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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.09.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-09-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020910011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902091001
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902091001
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-09
- Tag 1902-09-10
-
Monat
1902-09
-
Jahr
1902
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Die Frage, wie dem Ueberhauduehmen jugend licher Verbrecher zu steuern ist, wie „das Problem der Jugendlichen" am besten gelöst werden kann, Hai, wie schon kürzlich erwähnt worden ist, neuerdings Artbur Dix in einer interessanten, dem Social politiker wie dem Juristen und Pädagogen wichtige An regungen Hebenden Schrift: „Die Jugendlichen in der Social- und Crimmalpolitik" (Verlag voa Gustav Fischer in Jena) behandelt. Sie soll zugleich dem diesjährigen deutschen Juristentage Material gewähren, der sich mit der Reform unsere- Strafrecht-, die nicht mehr lange wird auf sich warten lassen dürfte, beschäftigen wird. Ist doch gerade die Behandlung jugendlicher Verbrecher eine der wichtigsten Materien de- Straf rechte- und haben doch bedeutende RechtSlehrer freimüthig an erkannt, daß gerade, was diesen Punct aulangt, unser Strafrecht sich überlebt hat. Wir werden also gebieterisch zu einer Reform de- Strafrechts hiagedrängt, wenn rS auch vielleicht richtig sein mag, mit Seuffert anzunebmeu, daß gerade die Gegen wart nicht der günstigste Zeitpunkt für eine solche Reform ist. Ja der Versicherungsgesellschaft Staat bilden die Jugend lichen eine besondere Gefahrenciafse. Milten im Entwickelungö- alter stehend, sagt Dix, allen äußeren, sowohl körperlichen wie geistigen Einflüsse» in höchstem Grade zugängig, treten diese Personen mit einem Schlag« au- der Beaus- sichtigung durch die Schule in da- freie Leben hinaus, vielfach darauf angewiesen, sich selbst ihren weiteren Weg zu bahnen, schon früh einen verhältnißmäßig selbstständigen Beruf zu ergreifen, da- Elternhaus zu verlassen und in der Fremde dem Erwerb nachzugehen. Die Vorbedingungen, leicht auf Abwege zu gerathen, sind also gegeben. Wie Seuffert, so wirft auch Dix in seiner Schrift einen Blick auf den Stand deS jugendlichen BerbrecherthumS der Gegenwart. Wenn auch im Allgemeinen die Zahl der schweren Ver brecher in raschem Tempo gesunken ist, so wird diese erfreuliche Erscheinung doch wieder getrübt, wenn man die erhebliche Zunahme jugendlicher und gewerbsmäßiger Verbrecher da gegen hält. In einem Jahre werden nach Dix durchschnitt lich 50 000 Personen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren bestraft. Im Vordergründe der Delikte stehen Diebstahl und Unterschlagung sowie Körperverletzung. Und noch betrübender wird die Erscheinung dadurch, daß auch bei den Jugendlichen die Zunahme der Verurtbeilungen hauptsächlich auf die Rückfälligen entfällt. Die Steigerung beträgt bei den erst malig Bestraften etwa >/i7, bei den Vorbestraften dagegen »/, in dem immerhin kurzen Zeitraum von 1889—1896. Es erfüllt, sagt Dix, geradezu mit Schrecken, daß es im Jahre 1899 bereits rund 9000 Personen zwischen 12 und 18 Jahren gab, die mindesten- zum zweiten Male bestraft waren. Die preußisch« ZuchlhauSstatistik aber ergiebt, daß etwa die Hälfte der Zuchthäusler und gewerbsmäßigen Verbrecher Personen sind, die schon im jugendlichen Alter straffällig wurden und mit dem Gefängniß