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L >5« — 38 — daß die Aermsle eine elternlose Waise war? und die bösen Zungen reden so viel lauter als die guten! Das „todte Haus" verlor plötzlich den so lange besessenen Nimbus des Unheim lichen und spielte nun dafür in der skandalösen Chronik der Stadt eine Rolle. Niemand war darüber entrüsteter als Frau Dreßler. Sie hatte sich einige Male an den Fenstern der neu einge richteten Borderzimmer gezeigt, war aber von den Leuten auf der Straße so neugierig angegafft worden, daß sie sich tief indignirt wieder in ihre alten Wohnungsräume auf der Hof seite zurückgezogen hatte. Der Name Angelika's durfte nie wieder vor ihr ausge sprochen werden. XVII. Seit dem Verschwinden der jugendlichen Tochter des Barons Paul von Bartenstein waren bereits mehrere Wochen vergangen. Der .Delphin" und mehrere andere Kriegsschiffe, die während des Frühjahrs in der Nähe des Hafens manöverirt hatten, sollten jetzt eine größere Fahrt antreten, um auf dem offenen Meere Sprengversuche mit Torpedos anzustellen und dann nach ferneren Küsten zu dampfen. Am Vorabend des Tages, an welchem die Flotte den Hafen verlassen sollte, saß Gerhard im Kabinet des Sanitäts raths. Er machte seinen Abschiedsbesuch. Das Gespräch zwischen dem Sanitätsrath und Gerhard drehte sich wie immer nur um die Verschwundene, Unvergessene. Tic beiden Herren wurden in ihrer Unterhaltung durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen. Derselbe meldete einen Besuch. .Wer ist cs?" fragte der Sanitätsrath, der nach der Uhr sah, welche einige Minuten vor Sieben zeigte. .Er hat seinen Namen nicht genannt," erwiderte der Diener, .cs ist ein Mann vom Lande, der Sie gern zu sprechen wünschte." .Entschuldigen Sie mich für einige Minuten," sagte der Arzt zu seinem Gaste. .Ein Arzt ist eben Tag und Stacht nicht Herr seiner Zeit. Der Rest des Abends gehört Ihnen dann aber ausschließlich." Gerhard, der an diesem Tage die Uniform trug, stand auf und verneigte sich. Ter Sanitälsrath ging hinaus, um im Nebenzimmer dem Hilfesuchenden seinen ärztlichen Rath zu ertheilen. Ter Marineoffizier setzte sich wieder hin und versank in jene liefe Schwcrmuth, der er sich jetzt stets überließ, wenn ihn nicht seine Beschäftigung an Bord während der Dienst stunden von seinem Kummer um die Verlorene abzog. Aus dieser Versunkenheit entriß ihn ein Schrei im Nebenzimmer. Er richtete sich auf und horchte unwillkürlich. Sollte der Sanitätsrath irgend eine Operation vollziehen? In demselben Augenblick wurde die Thür aufgerissen. Der Sanitätsrath, ein Mann von sonst gleichmäßiger Ruhe in Sprache und Bewegungen, jetzt aber augenscheinlich sehr erregt und todtenbleich im Gesicht, winkte ihm, in das Sieben zimmer zu kommen. Gerhard sah ihn überrascht an. .Verstehe ich recht," fragte er, sich der Thür nähernd, »ich soll " Ter Sanitätsrath ließ ihn nicht vollenden, sondern streckte ihm beide Hände entgegen, erfaßte Gerhards Arm und zog ihn hastig durch die Thür zu sich in seinen Empfangssalon, wo Gerhard sich einem graubürtigen Manne gegenüber fand, der einen dunkelblauen Friesanzug trug und einen wasser- dick'-u .inen sogenannten Südwester, in den Handel. Der Mann enthüllte ein Geheimniß, welches auch dem Kapitän einen Schrei erpreßte, aber einen Freudenschrei. 