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Nr. 243 — LO. Jahrgang Dsnrrer-tvg dev 2«. Oktober 1VIL «rschelnt tSgltch »ach«, mit «uSnahme der Sonn- und Festtage. Nadaabe 1 mit .Die Zeit in Wort und Bild' vierteljüdrlich >r,L« U». In Dresden durch Boten 8.4« 4c In aan» Deutschland stei HauS 8,88 4«: in Oesterreich 4,48 X. ilgadr I» ohne illustrierte »eiiaae dierteljUhrltch I.dil» 4». Ja Dresden durch Boten 8,10 4». In ganz Deutschtand frei Hau» »88 4t; in O-slerreich 4,«7 L. — Tinzei-Rr. I« Unabhängiges Tageblatt fuv Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die «gespaltene Petitzetle oder deren Raum mit 4L Reklamen mit 5» ^ die Zeile berechnet, bet Wiederholung« entsprechenden Rabatt. Buchdratkerei, Redaktion and SieschästSftellei Dresden, Pillatyrr Strafte 48. — Fernsprecher INS« AürRSrtgabe unverlangt. Schrtftftitlkc keine rverbiudltchkedi Redaktions-Sprechstunde: 11 btS 18 Uhr. Die liberale Vorfrucht der Sozialdemokratie. Dresden, den 25 Oktwer 19t1. ES gibt noch manche Liberale, denen es dämmert, wohin die heutige Politik ihre Partei Hinfahrt: zur Herr schaft der Sozialdemokratie und zur Unterdrückung der eigenen liberalen Partei. Ans Gera kommt jetzt eine jolche höchst lehrreiche Stimme. Ein Geraer Gewährs- mann der „Königsberger Hartungschen Ztg." (Pr. 490) schildert darin sehr anschaulich die ungeheuerlichen Fort schritte. die die Sozialdemokratie in dem Ländchen „seit der Neichsfinanzrcform" gemacht hat. Er schreibt die sozial demokratischen Erfolge natürlich der Reform als solcher und nicht deren demagogischer Verarbeitung durch die Linksparteien zu. Bis zur Reichsfinanzreform hatte, so wird hier erzählt, die Sozialdemokratie zwar in einigen Vorstädten und ländlichen Ortschaften — dank dem volks tümlichen Gemeindewahlrecht — eine Mehrheit im Gc- meinderate: aber in der indnstricreichen Residenz Gera mit ihren 60 000 Einwohnern hatte sie unter den 39 Stadt vertretern stets nur wenige Mitglieder. Seit der Finanz reform änderte sich das Bild. In zwei Wahlperioden ge lang es der Sozialdemokratie, eine absolute Mehrheit im Geraer Genieinderate zu erringen: von seinen 39 Mit gliedern sind heute nicht weniger als 26 sozialdemocratisch. Der bis dahin herrschende Liberalismus ist also zu einer Drittelmchrheit znsammengeschrnmpft. Dabei hat der reußische Liberalismus nicht einmal den Trost, seine Macht an Großblock-„Genossen" abgetreten zu haben. Nein, die waschechte Sozialdemokratie ist in Gera ans Ruder ge kommen. Amüsant ist es nun, wie der liberale Verfasser das Verhalten dieser Mehrheit schildert. Es wurde ge redet und geredet, und wenn es das sozialdemokratische Interesse erforderte, siel die Sitzung — wie beispielsweise während der Geraer roten Woche — überhaupt ans. Ferner beschloß der Gemeinderat, die reußische sozialdemo kratische Zeitung zu in amtlichen Inser tion s o r g a n der kommunalen Körperschaften zu machen. Aber zur Genugtuung der Liberalen stieß das reußische Ministerium de» Beschlns; um. Auch in zahlreichen anderen Fällen ergab sich stets dasselbe Bild: der Gemeinderat be schließt. der Magistrat protestiert und die Negierung trifft die endgültige Entscheidung. „Die wirkliche Selbstver waltung besteht in Gera eigentlich nur noch in der Einbildung." Dafür werden folgende Beispiele gegeben: „Als eine der Stadt mitgehörige Psarrerwohnnng neu hergerichtet werden mußte, verweigerte die Sozialdemokratie die Mittel. Grund: keinen Pfennig für die Kir ch e ! Effekt: die Negierung ordnet die zwangsweise Bereitstellung städtisckier Gelder dafür an. In den Vororten Geras, in denen die Sozialdemokratie schon länger die Mehrheit Hai, genehmigt sie prinzipiell nur das im städtischen Budget, was ihr paßt und elimiert alles andere. Effekt: die Ne gierung ordnet auch hier die zwangsweise Einstellung der betreffenden abgelehnten Posten in den Etat an. In Gera wird man erst in den nächsten Monaten dazu kommen können. Ein besonderes Kapitel beansprucht die Veamten- politik