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Riesaer G Tageblatt 47. Jahr, Donnerstag, 8. Februar 1894, Abends Dinge als sicher angesehen werden. Allerdings ist wahr scheinlich, daß die Majorität für den Vertrag eine noch er heblich geringere sein wird, als bei den „kleinen" Handels verträgen. Die Mehrheit des ausschlaggebenden Centrums wird jedoch — das kann als durchaus zweifellos angesehen werden — ihr Votum zu Gunsten des Vertrages in die Waagschale werfen. Hierfür kommt nach der in Centrums kreisen herrschenden Stimmung ersichtlich auch die Erwägung in Betracht, daß eine Ablehnung des Vertrages den Rücktritt des Reichskanzlers oder die Auflösung des Reichstages zur Folge haben würde, was die Politiker des Centrums unter allen Umständen vermeiden wollen. Bei dem linken Flügel der klerikalen Partei spielt auch die Sorge, daß Fürst Bis- ma ck auf den Gang unserer Politik Einfluß gewinnen könnte, eine gewisse Rolle und jedenfalls eine größere Rolle, als dies äußerlich scheint. Die conservative und wahrscheinlich auch die Mehrheit der Reichs. Partei werden aus bekannten Gründen in ihrem Widerstande auch gegen den deutsch, russischen Handelsvertrag beharren. Angesichts des zwar langsamen, aber doch fühlbarer werdenden Rückganges der deutschen Landwirthschaft besteht auf dieser Seite keine Nei gung, die Verantwortung für eine weitere Verschärfung dieser Lage zu übernehmen." Reklamationen veranlassen würden. Abg. Gräfe (Resormp.) befürwortete den Antrag im Interesse des Mittelstandes, desgleichen Abg. Hilbert (bayr. Bauernbund); in seinem Wahlkreise häticn gerade die Liberalen Wahlbeeinflussungen geübt. Abg. Träger (freis. VolkSp.) meinte, die Wahlbe- cinflussung durch Machtmittel müßte beseitigt werden. Abg. Möller (natlib.) sah mit einemTheil der Nationalliberalen in den Anträgen einen guten Kern und beantragte die Kommissionsberalhung. Er habe den Freunden in seinem Wahlkreise stets abgerathen, Arbeiter illoyal zu beeinflussen. Abg. Auer (Soz.) sah in der Behauptung, daß die Sozial demokraten Wahlbeeinflusser seien, einen alten Witz, den 'Niemand glaube. (? D. R.) Hätten die Sozialdemokraten nicht eine so gute Disziplin, so würde man noch mehr Schindluder mit ihnen spielen. (Präsident v. Levetzow rügte . -diesen Ausdruck, den Redner zurücknahm.) Die Sozialdemo kraten üben keinen Terrorismus, (? D. R.) wohl aber dis Partei, in deren Namen der Abg. von Plötz den Leuten die Pistole auf die Brust setze und die Abgeordneten auffordere, ihre Mandate niederzulegen. In Hessen habe ein Bürger, meister die Stimmzettel ausgemessen, so die Sozialdemo, traten erkannt und diese dann aus dem Kriegeroereine aus. geschlossen. (Hört! hört! liiks.) Die in der Petition an die sächsischen Kammer aufgestellten Behauptungen über die Roh heit der wählenden Arbeiter seien Verleumdungen. Abg Dr. Barth (freis. Vgg.) sagte, die Bedenken der National- liberalen könnten in zweiter Lesung durch Unteranträge be seitigt werden. Abg. Ulrich (Soz.) schilderte die Wahlb^ beeinflussungen in Hessen. Mit den Schlußworten der Abgg. Gröber und Rickert schloß die erste Lesung. Nach Ab lehnung eines Vertagungsantrages wurden die 88 6, 10 und 11 in zweiter Lesung debattelos angenommen. Oesterreich. In Rakowitz in Böhmen, wo bekannt, lich vor Kurzem ein Dynamitverbrcchen von bisher noch nicht