4- -r- Vier Stunden darauf lag zwar nächtliche Ruhe, aber nicht nächtliche Dunkelheit über der Stadt. Die Sternenbilder des Himmels waren heute nicht zu sehen, denn sie verschwanden vor der Pracht des Vollmonds, der mit seinem glänzenden Licht das Firmament in dieser Sommernacht ganz hell er scheinen ließ. Aber es war trotz aller Klarheit doch nicht die Helle des Tages, sondern jene magische, schleierhafte Be leuchtung, welche alle Gegenstände verklärt, jene Beleuchtung, welche Schwärmer und Liebende entzückt. Tie eine Hälfte des „Hauptwegs" lag im tiefen Schatten, während die gegenüberliegende Häuserreihe vom Mondlicht grell beleuchtet war. In der Mitte der Straße zeichneten sich die wunderbaren Giebel, unter ihnen die des „todten Hauses," wie pechschwarze Silhouetten auf dem im Mond schein weiß erscheinenden Steinpflaster scharf begrenzt ab. Im Treßler'schen Hause wachte Niemand mehr als Jordan. Er saß am Pult und rechnete. Tie Person, welche seinen Plänen im Wege gestanden, war beseitigt und doch mußte er sich nicht ganz sicher fühlen, denn er sah bald nach rechts, bald nach links, ja, er wandte sich sogar einmal zögernd und scheu nach rückwärts nm; ihm war mitunter, als ob Jemand neben — hinter ihm stände. Er rechnete weiter, aber mitten im Schreiben einer Zahlenreihe hielt er wieder an und sah seitwärts. Hockte da nicht eine Gestalt, ein formloses Etwas auf der Schwelle, die in sein Schlafzimmer führte? Nein, er hatte es sich nur eingebildet, aber daß er es sich einbilden konnte, war gräßlich. Ihn fröstelte, trotzdem es mitten im Sommer war und die Hitze des vergangenen Tages eine drückende Schwüle in seinem Zimmer hinterlassen hatte. Sprach da nicht Jemand? Er lauschte, nein, es war Altes still. Plötzlich seufzte er tief auf und die Feder entsank seinen Händen, er stützte den Kopf in die Hand. Es hatte doch Jemand gesprochen, — sein Gewissen. Er schüttelte den Kops, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, ergriff die Feder und begann abermals zu rechnen. Ta hörte er wirklich ein Geräusch. Es klopfte draußen, leise aber vernehmlich, an das Haus- thor, als wenn Jemand Einlaß begehrte. Jordan erbebte. Wenn es nur ordentlich stark und laut geklopft Hütte, so wäre anzunehmcn gewesen, daß ein vorbeigehender Trunkener oder übermüthige Burschen sich einen Scherz machcen, aber cs tönte so leise, so furchtsam, jo geisterhaft, daß Jordan selbst nicht wußte, ob er sich nicht wieder nur cinbildete, ciwas zu hören, was gar nicht existirte. Nein, cs war keine Täuschung, das Pochen erscholl lauter. Es war also wirklich Jemand draußen vor der Thür. Jordan ging an das Fenster, öffnete den Laden rin wenig und strengte sich an, hinauszujchauen. Aber er sah Niemand. Ter Klopfende mußte dicht an der Thür stehen, zu deren beiden Seiten die Mauerwand des Hauses etwas vorspraug, jo daß die Thür wie in einer Nische lag. Ta das Klopfen nicht aufhörte, ergriff Jordan den Schlüssel und ging murrend hinaus. Seine ursprüngliche Furcht hatte sich in Aergcr ver wandelt. „Wer ist da?" fragte er, bevor er-öffnete. Keine Antwort, aber das Klopfen wiederholte sich. Jetzt war Jordan überzeugt, daß sich Jemand eine Neckerei mit ihm erlaubte. Das sollte dem Traußcnstehenden schlecht be kommen. Mit einem derben Fluch zog er Riegel und Kette zurück, steckte den Schlüssel in das Loch und drehte ihn um. Ter Thorflügel öffnete sich. 39 Jordan sah eine kleine Gestalt vor sich; der tiefe Schatten, welcher sie umgab, ließ ihre Unirisse verschwommen erscheinen, und die grelle Beleuchtung der gegenüberliegenden