Volltext Seite (XML)
34 Angelika tvar in der Stadt fremd; eS hatte also keine Gefahr, das; sic mit unvcrhülltem Kopse neben ihm ging. Äusser den Bewohnern des „iodtcn Hauses" kannten nur zwei Männer, Gerhard nnd der Sanitätsrath, das junge Mädchen, und Jordan wußte wohl, das; eine Begegnung mit diesen Beiden nicht zu fürchten war. Der Gefahr einer Begegnung waren sie überhaupt kaum zwei Minuten lang ausgesetzt, denn sehr bald verließen die beiden Wanderer das Trottoir des „Hauptwegs" und bogen in eine kurze, schmale Gasse, welche den Weg hinter der Dreßler'schen Parkmauer im rechten Winkel dnrchschneidend, zwischen Zäunen und parzellirten Bauplätzen in die Unterstadt und nach dem Hasen hinabführte. Tiese Gegend war schon bei Tage öde, bei Stacht aber vollständig menschenleer. An gelika mußte sich natürlich ganz der Leitung Jordans über lassen; in ihrer Hast, vorwärts zu kommen und rechtzeitig das Ziel zu erreichen, achtete sie überhaupt nicht auf den Weg, den Jordan sie führte. Man erreichte jetzt das Niveau der Unterstadt. Links lag der Theil derselben, wo bei Tage eine ameisenartige Ge schäftigkeit herrschte. Jetzt ruhte das merkantile Leben und nächtliche Dunkelheit hatte sich über die Steinquadern der breiten Uferquais und über die majestätische Wasserfläche des Flusses gebreitet, auf welcher sich der Mastenwald erhob, dessen mit Flaggen ans aller Herren Länder bewimpelte Spitzen man bei Tageslicht vom Dreßler'schen Pavillon aus erblicken konnte. Sticht hierher, sondern nach der anderen Seite lenkte Jordan seine Schritte. Rechts erhob sich ein Wall, das letzte Ueberbleibsel mittelalterlicher Festungswerke, den man in eine Promenade umgewantelt hatte und dessen oberes Glacis mit einer doppelten Reihe von Lindenbäumen beflanzt war. Tie hölzernen Pallisaden, welche früher den Fuß des Walles ge schirmt, waren längst verschwunden, und offen führte ein pla- nirter breiter Weg zu der Höhe des Walles, der rechts zum Terrain der Oberstadt emporstieg, während links sein unter mauerter Theil steil in den Fluß hinabfiel, dessen Wogen an der Wallmauer entlang, hier nicht mehr von den Bollwerken eingeengt, sich in reißenden Strudeln dem Meere zuwälzten. Rur in weiter Ferne schimmerte am äußersten Horizont ein Stern so glänzend und blendend, daß die tief nnd schein bar in seiner Nähe stehenden anderen in ihrem Glanze ver blaßten. Es war das Licht eines Leuchtthurms, der einige Meilen von der Stadt wie ein riesiger Wächter die dort be ginnende Strandgegend beherrschte und seinen Schein bis weit in das offene Meer hinauswarf. „Hier hinaus?" fragte Angelika, als Jordan sich dem Wall zuwandte, dessen eckige, langgestreckte Konturen ihm im Dunkeln die Form eines ungeheuren Sarges gaben. „Ja," antwortete er kurz, „wir müssen den Wall über steigen, auf seiner anderen Seite liegt der Kaiserquai." Es waren die ersten Worte, welche auf dem ganzen Wege bis hierher zwischen Beiden gesprochen wurden. Ange lika verdoppelte ihre Schritte, da sie vernahm, daß sie nun gleich am Ziele wären. Oben auf dem Glacis anaekommen, ging Jordan nicht unter dem Laubdach der Bäume fort, son dern mehr links, wo der Kiesweg der Promenade von einem Rasenplatz begrenzt wurde, der sich bogenförmig auf die Mauer hinabwölbte. Jordan, der bis jetzt, ohne rechts und links zu sehen, die ihm