Bekanntschaft machten. Der Weg der jugendlichen Verbrecher führt also unter den heutigen Verhältnissen direct ins Zuchthaus. Interessant ist dabei das Ergebniß, daß ein unverbältnißmäßig hoher Procentsatz auf Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien kommt, also auf Gegenden mit den unglücklichsten und unzu länglichsten Volksschulverbältnissen. Ueberhaupt stellt sich heraus, daß die Criminalität der Jugendlichen ihre Wurzel im Mangel einer geordneten Erziehung in Familie und Schule hat. Von den gewerbsmäßigen Verbrechern waren r/s unehe lich geboren, r/z vor dem 14. Lebensjahre Waisen geworden. Diese Erscheinungen zeigen uns die Puncte, wo der Hebel einzuletzen ist. Die Fürsorge für die unehelichen Kinder, für die Waisen und für jene Kinder, denen es wegen der Fabrik arbeit oder sonstigen gewerblichen Beschäftigung der Mutter außer dem Hause an der nöthigen Beaufsichtigung und Erziehung fehlt, kann viele Jugendliche vor dem ersten Fehltritte bewahren. WaS die Strafrechtsreform anbelangt, so beschäftigt sich Dix mit der bedingten Begnadigung und Verurtheilung, dem Vollzug der Freiheitsstrafen an Jugendlichen und der Enl- lassenensürsorge. Die bedingte Begnadigung hat sich bereit- heute als bestes Mittel zur Verhütung von Rückfällen bewährt. Nur müßte eine einheitliche Regelung der Frage in den deutschen Bundesstaaten erfolgen, was bislang wohl daran scheitert, daß der Reichstag an Stelle der bedingten Begnadigung die „bedingte Verurtheilung" würde eingeführt wissen wollen. In den meisten übrigen Staaten, Oesterreich-Unaarn, Schweiz, Italien, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Norwegen, Portugal, Eng land sammt seinen Colonien u. s. w-, ist allerdings die be dingte Verurtheilung durchgeführt, welche sich nicht nur auf Freiheitsstrafen, sondern auch auf Geldstrafen bezieht und auch keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Jugend lichen macht. Aber wir haben auch mit der bedingten Be gnadigung gute Erfahrungen gemacht. In mehr als der Ende vorigen Jahres erledigten Fälle konnte von der Straf vollstreckung endgiltig Abstand genommen werden. Der weitere Vorschlag zielt auf die Erhöhung der Altersgrenze für die Strafmündigkeit ab, um die Berührung Jugendlicher mit dem Gefängniß möglichst lange zu verhüten. Mit Recht betont der Verfasser, daß die Grenze der Straf- Mündigkeit nicht unter der Zeit der Vollendung der Schul pflicht stehen dürfe, da daS von der Verbüßung einer Frei heitsstrafe zurückkehrende Kind den schlechtesten Einfluß auf seine Mitschüler auSüben könne. Auch müsse die Vorlchrifk, daß jugendliche Delinquenten in besonderen Räumen ihre Strafe zu verbüßen haben, strenger durchgeführt werden, als cs beute, namentlich in Preußen, überhaupt möglich sei. Zu den bedeutsamsten Mitteln zur Verhütung der Rück fälligkeit aber gehört eS natürlich, daß die Gesellschaft sich der aus dem Gefängniß Entlassenen in der ersten, gefähr lichsten Zeit annimmt, in der sie ost nur sehr schwer wieder ehrliche Arbeit finden können und der Noth mit ihrer Folge von schweren Versuchungen ausgesetzt sind. Eine solche sociale Hilfsarbeit leisten die verschiedenen Gefängnißgesell- schaften, deren älteste die Rheinisch-Westfälische und die Berliner sind. Die gemachten Erfahrungen geben dahin, daß die Fürsorge nur dann überhaupt Sinn und Erfolg hat, wenn sie sich für den betreffenden Entlassenen zu einer wirk ¬ lichen Schutzaufsicht gestaltet, eine Art Bevormundung dar stellt und darum auch vorwiegend