mit Sicherheit festgestellten Thätern verübt worden ist, sprang in der Nähe der dortigen Realschule abermals «ine Dyna- mitpatrone. Die Explosion war so stark, daß 60 Pfnnd schwere Steine in die Luft geschleudert wurden. Zahlreiche Fensterscheiben wurden zertrümmert. Unter den Einwohnern in Rakowitz herrscht naturgemäß große Erregung, da man weitere Attentate befürchtet. Man vermuthet, daß dieses Verbrechen in der Absicht begangen wurde, um den Verdacht von jenen Personen abzulenken, die wegen des ersten Atten tats verhaftet sind. : > - Italien. Tine sehr bemerkenSwerthe Meldung bringt die ultramontane „K. Volksztg." aus Rom. Sie erfährt aus absolut zuverlässiger Quelle, Mitte vorigen Jahres habe der päpstliche Nuntius in Wien zahlreiche Beschwerden russischer Katholiken gesammelt, die als Grundlage für eine scharfe Enzyklika des Papstes gegen Rußland dienen sollten. Leo XIII. habe indessen, und zwar auf Betreiben des franzö sischen Botschafters beim Vatikan, seinen Plan, eine derar tige Enzyklika zu erlassen, wieder aufgegeben. Rußland. Englische Blätter haben in der vergan genen Woche wieder einmal die Nachricht von einem geheimen Abkommen zwischen Rußland und China bezüglich des Pa- mirgebietes verbreitet. Die Meldung, die sich in den letzten zehn Jahren mehrfach wiederholt hat, wurde diesmal gleich als.falsch gekennzeichnet. Es hat fast den Anschein, als wollten die englischen Zeitungen ihre Regierung durch die Verbreitung solcher Meldungen anspornen, dem Vordringen Rußlands auf dem umstrittenen Gebiete gegenüber auf der Hut zu sein. Dazu dürfte England freilich allen Grund haben; denn die Russen rasten nicht und wissen in gleicher Weise mit den immer zum Aufruhr geneigten Völkerschaften wie mit dem Emir umzugehen. Sie bringen einen der beiden Theile in die Patsche und springen dann als rettende Engel ein, dabei überall auf ihren eigenen Bortheil bedacht. Mir den Eingeborenen werden sie viel bester fertig, als die Eng länder. Diese läßt, wenn sie einen Strich Land eroberr haben, ihr Krämergeist nicht ruhen: sie schlagen heraus, was nur herauszuschlagen ist und das Alles so schnell als möglich Der Russe hingegen spielt den Großmüthigen; er geht »st. ein großer Waarenschrank, 1 Nähmaschine für Schuhmacher und 1 Schreibpult zur Versteigerung, alle übrigen in der Bekanntmachung vom 3. d. M. aufgeführten Sachen fallen weg. Riesa, am 8. Februar 1894. Der Gerichtsvollzieher des Königlichen Amtsgerichts. Secretär Eidam. Bekanntmachung. Im Saale des Hotel zum Kronprinz hier kommen Sonnabend, den 10. dieses Monats, Vormittags 9 Uhr Das Riesaer Tageblatt erscheint jeden Ta- Abend« mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. Vierteljährlicher Bezn-Sprri» bei Abholung in dm Expeditionen in Mesa und Strehlas, dm Ausgabestellen, sowie am Schalter der kaiserl. Postanstaltm 1 Mart 26 Pf., durch die Träger frei inS HauS 1 Mark 60 Pf., durch dm Briefträger stet inS HauS 1 Mark 65 Pf. Aazrtgen-Annahme für die Nummer j - des Ausgabetage» bis Vormittag S Uhr ohne Gewähr. Druck und Verlag von Langer L Winterlich in Riesa. — Geschäftsstelle: Kastantenstraße 59. — Für die Redactton verantwortlich: Herm. Schmidt in Riesa. Amlsötalt der König!. Amtshauptmannschaft Großenhain, des Königl. Amtsgerichts und des Stadtraths zu Riesa. Der Sentsch-rnffische Handels vertrag bildet