Häuserreihe blendete außerdem Jordans Augen. Er konnte die Gesichts züge dieser rälhselhaften, zu nächtlicher Weile wie aus dem Boden getauchten Gestalt nicht gleich erkennen. Deshalb beugte er sich vor und faßte sie schärfer ins Auge, aber plötzlich zuckte er zurück, als ob ein Blitzstrahl vor ihm niederschlüge und den Boden zu seinen Füßen spaltete. Vor ihm stand Angelika. Gleichzeitig lösten sich auf der anderen Seite der Thür von der W : d des Hauses mehrere Personen ab, die der finstere Sch- ten mit der Mauer eins hatte erscheinen lassen. „Mörder!" hallte es in Jordans Ohr, er wurde von mehreren tri tigen Fäusten gepackt. Gerhard, der Sanitäts rath, mehrere Pvlizeibeamte umstanden ihn. „Gnade, Gnade!" stammelte er und sank halb bewustlos zusammen. Als er wieder zu sich kam, waren ihm die Hände auf den Ri cl ii gefesselt und er befand sich vollständig in der Gewalt der Polizei. Angell'i schmiegte sich an Gerhard; neben ihnen stand eine ältere Frau und jener Mann, der am Abend in die Wohnung tls Sanitätsraths gekommen war. Aus seinen Mittbeiluna-n hatten der Arzt und Gerhard vernommen, welch' ein Schicksal Angelika gedroht hatte und wie sie ge rettet wordcn war. Ter s emde Mann war ein Fischer aus einem Dorfe auf der Wü stn-Niederung beim Wall. In jener Mordnacht hatte er, in seinem Kahn sitzend, am Fuß des Walles Aal- icusen gelegi. Dicht vor ihm war Angelika in das Wasser gestürzt, ab- r die langen, aus Weidenruthen geflochtenen Reusen hatten ihren Fall abgeschwächt und den Körper des besinnungs losen Male! ns aufgefangen. Mit geringer Mühe hatte der erschrockene Fischer die Aermste in seinen Kahn gezogen, aber sie blieb von lieser Ohnmacht befangen. Er glaubte, daß ein versuchter Selbstmord vorläge, und ihm blieb nichts übrig, als die Besä nungslose mit nach Hause in sein Dorf zu nehmen. Auch dort i i:ter der Pflege des Fischers und seiner menschen freundlichen Frau kam sie nicht wieder zu sich, sondern fiel in Folge d. s gehabten Schreckes und des Sturzes in das Wasser in e n hitziges Nervenfieber und schwebte längere Zeit zwischen Leben und Tod. Tie braven Fischerslente hielten den Gcdanbn an einen Selbstmordversuch ihres Pfleglings fest und unterließen deshalb jede Nachfrage bei den Behörden der Stadt. Sie hatten aus den Kleidern und der ganzen Persönlichkeit der Kranken entnommen, daß sie vornehmer Leute Kind st in müsse, wenn sich auch kein Brief oder sonstiges Schriftstück bei ihr gefunden hatte, das ihren Namen vcrrathen konnte. Sie wollten dem jungen Mädchen sowie der Familie desselben den Schmerz und die Demüthigung ersparen, daß dieser vermeintliche Selbstmordversuch öffentlich bekannt würde, was bei einer Anzeige des Falles nicht verhindert werden tonnte. Sie warteten deshalb Angelika's Genesung ab und hofften, dieselbe dann ohne Aufsehen ihrer Familie wieder zu führen zu können. Wie aber erschraken sie, al« diese Genesung und mit derselben das Bewußtsein Angelika's wieder eintrat und sie nun vernahmen, welchem schändlichen Verbrechen das Mädchen beinahe znm Opfer gefallen wäre. Angelika kannte die Verhältnisse im „todten Hause" jetzt zn genau, um es nicht vorzuziehen, ihren Lebensretter zu dem ihr wohlgeneigten Lanitätsralh zu schicken. Sowie Letzterer und Gerhard die zugleich erschütternde und doch freudige Nachricht von Ange lika's Schicksalen erfahren hatten, waren sie nach heimlicher Anzeige des beabsichtigten Mordes