nur bei den Jugendlichen ihren Zweck erreichen wird. Ungleich wichtiger als die Behandlung der straffällig ge wordenen Jugend ist nun aber die Verhütung deS Ver brechens bei den jugendlichen Personen. Diese Aufgabe, sagt Dix, ist am dringendsten dort, wo die Wahrscheinlichkeit der Verwahrlosung nahegerückt ist. Die neuere FürsorgeerziehungS- gesetzgehung hat in dieser Beziehung einen wesentlichen Um schwung zum Besseren gelegt. Die Fürsorgeerziehung ist seitdem in einer ungeahnten Zahl von Fällen in Anspruch genommen worden. Die Zahl der Fürsorgezöglinge hat sich seit ihrem Inkrafttreten verdoppelt und wird sich voraus sichtlich in einigen Jahren verdreifachen, denn die Fürsorge erziehung bedeutet einen wesentlichen Fortschritt gegen die frühere Zwangserziehung, an der immer ein Makel haftete. Die neue Fürsorgeerziehung nimmt sich auch der noch nicht ver brecherischen, aber verwahrlosten oder doch der Verwahrlosung ausgesetzten Minderjährigen an. Letzteres ist nicht nur da der Fall, wo verbrecherische oder trunksüchtige Eltern in Frage kommen, sondern auch da, wo die Eltern der Erwerbs arbeit nachgehen müssen und daS Kind ohne Aufsicht, ohne Erziehung sich selbst überlassen bleibt. Die sittliche Verwahrlosung ist aber nur der letzte und markante Ausdruck einer in bedenklichem Umfange vor handenen Tendenz, die sich noch in einer ganzen Reihe anderer Erscheinungsformen äußert. Andere, zwar noch nicht so craß hervortretende, aber nur um so tiefer und nachhaltiger wirkende Factoren sind die überaus ein seitige und unzulängliche Ausbildung der jungen Arbeiter, die sich in der Industrie empfindlich geltend macht, und daS Darniederliegen der Hauswirlhschast und des Familienlebens in Arbeiterfamilien, in die von der Frau keine bauswirthschaflliche Vorbildung mitgebracht wird. Diese Thalsachen sind geeignet, auf daS Volks-, Staats- und WirtbschaftSleben einen verhängnißvollen Einfluß auSzuüben. (S. 37.) DaS große Problem, das sich hier bietet, besteht in der Aufgabe, die schroffe Grenze, die mit dem Ende des schulpflichtigen Alters und dem plötzlichen Uebergang in daS freie Erwerbsleben eintritt, in einen allmählichen Uebergang zu verwandeln. Seine Lösung läßt sich in der Hauptsache in eine Forderung zusammenfassen, die indessen daö ganze große Gebiet noch nicht annähernd erschöpft: Das ist die obligatorische Fortbildungsschule in wei tester Ausdehnung! Im Handwerk finden wir eine regere Fürsorge für Fach- und Fortbildungsschulen und die Ausbildung der Lehrlinge, in der Industrie ist die Lehrlings ausbildung in den letzten Jahren noch zurückgegangen. Der Lehrling gilt als Lohnarbeiter und verfällt einer ganz ein seitigen Ausbildung. Für seine geistige Fortbildung geschieht oft genug überhaupt nichts. Die obligatorische Fort bildungsschule muß hier helfend eingreifen. Dix weist ein gehend darauf hin, daß gerade Preußen, der führende Staat, in dieser Beziehung sehr rückständig ist. Eine besondere Stellung im Fortbildungsschulwesen ist den Fortbildungs- und Haushaltungsschulen für Mädchen einzuräumen. Auch hier ist Dix sür obligatorischen Unter richt, wenn die Mädchen in daS Erwerbsleben übertreten. In Sachsen ist in dieser Beziehung die Thätigkeit von Auguste Busch in Leipzig vorbildlich gewesen, und bereits Feuilleton. Nrchowiana. Rudolf Virchow gehörte zu den Menschen, denen Jeder in soweit nahetreten konnte, daß er einen Eindruck von -er ganzen Persönlichkeit empfing. Es galt ihm gleich, ob er einen Großen dieser