jetzt den Hauptgegenstand der Erörterung in der Presse. Obwohl der gesummte Inhalt des Vertrags noch nicht vor- licgt und sich namentlich nicht erkennnen läßt, welche Zuge ständnisse deutscherseits gemacht sind und was sonst noch neben den Sätzen des Tarifs, insbesondere über die Handhabung des Tarifs durch die russischen^Zollbchörden vereinbart ist, äußert sich doch schon die links stehende Presse ganz entzückt über den Vertrag. Das „B. Taget!." versteigt sich in seinem orientalischen Ueberschwang sogar zu dem Satze: „Es müßten sonderbare Patrioten sein, die angesichts eines solchen Erfolges den Muth besäßen, im Reichstage für die Ablehnung eines derartigen Vertrages einzutreten " Neben der Aufzählung der Vortheile, die der deutschen Industrie erwachsen sollen, wird aber mit fast noch größerem Nachdruck der politischen Bedeutung des Vertrages gedacht, dessen Um- werfung möglicherweise selbst den Krieg zur Folge haben werde. Die „Nat.-Ztg." ruft in diesem Sinne pathetisch aus: „Mindestens ebenso groß, wie die wirthschaftliche, ist die politische Bedeutung des Vertrages: Zum ersten Male ist es, und zwar, wie authentisch bekannt wird, durch den persönlichen Entschluß des Zarc.«, möglich geworden, einen -Handelsvertrag zwischen Deutschland und Rußland abzu. schließen, somit den Anlaß zu gegenseitiger Erbitterung, den einseitige Zollerhöhungen so ost geliefert, für ein Jahrzehnt auszuschließcn. Wer wollte leugnen, daß dies in der heutigen Lage Europas bedeutungsvoll ist? Und da will man — die Einen aus frevelhafter parteipolitischer Berechnung, die Anderen ans Zwang gegenüber irregeleiteten Wählern — diesen Vertrag verwerfen? Es kann keinem Zweifel unter liegen, daß die Antwort auf einen derartigen, für die wirth- schaftlichen, wie für die politischen Interessen Deutschlands -gefährlichen Beschluß des Reichstages die sofortige Auflösung desselben und die Einsetzung der gesammten berechtigten Auto rität der Regierung gegen jeden Abgeordneten sein müßte, welcher gegen den Vertrag gestimmt hätte.' Auch der „Vor- ttvärts" freut sich des Vertrages, weil er hofft, daß nun die Junker entweder „über den Stock oder über die Klinge" 'springen müssen. Im Uebrigen erklärt er es für „zum mindesten vorschnell", über die Größe der von Rußland ge machten Zugeständnisse zu urtheilen. „Die Ermäßigungen des russischen ZolltarifeS erscheinen nicht unbedeutend, man 'darf aber dabei nicht vergessen, daß der russische Zolltarif von 1891 schon ein Kampszolltarif war, der festgesetzt wurde, mm in den Dertragsverhandlungen mit den auswärtigen Staaten scheinbar große Zugeständnisse wachen zu können." Aus parlamentarischen Kreisen schreibt man der T. R.: -Hier bildet der jetzt veröffentlichte russische Zolltarif natur gemäß den Hauptgegenstand des Gespräches, zumal cs immer augenscheinlicher wird, daß das Schicksal des russischen -Handelsvertrages auch das Schicksal des jetzigen Reichstages bestimmen wird. Die Regierung macht kein Hehl daraus, -daß sie der Annahme oder Ablehnung des Vertrages einen über die Handelsinteressen hinausgehenden politischen Werth zuspricht. Darin unterscheidet sich der neue Curs vom alten: Fürst Bismarck hat von einer derartigen Verquickung nichts wissen wollen. Die Stimmenberechnungen, die jetzt mit allem Eifer angestellt werden, sind vorerst noch sehr