Volltext Seite (XML)
86 Wir waren beide Geschäftsleute! Ja, Mr. Barier war es auf alle Fälle! Mein Blick schweifte durch den Raum; derselbe bildete den schärfsten Kontrast zu dem vorderen Empfangs zimmer. Mr. Barker saß auf einem einfachen Rvhrstuhl, ich ans einem alten Sofa. Alle Möbel sahen alt und abgenutzt ans: der Schreibtisch, vor welchem er saß, war mit Briefen und Papieren überladen, an der Wand hing ein schlechter Oeldruck. Mr. Percy Barker war ein Mann, der über Millionen verfügte, er war ein Selsmade-Mann, hatte sich aus der niederen Sphäre emporgearbeitet, danach hätte er doch ein besonderes Gewicht auf Pomp und Luxus legen müssen. Aber hier auf seinem Kontor, in diesem Raum, in welchen er den größten Theil des Tages verbrachte, — hier war er einzig und allein Geschäftsmann. „Mr. Barker," ergriff ich das Wort, als er sich in den Stuhl zurücklehnte, als wartete er auf eine Antwort, „Mr. Barker, Sie sagten vorhin, daß Sie Geschäftsmann seien, folg lich ist Ihre Zeit kostbar," — abermals blickte er mich mit jenem scharfen, eigenthümlichen Blick an — „deswegen will ich keine weiteren Umschweife machen." Percy Barker fuhr mit der Hand über seinen langen grauen Bart, so daß die edelsteinbesetzten Ringe glänzten und funkelten. Er blickte grübelnd zu Boden, und ich fuhr fort: „Mein Chef hat mir Mittheilung von dem Briefe gemacht, den er von Ihnen erhalten, ebenso von Ihrem Besuche bei ihm. Ihre Zeit ist kostbar, Mr. Barker, ich wiederhole es nochmals; Sie müssen zweifelsohne dringende Gründe gehabt haben — diesmal erwiderte ich seinen Blick — „die Sie ver anlaßten, sich so viel Mübe zu machen. Sie haben meinem Chef gesagt, daß Sie Aufklärungen geben könnte», die doch wohl geeignet wären, Licht in diese dunkle Sache zu bringen. Sie wünschten mit mir zu sprechen, mit mir, dem diese Sache übertragen war. Ich versichere Sie, Mr. Barker, ich bin Ihnen dankbar für Ihr Entgegenkommen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Sie auf alle Fälle von mir gehört haben würden — uns Polizisten entgeht man nicht so leicht, wir sind eine ausdringliche Raffe — ja mehr hätte ich vorläufig wohl nicht hinzuzusügcn. Mr. Percy Barker senkte den Kopf noch tiefer zu Boden. Er nahm eine Feder vom Tische und schrieb gleichsam mecha nisch einige Worte aus ein Stück Papier, dann brach er end lich das erdrückende Schweigen. „Ich habe Sie ausreden lasten, Air. Moore, obwohl ich — es thut mir leid, es sagen zu müssen — gestehen muß, daß ich mich einer kleinen Uebertreibung schuldig gemacht habe. Am Dienstag — das war ja der verhängnisvolle Tag — arbeiteten Mr. Hood und ich mehr zusammen, als wir sonst zu thun pflegten. Wir standen wegen einer wichtigen Ange lrgcnheit in Unterhandlung und hatten den ganzen Vormittag viel miteinander berathen. Ter Abend kam. Es war zwischen uns verabredet worden, daß wir uns an einem bestimmten Platz und zu einer gewissen Zeit treffen wollten. Ich ver ließ das Kontor, nahm mein Mittagsesten ein und suchte die Zeit, so gut es ging, zu verbringen. Tie festgesetzte Stunde war da, aber mein Kompagnon kam noch immer nicht. Ich beruhigte mich, obwohl es mir sonderbar vorkam, daß er mich in einer so dringenden Angelegenheit im Stich lasten konnte, den» ich kann Sie versichern, Mr. Moore, es handelt sich nicht um eine Kleinigkeit: ganz bedeutende Summen standen auf dem Spiel. Mr. Hood hatte also etwas