Erde, war es nun an Rang oder an Gelehrsamkeit, vor sich hatte, oder einen Jünger der Wissenschaft, der vorläufig nichts aufwcisen konnte, als das Streben nach Erkenntniß. Von einer unnahbaren Hoheit und Kälte war er nur, wenn ihm ein geistiger Standpunct prätentiös entgegcntrat, den er bekämpfen zu müssen glaubte. Ein lautes Wort bekamen auch seine Gegner nicht zu hören, wenigstens muß es sehr lange her gewesen sein, daß Virchow einmal im Affcct seine Stimme über die Stärke der gewöhnlichen Unterhaltungs- oder Vortragssprache erhob. Dagegen wurden seine Worte, wenn er eine Sache und die damit verbundene Persönlich keit abweisen wollte, durch ein Mienenspiel von solchem Ausdruck unterstützt, daß gewiß Jeder es vorgczogen hätte, statt dessen mit einigen ordentlichen Grobheiten an geschrien zu werden. Ein ganz eigcnthümlicher unver geßlicher Zug um den Mund sagte dem Betreffenden dann mehr, als jedes Wort: „Mach', daß Du fortkommst; Du hast bei mir nichts zu suchen." Die begleitenden Aeußerungen waren dann stets von schneidendster Kürze und bitterster Ironie. Diese wenigen Beobachtungen über den Charakter, mit -cm Rudolf Virchow seinen Mit menschen gegenübertrat, werden namentlich denjenigen unter seinen Schülern unauslöschlich ins Gedächtniß ge- prägt sein, die ihn schon als Greis zum Lehrer hatten, namentlich wenn sie auch die Examensnöthe vor ihm zu bestehen hatten. Es mögen deshalb in diesen Tagen auch einige Erlebnisse von Interesse sein, die der Herausgeber der „Allgem. Miss. Bcr." in folgender Schilderung nach seinen eigenen Erfahrungen mttthetlt: „AÜ8 Zeichen einer ungewöhnlichen Arbeitskraft hat ein geistvoller Mann einnml die Eigenschaft htngestcllt, immer und niemals Zett zu haben. Dies Wort charakterisirt -a- Leben Rudolf Virchow s. Bei Tage war er fast nie mals zu Hause anzutrefsen, und er äußerte selbst zu mir, er wäre ja geradezu gezwungen, tagüber anSzugehen, um nicht durch lästige Besucher in seiner ArbettSetnthetlung geschädigt zu werben. Dagegen war er stets bereit, in wissenschaftlichen Angelegenheiten, so wett sic thm wichtig genug erschienen, irgend Jemand, »nd sei eS ein junger Student, in seiner Wohnung zu empfangen oder ihm eine kürzere oder längere Unterredung im Pathologischen Institut zu bewilligen. Besonders mit Rücksicht auf die Anthropologie kannte sein Interesse und sein Gedächtniß keine Grenzen. ES war noch in meiner Studentenzeit, als mir zufällig ein noch niemals gelesenes Exemplar eines merkwürdigen Buches aus dem 18. Jahrhundert in die Hände gefallen war, worin ich einen Bericht über verwilderte Menschen fand. Gerade damals war in der von der Berliner Ethnologischen Gesellschaft heraus gegebenen Zeitschrift eine Mittheilung über ein ähnliches Vorkommen in Thessalien (der wilde Mensch von Trikkala) erschienen, nnd wegen des Alters und der eigen artigen Abfassung der von mir gefundenen Notiz schien cs mir lohnend zu sein, eine Abschrift davon an die ge lehrte Gesellschaft einzusendcn. Einige Wochen danach hatte ich in einer studentischen Angelegenheit—cs war damals gerade die Zeit der ziemlich stürmischen Bewegungen der sogenannten „unabhängigen Studentenschaft" an der Berliner Universität — eine Audienz beim Rector Virchow. Nachdem die Magnificenz Len fraglichen Punct erledigt hatte, erkundigte er sich danach, ob ich mit der Person identisch wäre, die jenen Brief über die wilden Menschen von Ungarn an die Anthropologische Gesellschaft geschickt hätte, und als ich die Frage mit freudigem