trügerisch, -da die sogenannten imperativen Mandate bei diesem Vertrage 'ihre Probe zu bestehen haben und ein Herumdrücken aus geschlossen erscheint. Daß der Bund der Landwirthe einlenken werde, glaubt man nach den Vorgängen der letzten Tage -nicht. Dann ist aber auf ein Durchgehen des Vertrages kaum zu rechnen. Man ist insgemein der Ansicht, daß sich schon vor Beginn der Verhandlungen im Reichstage ein ab geschlossenes Btld der Abstimmung ergeben wird. Die Re gierung wird voraussichtlich mit schwerem Geschütz Vorfahren', aber ein Umschwung dürfte durch die Debatten kaum herbei- gesührt werden. — Anders beurtheilt eine parlamentarische Stimme in der „Schles. Ztg." die Lage: „Die Annahme Le- deutsch-russischen Handelsvertrages darf nach Lage der ««d Anzeiger Wetl-ll md AytigN). FEsprechftell« Nr. SO Ta-es-eschichte. Deutsche- Reich. Die „Nationalliberale Corres- pondenz" will wissen, im Reichsschatzamte werde eine Abän derung der Weinsteuervorlage dahin ausgearbeitet, daß nur Flaschenweine von gewissem Preise an unter Freilassung der geringeren Produkte und daneben Kunst- und Schaumweine besteuert werden sollen. Der Kaiser und die Kaiserin zeichneten auf dem Fast nachtsballe den Reichskanzler Grafen Caprivi und den ita lienischen Botschafter Grafen Lanza durch längere Ansprachen aus. Unter dem Vorsitz des Herzogs von Coburg fand gestern auf Schloß Friedenstein eine Sitzung des Gesammtministe- riums statt. Wie verlautet, ist die endgültige Regelung der Beziehungen des Herzog» zu England Gegenstand der Erör terung gewesen. Entgegen der Hamburger Polizeibehörde gestattete die Altonaer Polizeibehörde Montag die Abhaltung einer Anar- chistenver.ämmlung. Achthundert Thrilnrhmer hatten sich zu derselben eingefunden, und zwar gegen eine Eintrittsgebühr von zehn Pfennigen für die Person. In der Versammlung ist es zu großen Ausschreitungen gekommen, weil die Anar chisten nicht, wie die Mehrzahl der Besucher es wollte, den Ueberschuß für die Arbeitslosen, sondern für sich verwenden wollten. Ter Einberufer der Versammlung ist in dem Tu multe mit der Kasse durchgegangen. Vom Reichstag. Der Reichstag berieth gestern in erster Lesung die gleichlautenden Anträge Groeber (Zentrum) und Rickert (freis. Vgg.), betreffend Sicherung des Wahlge- heimnisses. Abg. Groeber (Zentrum) legte dar, daß die bestehenden Bestimmungen nicht ausreichen können und wies auf mehrere Vorkommnisse in Esten und Wanzleben hin, wo das Wahlrecht illusorisch gemacht worden sei. Durch die beantragten Vorkehrungen sollte der Wahlterrorismus be seitigt werden ; eine Kommissionsberathung der Anträge sei überflüssig. Abg. Rickert meinte, der Schutz des Wahlge heimnisses sei eine Ehrenpflicht des Reichstages. Abg. von Czarlinsky (Pole) begrüßte die Anträge mit Freuden. Abg. Lenzmann (freis. Vp.) führte die Verhältnisse des Wahlkreises Dortmund an, wo die Arbeiter wegen ihrer Stimmabgabe brotlos gemacht und zum Selbstmord getrieben würden. Wer die Anträge nicht unterstütze, der begünstige die Gesetzesübertretung. Abg. Klose (Soz.) befürwortete entschieden die Anträge. Abg. Merb ach (Reichsp.) sprach sich gegen den Antrag aus, da er praktisch undurchführbar ei. Abg. Osann (nat.-lib.) lehnte den Antrag Namens des größten Theil» der Nationalliberalen ab, weil die vorge- chlagenen Bestimmungen eher die Wahl erschweren und