der Sozialdemokratie. Hier tritt das Bestreben der Partei ziemlich klar zutage, sich einen gefügigen Apparat zu schassen. Sie sägte einen ihr nnbegneme» Banrat ab (was ihr aber nicht znm Vorwurf gemacht werden soll), dann versagte sie einer Reihe städtischer Mittel- und Unterbeamten, die „daran" waren, die definitive An stellung. Und in manchen kleinen Städten verlängerte die sozialdemokratische Gemeinderatsmehrheit grundsätzlich nicht die Amtspcriode der leitenden Persönlichkeiten, um so einer Pensionsverpflichtnng aus dem Wege zu gehen. Einen drastischen Fall dafür bot »»längst das Gera benachbarte weimarische Städtchen Münchenbernsdorf." Ei» eigentümliches Zugeständnis macht der Verfasser insofern, als er bemerkt, zwischen der „regierenden" Sozial demokratie und den anderen Parteien seien setzt die Rollen vertauscht. Jetzt seien die bürgerlichen Parteien (National- liberale und Freisinnige) die schiebenden, die Sozialdemo kratie werde geschoben. Das betrachtet aber doch der Libe ralismus schon immer als eine seiner „vornehmsten" Auf gaben. Ferner schreibt der Verfasser, der Grund, weshalb an dem gemeinnützigen Werke der Wohnnngsresorm durch Selbsthilfe die Sozialdemokratie ihre Mithilfe verweigert habe, sei der, daß die Partei an dem Wachsen der Unzu friedenheit ein Interesse habe, weil sie die Entproletari- siernng der Arbiter nicht wolle, sie nur als besitzlose Klassenkämpfer gebrauchen könne. Wer denkt da nicht an die jetzige Tenernngshetze, die auch nur den Zweck hat, die Unzufriedenheit der Massen zu schüre», und wo der Libe ralismus so tüchtig mitarbeitete. Was der Reichskanzler dieser Tage gegen die Sozialdemokratie sagte, das gilt für viele Linksliberale auch. Diese benützten die Anspannung der Preise, um gegen das Zentrum zu Hetzen und gegen die Wirtschaftspolitik mobil zu machen, welche sie selber unter stützt haben. Was aber hier in Gera sich vollzieht, das wird in allen Ländern kommen, in welchen der Liberalismus heute die Genossen unterstützt: man wird namentlich in Baden sehr schnell erleben, wie die „Sozzen" obenauf sind und der Liberalismus sich an ihren Schwanz hängen darf. Der italienisch-türkische Krieg. Nach Briefen ans Benghasi hat das Bombardement der Italiener große Verheerungen angerichtet und große Panik hervorgernfen. Zahlreiche Wohnhäuser und andere Ge bäude sind zerstört. Tie Malteserkirche ist znm Teil cin- gcstürzt, wobei acht Personen getötet und zehn verwundet wurden. Das britische Konsulat ist schwer beschädigt. Ter englische Konsul ist verletzt, mehrere jüdische englische Staatsangehörige, die in das Konsulat geflüchtet waren, sind getötet und verwundet. Die Briefe schätzen die Zahl der Getöteten unter den Eingeborenen auf 4M0. Nach den Angaben einiger Gefangener beliefen sich die Verluste der Türke» ans 100 Tote und »och viel mehr Ver wundete. Die Italiener erlitten keine schweren Verluste. Ein Erlaß setzt Todesstrafe für alle fest, die mit Waffen angetroffen werden. Die Araber kämpfen mit den Türken Seite an Seite und an eine Unterwerfung der Araber ist gar nicht zu denken. Wenn die enttäuschten Italiener diese Araber nicht als Kriegführende anerkennen wollen, so ist das ent schieden zu weitgehend. Jeder beduinische. Reiter, der ein Gewehr sührt »nd dieses nicht verbirgt, ist, in seiner Nationaltracht fechtend, doch auch Kombattant und hat als solcher Anspruch ans eine soldatische Behandlung. Daß die Italiener wieder ihre Verluste nicht angeben, ist etwas verdächtig. Tripolis, 24. Oktober. Ein eingeborener Diener des deutschen Konsuls ist heute erschossen worden, weil er einem italienischen Soldaten einen Dolchstich versetzt hatte. Politische Rundschau. Dresden, den 25. Oktober 1SI1. — Der zweite Tag der TeurruugSdebatte nahm einen interessanten Verlauf, eS ging recht lebhaft zu. Namens der Nationalliberalen sprach sehr schnhzöllnerisch Abgeordneter Fuhrmann, der jede Aenderung der Zölle ablehnte: am Schlüsse kam er mit einem Füllhorn von Wünschen