Staunen bejahte, sagte er: „Ich habe heute gerade davon in der Correctur der „Ethnologischen Zeitschrift" gelesen." Virchow las nämlich fogar die Corrccturcn der von ihm geleiteten Zeitschriften selbst. Ein Besuch bei Virchow im Pathologischen Institut ist ein unvergeßliches Ereignis;. Als ich zum ersten Mal dort war, wurde ich in das Vorzimmer geführt und gebeten, dort Platz zu nehmen. Das war nun freilich unmöglich, denn eigentlich konnte man in dem Raum wegen der überall umherltegcndcn und ausgestellten Schädel und Gerippe nicht einmal stehen, ohne von einer gewissen Acngstlichkcit befallen zu werden, hier oder dort an einen Gegenstand von unersetzlichem wissenschaftlichen Werth zu stoßen. Als Virchow aus der Vorlesung kam, begrüßte er den seiner harrenden Stu denten aufs Freundlichste, entschuldigte sich noch auf einige Minuten, die sich allerdings gewaltig ausdehntcn, und drückte mir für die Wartezeit eine Lectüre in die Hand, mit dem Bemerken, dafür müßte sich jetzt wohl Jeder tnteressircn; cs war ein Buch über den Hypnotismus. Bei spätererGelegenheit war eS mir dann vergönnt, nicht nur in daS Allerhciligste deS Pathologischen Instituts ein- aelassen zu werden, sondern daselbst auch unter Virchow'S Führung die anthropologischen Schätze zu betrachten, die auf der Welt ihresgleichen nicht haben. Ich hatte einige Monate vorher an Virchow einige von ihm für wichtig erachtete Mitthetlungcn gesandt, die mir von einem jungen Officier der Schutztruppe in Kamerun über das bisher nicht genauer untersuchte Zwergvolk der Bagelli zuge gangen waren. Es waren auch anthropometrische Mes sungen, Photographien und Haarproben dabei, über die Virchow später selbst einen kurzen Vortrag vor -er Anthropologischen Gesellschaft hielt. Virchow hat stets besonders dafür gewirkt, die nach unseren Colonien gehenden Officicre und Be amten für anthropologische Forschungen zu interessiren, und hat manche Stunde seiner kostbaren Zeit darauf verwandt, ihnen sogar die elementaren Begriffe der Schädel- und Körpermessung zu erläutern. In jenem Fall führte er Uber eine Stunde lang den seitdem zurückgekehrten Offieier in seiner Sammlung umher und machte ihn auf jede Einzelheit anfmerksam, die für weitere Beobachtungen von Wichtigkeit sein konnten, außerdem auf jeden möglichen Fehler, der bei Schädclmessnngcn ge macht werden kann. In der Thal hat Virchow manches wichtige Material durch solche Opfer an seiner Zeit er langt, und er klagte nur immer darüber, daß die Mit- thcilungcn aus den Colonien ohne ersichtlichen Grund plötzlich aufhürten; es sei, als ob cs sich nach einiger Zeit wie ein Mehltau über die Leute legte, die sich bis dahin als tüchtige Sammler und Beobachter erwiesen hatten. Während Virchow am Tage für Jeden Zeit hatte, der cs nach seiner Meinung in wissenschaftlicher oder anderer Beziehung verdiente, war er Nachtarbciter in des Wortes ganzem Umfang, der gewöhnlich erst durch daS Licht des Tages, das andere Leute weckt, an die Zeit des Zubett gehens erinnert wurde. Da konnte eS auch Niemand auf fällig finden, den berühmten Gelehrten Vormittags 11 Uhr noch beim Morgenkaffee z» finden. Daß Virchow eine begeisterte Verehrung in den wei testen Kreisen genoß, ist eine Selbstverständlichkeit, die nicht erwähnt zu werden braucht, war er doch in gewöhnlichem Umgänge von den schlichtesten Formen, die sich gegen einen jungen Studenten in derselben Weise äußerten, wie im Verkehr mit gewichtigeren Persönlichkeiten. Wenn ich in einer studentischen