Anderes, Dringen deres, Wichtigeres vor, was keinen Ausschub duldete. Ich grübelte eine W^ile über die Sache nach, es war mir äußerst unangenehm, das Risiko allein zu übernehmen. „Aber dies alles hat für Sie, Mr. Moore, vielleicht kein Interesse. Kurz und gut, der Abend verstrich, die Nacht brach herein, und als der Morgen graute, erhielt ich die schreck liche Nachricht!" Ich erhob mich vom Cosa und schritt sinnend im Zim mer auf und nieder. ES war kein angenehmes Amt, mit Mr. Barker zu verhandeln. Er hatte mich so dringend sprechen wollen, und sein Eifer war ja auch leicht zu erklären. Sein Kompagnon war todt — ermordet! Er glaubte niehr zu wissen als die meisten, mehr als sonst Jemand; beabsichtigte er, Mr. Percy Barker, mich fühlen zu lassen, welchen Werth seine Beobachtungen hatten, um mir dann ganz allmählich die wichtigen Aufklärungen zu geben, v.m denen er dem Chef geschrieben hatte? Ich konnte mir eigentlich nicht vor stellen, daß Mr. Barker so kindisch sei. Oder war er auch jetzt Geschäftsmann? Zeigte er sich auch jetzt als vorsichtiger, verschwiegener Geschäftsmann? In diesem Falle würde ich wahrscheinlich, wenn ich Fragen stellte, Antworten erhalten; von selber würde er mir dagegen nichts sagen, würde er sich mir in unbestimmten Redensarten aus drücken. Er war sehr vorsichtig — man konnte ja so leicht in Unannehmlichkeiten gerathen. Benjamin Hood und Percy Barker waren freilich Asso- cü'is gewesen, das war aber auch alles. Hood war so glück lich in seiner Häuslichkeit und Barker war nur Geschäftsmann. Sie hatten zu wenig gemeinsame Interessen. Und außerdem war Mr. Barker Benjamin Hood Hurrsi aufgezwungen worden. Denn um die Zeit, als Benjamin den Entschluß faßte, vernünftig zu werden und zu arbeiten, war Dir. Percy Barkers Lage keine allzu sichere gewesen. Er befand sich gänzlich in der Hand des alten James Hood. Der Alte war, wenn er sich einmal eine Sache vorgenommen hatte, nicht davon abzubringen, aber er war durch und durch eine ehrliche Statur. So stand hinter Mr. Hood Mr. Bar ker — und zu Mr. Barker sollte der Sohn ins Geschäft. Seit Benjamin Hood in die Firma eingetreten war, konnte Mr. Barker natürlich nicht mehr so eigenmächtige Verfügungen treffen wie vor jener Zeit. Ich zog meine Uhr hervor. Eine volle Stunde war ver stossen, seit ich dies Zimmer betreten hatte. Mir war recht uiißmuthig und unbefriedigt zu Sinne. Ich befand mich gleich sam auf schwankendem Boden. Ich fragte mich selber: „Was soll dies bedeuten?" „Mr. Barker, gestatten Sie, daß ich einige Fragen an Sie richte? Es ist am besten und am einfachften so, Sie gewähren inir noch zehn Minuten und —" In diesem Augenblick ertönte abermals die einförmige, monotone Stimme, die ich vor einer Weile gehört hatte, als ich im Nebenzimmer saß und wartete. Unwillkürlich wandte ich mich um. Hinter einer matte» Glasthür war die Gestalt eines Mannes sichtbar. Jetzt ertönte ein schrilles Klingeln; dann verkündete er: „50 Eriebahn, 33." Es war Barker u. Hoods direkte Telegraphenverbindung mit der Börse. Ich wollte weiterreden, aber Mr. Barker schenkte neinen Worten keine Aufmerksamkeit mehr. Er war wie der Blitz vom Stuhl aufgesprungen. In fliegender Eile raffte. er eine Menge auf dem Tische liegende Papiere zusammen, stürzte durch das Vorzimmer hinein in den Saal, wo er mit feiner tiefen Stimme eine Reihe mir völlig unverständlicher Befehle ertheilte. Jetzt