheinung der Erwarteten ausschaute, eine andere, wohlbekannte, feine Gestalt in der offenen Thür eines Wagens dritter Klasse stehen sah. „Fräulein Willisen," rief er, „Sie? Tas ist für- wahr eine gewaltige Ueberraschung. Die in aller Welt kommen Sie denn hierher?" Sie war ausgestiegen, aber sie wollte es nicht leiden, daß er ihr den kleinen Handkoffer abnahm. „Was mich herführt, Herr Doktor, wissen Sie recht gut," sagte sie hastig, ivährend es verrätherisch heiß in ihrem Gesicht aufflamnite. „Es war nicht recht von Ihnen, daß Sie mir nichts davon mittheilten, und daß ich es erst aus der Zeitung erfahren mußte. Aber es steht um ihn nicht so schlecht, wie die Zeitung schreibt — nicht wahr? Sie würden ja gewiß nicht von seiner Seite gegangen sein, wenn — wenn das schrecklichste zu be fürchten wäre." Er sah, wie sie in der angstvollen Erwartung seiner Antwort liebte, sah, wie die Erregung des Augenblicks sie zwang, das Gehcimniß ihres Herzens preiszugeben, und tiefe Bewunderung war es, die ihn dabei erfüllte. Sie hatte also Rudolfs Antrag zurückgewiesen, obwohl sie ihn liebte und obtvohl dieser Antrag für sie Alles be deutete, was ihr auf Erden begehrenswerth erscheinen tonnte. Wahrhaftig, dies Mädchen war eine Heldin, und Volkmar hatte einer Prinzessin aus königlichem Blute nicht achtungsvoller begegnen können, als er sie von diesem Augenblick an behandelte. Er beruhigte sie über Rudolfs Zustand so weit, als er es nrit gutem Gewissen thun konnte. Wer es war immerhin noch eine recht wenig hoffnungsvolle Auskunft, die er ihr geben durfte. Ter Professor hatte an diesem Morgen erklärt, daß sich die Aussichten, den Patienten am Leben zu erhalten, nrit jedem Tage besserten, daß er aber selbst im günstig sten Falle wahrscheinlich für den ganzen Rest seines Da seins ein Krüppel bleiben würde. Von dem, was bei diesen Mittheilungen in Marga rethens Seele vorging, vcrrieth sich kaum etwas in ihrem Gesicht. Sie weinte auch nicht, sondern sie bat den Tottor nur, ihr so schnell als möglich zu einem Wagen zu verhelfen, der sie an das Ziel ihrer traurigen Reise brächte. „Sie sind also wirklich nur seinetwegen gckoimnen?" fragte Volkmar. „Und es ist Ihre Absicht, bei ihm zu bleiben?" „Ja," erwiderte sie einfach, „so lange, bis er meiner nicht mehr bedarf oder bis — bis er mich sortschickt." „Und Ihre Mutter, Fräulein Willisen? Ist sie da mit einverstanden, und kann sie Sie entbehren?" „Sic braucht mich vorerst nicht, denn sie hat Auf nahme bei einem Verwandten gefunden, mit dem sie sich vor Kurzem nach langer Entfremdung versöhnte. Ich darf ihretwegen ganz ruhig sein." „So kommen Sie denn," sagte er, „und der Himmel gebe, daß mein armer Freund nocb einmal im Stande ist. Ihnen das großmüthige Opfer zu danken, das Sie ihm da bringen. Nur für wenige Augenblicke noch müssen Sie mich entschuldigen." Er hatte die Gestalt der Frau Haller wahrgenommen, die ganz in ihrer Nähe stand und halb erstaunte, halb entrüstete Blicke auf ihn und auf ihre ehemalige Gesell schafterin warf. Er trat zu ihr, um einige Worte mit ihr zu wechseln, die sich auf Lillis Befinden bezogen, und um ihr seinen Besuch für den Nachmittag in Aussicht zu stellen. Dann führte er Margarethe zu einem vor dem Bahnhof haltenden Wagen, und sie fu! rasch davon. Als Rudolf Jmberg zum ersten Mal die treue Pflegerin erkannte, die nun schon seit Tagen voll unem müdlicher Hingabe um ihn beschäftigt war, ging ei» sonniges Leuchten über sein bleiches, eingefallenes Antlitz. Aber er ließ doch noch Minuten verstreichen, «he er leise fragte: „Ist das kein Traum? Sind Sie es wirkliche Fräulein Margarethe?" „Ja, Herr Jmberg, ich bin eS," sagte sie befangen, indem sie unwillkürlich ein wenig von dem Lager zu» rücktrat, wobei die Farbe auf ihren Wangen kam und ging. „Sie zürnen mir nicht, daß ich auf di« Kunde von Ihrem Unfall ungerusen hierhergekommen bin, nicht wahr?'" „Ich sollte Ihnen darum zürnen?" Er machte eine» schwachen Versuch zu lächeln. „Nein, wahrlich nicht. Aber ich kann es noch gar nicht begreifen. Me hab« Sie es denn überhaupt möglich gemacht? Und was — was werden die Leute dazu sagen?" Schluß folgt. Der Schuldschein. .4 Bon Johanne- kewhard. Schliß. Am nächsten Tage zeigte sie keine Spur von Reue; im Gegentheil nahm sic eine beleidigte Miene an. Sie führte schweigend meine Befehle aus und schlug keine Veränderungen vor, und während ich sehr gereizt war, zeigte sie sich vollständig ruhig. Einige Male erlaubte fte sich sogar ein leichtes Achselzucken, und dieser Verstoß gegen die Tisziplin versetzte mich in die größte Wuth. Sie hatte scheinbar erreicht, was sie erreichen wollte, al- sie in meinen Dienst trat, und wünschte jetzt nur, daß ich sie verabschieden würde. Daraus tonnte aber nichts werden. Ich wollte- sie behalten und besonders gut zu ihr sein, wollte glühende Kvhlen auf ihrem Haupte sammeln »nd sie dadurch für den Verrath strafen, den sie zum Dank für alles Gute an mir beging. Am nächsten Tage behandelte ich sie durchaus freund lich. Zu meinem Erstaunen schien ihr dies aber durchau- nicht peinlich zu sein. Ihr altes Lächeln kehrte zurück, und es Neidete sie in der That vorzüglich. Sie kam mit einigen geschäftlichen Vorschlägen, ordnete meine Papiere und machte sich, kurz gesagt, in jeder Bezieh ung, wie sonst, nützlich. Ich schloß daraus, daß es mit ihrer Gewissenhaftigkeit nicht weit her sein mußte. „ES freut mich, daß es Ihnen wieder besser geht!" sagte sie am Wend. „Die beiden letzten Tage war« Sie nicht ganz wohl!" Ich blickte sie fest an. „Von Ihrer Theilnahme habe ich aber nichts gemerkt?" sagte ich. Sie lächelte und legte den Kopf etwa- auf die eine Seite. „Meine Theilnahme durfte ich ja auch nicht äußern! Dabei haben Sie mir doch leid gethan! Sie sind so gütig zu mir gewesen, daß . . ." „Güte muß man mit Güte vergelten!" sagte ich. Sie blickte mich ganz erstaunt an. „Wenn es etwa- giebt, womit ich meinen Tank beweisen kann.. ." fing sie an. „Sie beweisen Ihr« Dank dadurch^ daß Sie mir zeigen, daß ich mich auf Sie verlass« kann!" sagte ich und blickte sie scharf an, konnte aber keine Spur von Erregung an ihr wahrnehm«.