wohlbekannten Gaffen, Plätze und Wege passirt war, wandte sich mehrere Male seitwärts, als wollte er das unter dem Baumdach der Linden herrschende Dunkel mit den Blicken durchdringen. Nichts rührle sich. Plötzlich stand er still. „Da," sagte er und streckte den Arm aus, „da ist die grüne Signallatcrne am Bugspriet und die rothe am Fock mast des Delphins." „Wo ?" fragte Angelika, die ebenfalls ihre Schritte anhielt. Sie strengte ihre Angen an, da sie nichts sah. „Tort," wiederholte er, „dicht über dem Wall," setzte dann aber htnzu: „Ach, Sie können bei ihrer kleinen Figur die Laterne wohl noch nicht sehen. Ich habe einen weitum- fassendcn Gesichtskreis." Angelika trat noch einen Schritt vorwärts und bog sich vor, als wollte sie die glückverheißende Laterne auch er schauen. In demselben Augenblick erhielt sie von Jordan einen furchtbaren Stoß. Sie taumelte, breitete die Arme ans, als wollte sie sich halten, aber es war kein Halt möglich. Ihr Fuß glitt über die Nascnwvlbnng, ihre kleine Gestalt ver schwand, die Gewalt des Luftdrucks im Hinabstürzen raubte ihr sogleich dermaßen die Besinnung, daß sie keinen Schrei mehr auszustoßen vermochte. Nur ein Ausschlagen des Körpers auf das Wasser, ein gurgelnder Laut in den Strudeln des Stroms — dann wieder nächtliche, tiefe Stille. Ter Fluß hatte sein Opfer empfangen. Als die Unthat geschehen, stand Jordan einen Augenblick wie gelähmt. Ein Schauer rieselte ihm durch die Adern. Ein sanfter Luftzug fetzte die Blätter der Linden in Be wegung, daß cs wie ein leises Flüstern klang, und Jordan kam es vor, als hatte er noch nie ein solches Blätterranschen gehört. Wie von Furien gepeitscht, eilte er nach Hause. Er hemmte den flüchtigen Lauf erst, als er aus der schmalen Seitengasse wieder aus das Trottoir des Hauptwegs trat. Niemand war in der Nähe, nur aus einiger Entfernung tönte der Schall von Tritten, der aber schwächer wurde und bald ganz verhallte. Jordan zog den Schlüssel des „todten Hauses" aus der Tasche und stand in wenigen Augenblicken vor dem gewaltigen Tyorweg. Bon den Kirchthürmen der Stadt schlug es Mitternacht. Kaum dreiviertel Stunden waren vergangen, seitdem er ungesehen das Haus verlassen und eS jetzt ebenso unb.merkl wieder betrat; was war aber in dieser kurzen Zeit geschehen!? Jordan fand die Lampe auf dem Pulte ebenso herab geschraubt, wie er sic vorher hingestellt hatte. Er löschte sie ganz aus. „Niemand soll ahnen, wer es gethan, wenn es überhaupt bekannt wird." Mit diesen Gedanken warf er sich angekleidet auf sein Lager. Die Prätendentin der Miltionenerbschaft war für immer verschwunden und mit ihr die Angst vor der Entdeckung seiner Unterschlcife. Das mußte Jordan beruhigt schlafen lassen, aber der Schlaf floh seine Augen. Bis zum ersten Morgengrauen faßte und verwarf er fortwährend Pläne, auf welche Weise er unter den jetzt so veränderten Verhältnissen sein Benehmen für den nächsten Tag cinrichten sollte. XVI. ; Als die Bewohner der dem. „todten Hause" gegenüber liegenden Gebäude sich am nächsten Morgen aus ihrer Nacht ruhe erhoben, wartete ihrer eine große Ueberrajchnng. Sämmt- liche Fenster des Dreßler'schen Hauses, die seit einem Jahr zehnt geschlossen gewesen waren, standen offen, geschäftige Hände waren mit Besen und Tüchern beinüht, Staub und Spinncngcwebe von den Fensterrahmen und Simsen zu ent fernen und den blind gewordenen Scheiben neuen Glanz zu verleihen. 