begriff ich alles. Es war ein kritischer Moment; eine Schlacht sollte gekämpft, ein gefährlicher, wilder Streit entschieden wer den; eine der Parteien mußte unterliegen, ohne Gnade, ohne Rettung — „50 Eriebahn, 33!" hier handelte es sich um eine Minute. — 87 Mr. Barker stand abermals vor mir. „Vir. Moore, ich muß sofort auf die Börse. Woodhull und Claflin haben einen bedeutenden Vorsprung gewonnen; es kommt jetzt darauf an, sich als gewandten Feldherrn zu zeigen. Sie. wünschen mir einige Fragen vorzulegen. Natür lich werde ich dieselben auf das genaueste beantworten. Kom men Sie morgen wieder, Mr. Moore, oder besser, kommen Sie morgen abend in meine Privatwohnung, dort sind wir ungestörter." Ich verneigte mich zustimmend. „Mr. Barker, ich leiste Ihrer freundlichen Einladung gern Folge. Aber bis morgen abend ist eine lange Zeit, bis dahin hoste ich viel ausgerichtet zu haben. Sie haben im Laufe des Tages keine Viertelstunde für mich, — vielleicht heute Nachmittag oder gegen Abend?" Er hatte einen Ueberrock angezogen und stand nun, den Hut in der Hand, da. Es war klar, daß er mich gern los sein wollte. Aber ich war fest entschlossen, die Sache sofort zum Abschlüsse zu bringen; Mr. Barker war nur ein Mensch, auch er mußte seinen wunden Punkt haben. „Sie hoffen bis morgen viel auszurichten? Ohne Zwei fel werden Sie das thun, ohne Zweifel! Heute nachmittag — nein — ganz unmöglich. Gegen Abend lassen Sir mich einmal nachdenken — ja, gegen 9 Uhr könnte es möglich sein. Wenn Sie um diese Zeit hierher kommen wollten —" „Stein, Mr. Barker, vielleicht würden Sie sich dann zu mir hinauf bemühen," und ich nannte ihm meine Adresse. Es war ein ganz plötzlicher Einfall! Mr. Barker hatte meinen Stolz verletzt, mich gedemüthigt. Als ich vor einer Stunde in das Zimmer trat, war ich so sicher, so selbstbewußt gewesen, — und jetzt — Percy Barker besaß eine eigeuthüm- liche Macht, seinen Mitmenschen ihre Schwäche, ihre Unvoll kommenheit fühlen zu lassen. Jetzt standen wir an der Thür, — wir beiden Geschäfts leute. Er zog langsam den Handschuh über die linke Hand, als zögere er, meine Einladung anzunehmen. Und dann kam die Antwort. „Nun wohl heute abend gegen 9 Uhr!" Er streckte seine Hand aus, und ich drückte dieselbe. Sie war weich, aber sehnig, und als er die Finger schloß, bemerkte ich, daß der eine steif und unbiegsam war. Man erzählte sich eine Geschichte von diesem steifen Finger des Millionärs, eine Geschichte, deren ich mich in diesem Augen blicke nur dunkel erinnerte. Ich war allein, abermals überschritt mein Fuß die weichen Teppiche, mit denen die Marmortreppen belegt waren. Abermals hatte ich viel zu bedenken. Wohl hatte Percy Barker recht, wenn er sagte, das er Geschäftsmann sei — und welch' merkwüdiges Aeußere er doch hatte: das glänzend schwarze Haar stach so eigenthümlich ab gegen den grauen Bart, und dann diese kleine, untersetzte Gestalt, der trotzige Kopf und diese scharfen Augen! So verlief meine erste Begegnung mit Percy Barker, Benjamin Hoods Kompagnon. Ich sehnte mich nach dem Abend. Es war mir fast unmöglich, das geringste vorzunehmen, bis es Abend geworden war, bis sich die tiefe Finsternis über Straßen und Gassen gelagert hatte. Und das ist ganz natürlich, denn die Finsternis ist der beste Gehilfe des Dedektivs. Am Tage ist er ein gewöhnlicher Mensch — freilich ein Mensch, der doppelt so viel sieht und hört als andere — aber er ist immerhin nur ein Mensch. Dann senkte sich die Nacht herab, und wenn alles schwarz und undurchdringlich geworden ist, wenn die übrige Menschheit längst in erquickendem Schlummer ruht, dann kennt der Dedektiv keine Müdigkeit, keine Schwäche. Er ist nicht länger ein Mensch, er ist ein Mechanismus, den eine innere unwiderstehliche Macht treibt. Percy Barkers Besuch kam mir nicht so ganz gelegen, wenn ich mir die Sache recht überlegte. Die Zeit war beängstigend kurz. Das Gelübte, das ich gethan, war gleich bedeutend mit meiner Ehre, ich mußte zeigen, was ich konnte, ich mußte meine Stellung behaupten. Würde ich das Ver trauen meines Chefs täuschen? Ach nein! Mein Besuch bei Mr. Barker hatte mich erregt — weswegen? Ich wußte es selber nicht! Und mein Plan war ja gemacht — ein so einfacher, sicherer Plan, daß er sein Ziel gar nicht verfehlen konnte. Nur noch wenige Stunden, höchstens einen Tag und eine Nacht, und John Moore wird den verdienten Lohn für seine Mühe genießen! Ich sitze vor meinem Schreibtische. Das reine, weiße Papier ist bald mit Quadraten, Triangeln und anderen mathematischen Figuren bedeckt, und die Gedanken arbeiten sich zu größerer Klarheit durch. Ja, die Sache läßt sich von zwei Seiten betrachten: eine verwickelte, unfaßliche, unmögliche — die Borderfeite der Me daille! Und eine so einfache, sonnenklare, leichtfaßliche — die Kehrseite der Medaille. Mit einem Wort: was wußte ich und wa- wußte ich nicht? Ich wußte, daß Archibald Forster mit seiner früheren Gattin zusammengetroffen war. Ohne Zweifel ein verdäch tiger Umstand, aber in den Augen das Gesetzes kein Beweis. Am Wawerley-Place hatte die Zusammenkunft stattgefunden. Ich selbst war Zeuge derselben gewesen. Am Wawerlei- Place waren sie schon einmal zusammengetroffen — an dem selben Abend, an dem der Mord begangen worden. Auf meine unschuldige Frage: „Fuhren Sie direkt nach Hause?" hatte Anny nach einigem Zögern und erröthend ge antwortet, daß sie einen Auge^kick am Wawerley-Place Halt gemacht, um ihre Freundin Mrs. Montgomery zu begrüßen. Darin lag an und für sich nichts Gefährliches; aber wenn man lügen will, sollte man sich die Sache vorher wenigstens genau überlegen. Ain Wawerley-Place wohnt keine Dame Namens Mrs. Montgomery. Dies war ein verdächtiger Umstand, der sogar aus der Grenze zu einem Beweise stand. Am selben Abend, als der Mord begangen war, nur wenige Stunden vor demselben, waren die beiden zusammengetroffen, die geschiedene Frau mit ihrem früheren Manne. Tas war eine sehr bedenlliche Sache! Und wenn dieser Umstand erörtert wurde, mnßte mehr als einer der ehrwürdigen Geschworenen bedenllich den Kops schütteln und seinem Nachbar ein geheimnisvolles Wort zuflüstern. Das war nun alles sehr gut und schön; als ich aber die Sache heute im nüchternen Tageslicht betrachtete, wollte sie mir gar nicht in derselbe» Beleuchtung erscheinen, wie am vorhergehenden Abend. Dieser Percy Barker! WaS in aller Welt hatte der mit der Sache zu thun? In dieser Stunde haßte ich ihn: seine beißende Ironie, seine kalten, ironischen Worte, seine Verschlossenheit. Aber der Beweis, der handgreifliche Beweis, wo war der zu finden? Es war eine verzwickte Geschichte, daß der Neger ermor det worden war. Der einzige Mitschuldige den der Verbre cher gehabt hatte, war für alle Zeiten vom Schauplatze ver schwunden. Vielleicht hatte er seine wohlverdiente Strafe