Angelegenheit zu ihm, als dem Rector, beschicken worden war und er nach deren Erledigung die Universität verließ, so versäumte er es selten, mich aufzu fordern, ihn bis zur Droschke zu begleiten. Wenn er daun, bei dieser angclangt, dem Kutscher zurufen wollte: „Nach dem Pathologischen Institut!" so wurde er meist durch ein stolzes Nicken des Kutschers und ein: „Ich weiß schon", unterbrochen. To unwiderst.'hlich die Liebenswürdigkeit Virchow s war, so gefürchtet war sein Zorn. Ich weiß nicht, ob man diesen Begriff auf eine so abgeklärte Natur anwcnden kann, aber so viel weiß ich, daß eS mir selbst durch und durch ging, als Virchow einmal in meiner Gegenwart einige Studenten abfcrtigte, die sich durch ihr Verhalten seine Mißbilligung zugezogen hatten. Mit leiser, aber wie eine Messerklinge scharfer Stimme sagte über Sachsens Grenzen hinaus werden die Fach- und Haus- baltungSschulen deS „Carolavereins" als Borbilder benutzt. Freilich, ein obligatorischer Unterricht kommt auch hier nicht in Frage. Große Bedeutung legt Dix mit Recht auch der Thätigkeit der Jünglings-, Lehrlings- und Gesellenvereine u. s. w. bei, in denen an freien Abenden und Sonntagen die geistige und körperliche Entwickelung gefördert wird. Auch die Lösung der Wohnungsfrage bildet ein schlechterdings nicht auszuschalteudes Glied der großen Kette von Maßnahmen, die nolhwendig sind, um dem Problem der Jugendlichen erfolgreich beizu kommen. Zum Schlüsse kommt der Verfasser auf den Ausbau des Schutzes der Jugendlichen zu sprechen. Er schildert eingehend die Verhältnisse und den Stand der Gesetzgebung im Auslände und zeigt dann, wie Deutschland in Bezug aus den Schutz der Jugendlichen an der Spitze aller Staaten marschirl. Aber eS muß noch mehr geschehen. Ein erfreulicher Versuch, diesen Schutz intensiver zu gestalten, stellt der Entwurf des „KinderschutzgesetzeS" dar, der dem Reichstag zugcgangen ist und der sich nicht mehr darauf beschränkt, der Beschäftigung von Kindern in Fabriken enge Grenzen zu ziehen, sondern auch vor einem Eingriff in die Familie nicht mehr zurück- sckreckt und den Kinderschutz in der Hausindustrie durch führen will. Was die jugendlichen Arbeiter anbelrifft, so will Dix den Kreis derjenigen Betriebe verengt wissen, in denen ihre Beschäftigung gestattet ist; vor Allem sollen mit größerer Schärfe als bisher die gesundheits schädlichen Betriebe daraus ausgeschaltet werden. Daneben wird sich seiner Meinung nach noch eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit bei Jugendlichen notbwendiz machen. Die Tendenz der Verkürzung der Arbeitszeit der jugendlichen und der weiblichen Arbeiter wird auch von der Regierung anerkannt und eS herrscht das Bestreben, ihr gesetzlich nachzuhelfen. Hat doch der Reichskanzler eine Umfrage bei den Gewerbe- aufsichtSbeamten gehalten, ob eine Beschränkung der Arbeits zeit für Arbeiterinnen auf 10 Stunden sich empfiehlt oder welche Hindernisse derselben entgegenstehen. Die freie Zeit, die bei weiteren Beschränkungen der Beschäftigungs dauer für die Jugendlichen gewonnen wird, muß aber mit Vortheil zu ihrer Ausbildung in der Fortbildungsschule benutzt und im Uebrigen durch Gelegenheit zu guter und gesunder Unterhaltung und Beschäftigung ausgefüllt werden. Die Scimtzaltersgrenze will Dix, wie in den Vereinigten Staaten, aus l8 Jahre erhöbt haben. Beachtlich, aber schwer durchführbar ist, was der Verfasser über den zeitweiligen Berufswechsel zur Ver hütung gesundheitlicher Schäden sagt. Wo Jugend