35 Jordan hatte in aller Frühe dem Dienstpersonal den von der gnädigen Fran erhaltenen Befehl mitgetheilt, daß alle Räume des Hauses gelüftet und renovirt werden sollten, um sie wieder ihren ursprünglichen Wohnzwecken dienstbar machen zu lassen. Diese Arbeit war sogleich in Angriff genommen worden und hatte die Aufmerksamkeit aller Vorübergehenden erregt. Wie ein Lauffeuer durchflog es die Stadt: „Das „todie Haus" ist aus seiner unheimlichen Ruhe erwacht, hinter seinen alten Mauern regt sich neues Leben!" Nur wenige Stunden waren vergangen, als das ange fangene Reinigungswerk an den Fenstern des Dreßler'schen Hauses wieder eingestellt wurde. Tie Diener verschwanden, aber die Fenster blieben offen stehe». Ta fuhr der Wagcn des Sanitätsraths vor das Haus. Er trat ein und fand zu seiner nicht geringen Bestürzung die Bewohner des Hauses in großer Aufregung über das Ver schwinden Angelika's. Sie war nicht zum Frühstück in Doro- thea's Zimmer erschienen, und letztere hatte zuerst geglaubt, daß das Fräulein, von der wochenlangen Krankenpflege ange griffen, heute vielleicht einer längeren Ruhe bedürftig sei. Sie halte deshalb Betty verboten, die Baroneß zu stören; da diese aber mit ihrem Erscheinen gar zu lange auf sich warten ließ, so erwachte zuletzt bei Dorothea die Besorgniß, sie möchte krank geworden sein. Betty mußte nun zu ihr gehen nnd kam niit der überraschenden Nachricht, Fräulein Angelika sei nicht in ihrem Zimmer und ihr Bett sei auch unberührt geblieben. Das hatte Dorothea so sehr alterirt, daß sie aufgestanden war, »in diese seltsame Entdeckung sogleich selbst der gnädigen Frau mitzutheilen. Frau Dreßler war von dieser Nachricht sehr betroffen gewesen. Auf ihren Befehl hatte die Dienerschaft Haus und Park in allen Räumen und Winkeln durchsuchen müssen, um sonst: Angelika blieb verschwunden. In Dorothea, welche Frau Dreßler bei sich behalten hatte, tauchte zwar ein leiser unbestimmter Argwohn auf, daß Jor dan bei diesem räthsclhaften Verschwinden Angelika's die Hand irgendwie im Spiel haben könnte, aber weit entfernt, das Nichtige zu ahnen, wagte sie nicht, ihre Gedanken zu Frau Dreßler auszusprechen, da sie dadurch sich selbst ihres früheren Einverständnisses mit Jordan anklagen mußte und es dann leicht herauskommen konnte, wie sie sich von ihm zu Spionir- diensten bei ihrer Herrin hatte brauchen lasten. Jordan, - der ebenfalls zu Frau Dreßler gerufen worden war, hatte erklärt, daß Niemand ohne sein Wissen das Haus durch das vordere Hausthor hätte verlassen können, da die Schlüsse! in der Nacht stets unter seinem Kopfkissen verwahrt lägen. Das hatte Frau Dreßler, die zu ihrem treuen Faktotum, den: bewährten Buchhalter ihres seligen Mannes, dasselbe Vertrauen hegte, wie zu ihrer alten Dorothea, auch vollständig eingeleuchtet. Jordan, unter dessen Leitung die Dienerschaft ihre Nach forschungen im Park gehalten hatte, war eben gekommen und berichtete der gnädigen Frau, daß nirgends eine Spur von der Vermißten zu finden sei, daß aber, wenn das Fräulein das Haus wirklich verlassen haben sollte, es nur durch den Park und Pavillon geschehen sein könne. Frau Dreßler neigte dazu wie zustimmend das Haupt, sprach dann aber ihr schmerzliches Erstaunen darüber aus, daß Angelika