nach dem Fischerdorfe hinübergesegelt und hatten Angelika von dort abgeholt Unter dem Väterlichen Schutze des Sanitätsrathes, unter liebender Sorge Gerhards war sie beim Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückgekehrt. Ihr Erscheinen vor dem „todten Hause" war in Folge reiflicher Ueberlegung geschehen. Das Entsetzen des Mörders bei ihrem Anblick war der Anfang seiner Strafe gewesen und unter der Wucht dieses Entsetzens hatte er nicht zu leugnen vermocht, sondern, indem er um Gnade flehte, sein Verbrechen im ersten Schreck eingestanden. Der durch alle diese Vorgänge entstandene Tumult und Lärm ließ die Dienerschaft des „todten Hauses" erwachen, und zuletzt wurde auch die Herrin desselben geweckt. Unbeschreiblich war die Ueberraschung der Frau Dreßler, als sie Alles erfuhr. Es entsetzte sie der Gedanke, daß ihr Haus so lange einen Mörder beherbergt habe. „Armes Kind," sagte sie zu Angelika, indem sie dieselbe in ihre Arme schloß, „das Bestreben meines künftigen Lebens soll sein, Dich Deine unerhörten Leiden vergeßen zu machen!" Den Rest der Nacht mußte Angelina in dem Schlafzimmer ihrer Großtante zubringen; dieselbe ließ das junge Mädchen nicht mehr aus ihrer Nähe. Gerhard kehrte an Bord des „Delphin" zurück, als er die Geliebte unter dem Schutze ihrer Großtante in Sicherheit wußte. Ein Zufall verzögerte das Auslaufen der Flotte um einige Tage und Gerhard konnte wieder ans Land zurückkehren. Der so lange und so schwer umwölkt gewesene Himmel der beiden jungen Liebenden hatte sich für sie nun glänzend aufgehellt. In Frau Dreßlers und des Sanitätsraths Gegen wart fand am nächsten Tage die Verlobung des glücklichen jungen Paares statt: das erste freudige Ereigniß im „todten Hause" nach so vielen Jahren voll Ungemach und Trauer. Schluß. Der Sommer war vergangen und die klaren Strahlen der Herbstsonne beleuchteten sehr veränderte Verhältnisse im Treßler'schen Hause, welche das Epitheton „todt" gewiß schon längst nicht niehr verdiente. Hinter den blank geputzten Fensterscheiben lachten freund liche und glücklich ausschauende Gesichter ans die Straße hinab, und die wuchtigen, eisenbeschlagenen Thorwcgflügel des alten Giebelhauses standen von früh bis spät weit offen. Frische Luft und Sonnenschein drangen in den breiten Hausflur und verbreiteten sich von da aus erwärmend und belebend durch alle Räume des HauseS. Gäste strömten unaufhörlich hinein, wie zu den Zeiten früheren Glanzes. Tie liebliche Braut Angelika von Barten stein war ein mächtiger Magnet, Gäste aus allen Ständen der alten Patrizierstadt anzuziehen, und Frau Dreßler, die ihre Trauer um die längst Dahingeschiedcnen in das Heilig- thum ihres Herzens zurückgedrängt hatte, verstand es, den Gästen ihr Haus lieb zu machen. In dem Parterrezimmcrn wohnte ihr neuer Geschäfts führer, der Niemand anders war, als ihr Neffe Paul von Bartenstein, der Vater Angelika's. Jener, der in Amerika vergebens eine Vortheilhafte Verwerthung seiner Malkunst ge sucht hatte und in weiter Ferne krank gelegen, war im Laufe des Sommers nach Europa zurückgekehrt. Bei Ankunft in der Residenz war sein erster Weg nach der Pensionsanstalt des Fräulein Sorau gewesen. Sobald er vernommen, daß seine Tochter nicht mehr dort weile, sondern von der Vor steherin zu Frau Dreßler geschickt worden sei, reiste er mit dem nächsten Zuge nach dem Wohnort seiner Tante. Er wurde von derselben mit aufrichtiger Herzlichkeit, von seinem