liche in Steinbrüchen, Steinmetzwerkstätten u. s. w. beschäftigt werden, sollte bei ihnen, wie bei den Arbeitern in solchen Betrieben überhaupt, darauf gesehen werden, daß sie nach Ablauf einer gewissen Frist eine Zeit lang einen andern Berus ergreifen, in dem die angegriffenen Lungen sich wieder kräftigen. Es wird auf das Beispiel der Sand steinbrucharbeiter im Dorfe Münchehagen hingewiescn, welche im Juni nach Emden, Elsfleth, Geestemünde re. sich begeben, um als Fischer tbätig zu sein, und welche ge kräftigt im November in die Steiubrüche zurückkehren. Seit dem dies durchgeführt wird, haben sich die Opfer der „Steiu- bruchskrankheit" stark vermindert. WaS den Schutz in er ihnen in zwei Sätzen seine Meinung, selbstverständlich in ganz parlamentarischen Worten, die aber schneidender sich nicht hätten finden lassen. Es lag dann gleichsam etwas Unbedingtes in seinem Wesen, gegen das ein direkter Widerspruch vollkommen undenkbar erschien. Als der da malige Streit unter der Berliner Studentenschaft seinen Höhepunet erreicht hatte, machte Virchow als Rektor mit wenigen Fcdcrzügcn einen Strich durch die ganze Be wegung, indem er die kurze Bestimmung ans ghwarze Brett schlagen ließ: „Die Räume der Universität werden nicht dazn hergegeben, den Unfrieden unter der Studenten schaft zu fördern." Trotz dieser entschiedenen Stellung nahme, die bei Virchow stets in allen Fragen und nament lich in denen der Lebenspraxls zu finden war, milderte er seine Schärfe gern durch ein späteres Entgegenkommen. So ließ er auch damals, trotz jenes Anschlages, noch eine Studcntenversammlung im Auditorium Maximum der Berliner Universität zu, für deren friedlichen Verlauf er keine andere Gewähr hatte, als die freilich mit dem Venen Vorsatz abgegebene Versicherung des als Vorsitzenden fungirendcn Studenten, daß die Ruhe unter allen Um ständen aufrecht erhalten werden würde. Noch eine Kleinigkeit zum Schluß. Wer Autogramme sammelt, wird keine Schwierigkeit haben, ein solches von Rudolf Virchow auszutreibcn. Wie er Jeden zu sich ließ, von dem er eine wirklich interessante Mittheilung zu er warten hatte, so trat er auch mit Jedem in Correspondenz, bei dem sich eine solche Begegnung nur aus fchristlichem Wege vermitteln ließ. Ich schrieb einmal an ihn wegen eines ethnologisch interessanten kleinen Fundes, ohne daran zu denken, daß er sich gerade auf der Versammlung -er Deutschen Naturforscher und Aerzte befand. Trotzdem erhielt ich mit wendender Post von dem Versammlungs orte aus, wo der große Gelehrte doch sicher ein Gegenstand fortgesetzter Aufmerksamkeit war nnd außerdem an allen Verhandlungen nnd Veranstaltungen betheiligte, eine Ant wort, die mir einen genauen Termin zur persönlichen Be sprechung angab. In dieser Unvoreingenommenheit gegen jede Hilfskraft, die sich ihm in der Erweiterung der Forschung nnd der Kenntnisse zufällig darbot, liegt auch wohl ein Stück von Erklärung für das beispiellose Wissen und die ganz unübersehbare Fülle von Beziehungen, die Virchow nach allen Seiten hin hatte, nach denen er sic zu haben wünschte. Darin liegt auch die Erklärung für die Thatsachc, daß in Person oder in Gedanken an dem Todtenbctte dieses Mannes Hunderttausende gestanden haben, die ein deutliches Bild des außerordentlichen Menschen und Gelehrten in ganz bestimmten Zügen in sich tragen und davon ergriffen waren, wenn sie vielleicht auch nur iu ganz vorübergehender Beziehung zu ihm gestanden hatten^
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