grade nach dem gestrigen Abend, wo sie so herz liche Beweise mütterlicher Theilnahme von ihr empfangen, das Haus hätte verlassen können. In diesem Augenblick wurde der Sanitätsrath gemeldet, der bereits draußen von Betty von Allem unterrichtet worden war, auch daß er die Rekonvalescentin bei der gnädigen Frau treffen würde. Er fand Frau Dreßler in ihrem Sessel lehnend. Doro thea hatte wegen ihrer kaum überstandenen Krankheit sich in ihrer Nähe einen Stuhl nehmen dürfen. Jordan stand vor seiner Herrin und hatte eben seinen Bericht über die vergeb liche Durchsuchung des Parks beendet. „Nun, Herr Sanitätsrath," rief Frau Dreßler dem Ein tretenden entgegen, „haben Sie schon erfahren, was sich in meinem Hause zugetragen hat?" „Cie sehen mich darüber ganz bestürzt, gnädige Frau," erwiderte er und nahm den Stuhl ein, auf welchen die Dame einladend mit der Hand zeigte. „Eins der Mädchen draußen hat mir bereits von dem seltsamen Verschwinden des Fräulein Angelika Kunde gegeben. Ich sehe mich in Folge besten ver anlaßt, Ihnen eine Mittheilung zu machen —" „In Bezug auf Angelika?" fragte die Dame. Der Sanitätsrath bejahte. „Ich weiß nur nicht," sprach er weiter, „ob ich vor Zeugen reden darf?" „Vor diesen Zeugen unbedingt," sagte Frau Dreßler, „Herr Jordan und Dorothea sind meine so alten und treu bewährten Diener, daß ich sie wohl meine Fneunde nennen kann!" Jordan küßte der Dame mit großer Unterthänigkeit die Hand, als ob er sich für die Ehre von ihr „Freund" genant worden zu sein, bedanken wollte. Ueber Dorothea's krankhaft blasses Gesicht flog ein Er- röthen, weniger als Freude als aus unbestimmter Furcht über die in Aussicht gestellte Mittheilung des Sanitätsraths. „Beide," fuhr Frau Dreßler fort, „sind so mit den Schicksalen meines Hauses und meiner Familie vertraut, daß ich vor ihnen keine Gheimniffe habe!" Der Sanitätsrath verneigte sich, als ob die Dame zu bestimmen hätte, und erzählte nun von Gerhards Besuch, den ihm dieser am vorgestrigen Tage gemacht habe, und von seinem wiederholten Zusammentreffen mit Angelika, erst auf der Reise und später hier am Gartenpavillon. Er wollte nun bitten, daß Frau Dreßler ihm erlauben möchte, ihr den jungen Mann vorzustellen, um seine Hilfe bei den weiteren Nachforschungen nach Angelika mit in Anspruch zu nehmen; er kam aber nicht dazu, diese Birte auszusprechen. Frau Dreßler nahm diese neue Nachricht, die ihr so unerwartet kam, ganz anders auf, als der Sanität-rath er wartet hatte. Sie erhob sich mit allen Zeichen der Entrüstung. „Ein Liebesverhältniß?" murmelte sie halblaut, als scheue sie sich, das, was sie empörte, laut auszusprechen. Jordan übersah schnell den Vortheil, den er aus der augenblicklichen üblen Stimmung seiner Gebieterin für sich zu ziehen vermochte. Daher antwortete er wie unwillkürlich: „Wir wußten es." „Wer — wir?" fragte Frau Dreßler immer erregter. „Dorothea und ich." Ter Sanitätsrath wollte sprechen, kam aber gar nicht mehr zu Worte. „Sie und Dorothea?" Herrschte die Dame Jordan an und wandte sich dann an letztere. „Sprich, Dorothea, waS weißt Du hiervon?" Jene vermochte nicht zu antworten. Noch schwach von der Krankyeit, brachte die Aufregung dieses Austritts sie einer Ohnmacht nahe. Abwechselnd errötheud und erblassend, stotterte sie nur einige unzusammenhängende Worte. Jordan antwortete