für die Beamten: Teuerungszulagen, Ausbesserung der Altpensionäre usw. Eine nette Wahlagitation. Der preußische Landwirt- schastsminister v. Schorlemer brachte eine Menge von Zahlen material vor zur Beleuchtung der Teuerung. Eine durch- schlagende Rede hielt sodann namens deS Zentrums der Abgeordnete Dr. Heim. Er untersuchte zunächst die natür lichen Quellen der Preissteigerung. Mit vielem Humor ging er aus die Schlagwörter der Linken ein. Er forderte die Aufhebung der Gemüsezölle, was namentlich dem Westen zugute komme. Mit Nachdruck wies er darauf hin, daß nicht nur die Lebensmittel gestiegen seien, sondern auch Kaffee und nahezu alle Jndustrieartikel. Zölle weg! nützt nichts; schafft „billige Wochen und teure Jahre". Als vorübergehende Maßnahme zur Linderung schlug er vor: Zulassung deS argentinischen Fleische» unter Kontrolle von deutschen Tierärzten in Argentinien. Rückvergütung der Zölle aus Mais und Futtcrgerste. Die Rede Heims fand große Aufmerksamkeit im ganzen Reichstage. — Tie Ncichstagswahlen. Im Seniorenkonvent des Reichstages verlautet, daß die Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 stattfinden werden. — Liberaler Wnhlschwindel. Der Ausfall der Land tagswahlen in Elsaß-Lothringen hat der liberalen Presse znm guten Teil das klare Denken getrübt. Da liest man nämlich u. a. folgendes Resümee: „Das Zentrum ist auf seinen bisherigen Besitzstand beschränkt: die Sozialdemo kratie hat eine wesentliche Zunahme zu verzeichnen. Die Hoffnungen des Nationalbundcs haben sich nicht erfüllt. Der Liberalismus hat sich gut geschlagen, vermochte jedoch im ersten Wahlgange keine positiven Erfolge zu erzielen." Das könnte ein Politischer Säugling verübt haben. Dabei hat das Zentrum 20 Mandate und der Liberalismus zwei ganze erhalten. Andere Blätter sprechen sogar von einer Niederlage des Zentrums: es habe die Mehrheit verloren. Tatsache ist, daß das Zentrum im alten LandesauSschusse über keine Uebermacht zu verfügen hatte, sondern daß dort lediglich die ruhigeren Elemente verschiedener Färbung zur Mehrheitsbildnng imstande lvaren. Da Zentrum, Lothringer Block und konservativ gerichtete Unabhängige An unsere Leser! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dem Geschmack eines einzelnen Lesers voll und ganz Rechnung zu tragen, eine Zeitung will vielen Interessen dienen, muß jedem etwas bringen. Jeder Leser aber soll nach Möglichkeit wenigstens mit der Zustellung der Zeitung zufriedengestellt sein, das ist das eifrigste Bestrebe» der Zeitnngsvcrleger. Und doch liegt es hier in der Institution selber begründet, daß alle Abonnenten wohl niemals ganz znfriedengestellt sein wer den. Darum ist jede Zeitung ihren getreuen Lesern für guten Rat zur Abhilfe, Mitarbeit auch in dieser Hinsicht und vor allem für Nachsicht dankbar. Solche srenndliche Gesinnung uns auch bei den über schlechte Zeitnngsbestellnng manchmal unzufriedenen Lesern unseres Blattes zu er halten, ist die Absicht dieser aufklärenden und ent schuldigenden Zeilen. Am Nachmittag, wenn die Maschinen die fertige» Zei tungen rasselnd answerfen, stehen die Träger und Träge rinnen, die mittlerweile schon ihre Weisungen vom Kontor über neue Zustellungen, aufgegebcne Wohnnngsändernngen erhalten haben, schon bereit, mit ihren Paketen fortzncilen. Nun beginnt ein Laufen straßein, straßans, treppauf und treppab. Da ist nicht ein Träger so flink wie der andere. Der Mutter nehmen die Kinder ein Pack Blätter ab und huschen damit von Flurtür zu Flurtür. Die Kleinen wieder, ihrer Aufgabe nicht bewußt, sind die Ursache mancher Be schwerde, wenn sie z. B. trotz strengster Anweisung einem Schulfreunde die Zeitung mit nach oben geben, der sie zu besorgen verspricht, es aber nicht tut. Eine andere Fra» muß Blatt für Blatt in dies und jenes Haus allein tragen: die Treppen werden ihr bald sauer wie steile Berge. Ein Bote muß am verschlossenen Haustor eine Weile warten, ein anderer viele Vorgärten, Durchgänge und Höfe durck>- schreiten. Ohne Murren tun sie alle noch im Abend dämmern Tag um Tag den gleichen Weg. kennen keine Krankheit, keine Ferien. So mag's dem Leser, der beim Abendbrot ärgerlich auf seine Zeitung wartet, verständlich und entschuldbar sein, wenn er in der Weißerihstraße seine Zeitung z. B. nicht genau auf die Minute mit seinem Freunde in der Florastraße oder mit seinem Bruder in der Wettinerstraße bekommt. Ein bestimmter Fahrplan ist eben für die Zeitungsausträger nicht möglich. Wie oft müssen sie selbst auf die Ausgabe ihrer Blätter warten, weil der Truck nicht auf die Viertelstunde genau begonnen und be endet werden konnte, wenn z. V. eine Betriebsstörung ein trat, wenn die Post spät eintraf, ein Artikel mit aller Ge walt noch in die Nummer hinein sollte, Depeschen vom Krieg um Tripolis, vom Aufstand in China. Zwar ist die Zei tung wie kein Organ sonst immer zur Pünktlichkeit und Schnelligkeit bestrebt, aber auch sie muß immer bereit sein, den größten Ansprüchen zu dienen, muß verspätet gegebene Inserate, nach Schluß eingelaufene Meldungen prompt ab drucken, weil dem Leser bis zum allerletzten Schluß des Druckes soviel als nur möglich geboten werden soll. Darum halte man ihr zugute, wenn sie um eine halbe Stunde zu spät einlangt, daß ihre Austräger doch auch Menschen sind, die bei Regen und Sturm nirgends Unter stand nehmen dürfen, weil eine Zeitung keine Zeit hat. Gerade das sollte man nicht vergessen und - diesen leisen Vorwurf muß man nun schon manchem Leser oder richtiger seinen dienstbaren Geistern im Hanse machen — die Zeitung nicht so lange auf dem Teppich an der Vor saaltür oder mit nur einem Zipfelchen in dem viel zu kleinen Briefkasten draußen stecken lassen, bis sic — gestohlen ist. Schwer haben es die armen Austräger, der eine Abonnent wünscht, daß geklingelt und ihm die Zeitung zur offenen Tür hinein in die Hand gereicht wird; der andere verbittet'sich das Klingeln, will aber die Zeitung unter der Vorsaaltür hindurchgcschoben wissen, wobei sie nicht selten vergessen oder durch Fußtritte beschmutzt wird. Ter dritte verlangt seine Zeitung im Briefkästen zu finden, der vierte neben dem Abtreteisen, ein anderer ans dem Treppenpodest. Parterrewohnenden soll man sie ins offene Fenster werfen und so hat jeder seine eigenen, jeder andere Wünsche. Die armen Austräger sollen sich nun danach richten. Sie geben sich ja auch die größte Mühe, denn sie möchten doch selber gern mit ihren Abonnenten in Frieden leben, noch neue hinzubekommen. Manche Leser aber, wofern ihnen ein höchstpersönlicher, manchmal nicht eben praktisch auszu- sührender Wunsch, daß die Zeitung da oder dort nieber- gelegt werden soll, nicht sofort befolgt, oder auch nur ein einziges Mal außer acht gelassen wird, schlagen großen Lärm, telephonieren den Verlag an, schreiben drohende Briese, ja bestellen das Blatt kurzerhand ab. Und was kann denn die arme Zeitung selber dafür, was der Verlag, der seine Boten unentwegt zur ordnungsmäßigen Zeitungs- bestellnng anhält und sogar mit Strafen belegt? Angebracht wäre es, daß jeder seine kleinen Spezial wünsche (Briefkasten, unter den Teppich, Klingeln u. a.) dem Austräger Persönlich bekannt gibt; die Leute lassen sich gewiß die kleine Mühe nicht verdrießen, denn es ist ihre Pflicht, den Lesern entgegenznkomme». Wer aber Anlaß zu Klagen hat, daß sein Blatt zu spät, nicht ordentlich, nur unvollständig nsw. bestellt wird, nehme eine Postkarte zur Hand und wende sich mit einer kurzen Beschwerde an den Verlag. Häufig kommt es vor, daß Postabonnenten sich beschweren, diese können aber ordnungs mäßige Bestellung nur durch die Post fordern. Alle Errnngenschaftc» der modernen Zeit kommen dem Zeitnngswesen zugute. Das einzige, was durch alle Epochen geblieben ist. ist der Zeitungsausträger, er wird bleiben, und wir müssen ihn z» schätzen wissen wie die Milch- und Brötchcnträgcr. Suche jeder mit ihm im Guten auszu- kommen, denn er ist eine bleibende Erscheinung, der Bringer von Freud und Leid in unserem Leben.