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Sächsische Volkszeitung : 17.09.1922
- Erscheinungsdatum
- 1922-09-17
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-192209177
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19220917
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19220917
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1922
-
Monat
1922-09
- Tag 1922-09-17
-
Monat
1922-09
-
Jahr
1922
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 17.09.1922
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Sächsischer Arrltrirkampf Die beiden Verordnungen des sächsischen Kullnoministe- ciuttis dom 12. und 24. August über den „Schulbesuch an staat lich nicht anerkannten Feiertagen" und „Für Ausführung von Artikel 148 Absatz 2 der Neichsvcrsassung" bedeuten eine Heraus forderung des christlichen Volkes. Die zweite ist noch um eini- gcs schlimmer als die erste. Man denkt an den Wolf im Schafs pelze, wenn man jetzt beobachtet, wie das Kultusministerium un ter dem Vorwände, für die Durchführung der Reichsvcrfassung bemüht zu sein, die christliche Schule bergewaltigt. Man mutz sich uuic wundern, datz eS erst nach mehr als drei Jahren die Entdeckung macht, datz die Schule dem Artikel 148 Absatz 2 der Rcichsverfassung zuwiderhandelt, wenn sie den christlichen Geist in ihren Bemühungen um die Jugend fruchtbar zu machen ver sucht. Man mutz sich auch wunder», datz es gerade der sächsi schen llnterrichtsverwaltung Vorbehalten blieb, den Widerspruch zu entdecken, in dem sich die christliche Schule zu jenem Artikel der Verfassung befindet, während die anderen Länder so ahnungslos den gefährlichen Feind der Verfassung unbehindert gewähren lassen. Datz sich Artikel 148 Slbsatz 2 der Verfassung dazu benutzen lasse, ganz im stillen und, ohne viel Aufsehen zu erregen, die Bekenntnisschule in die Gemein, schaftsschule umzuwandeln, das ausfindig zu machen, erfordert allerdings eine Deutungskunst, wie sie bisher noch kei nem Interpreten der Verfassungsbestimmungen geglückt ist. Die jüngste Verordnung des sächsischen Kultusministeriums benutzt jenen Verfassungsartikel dazu, mit einem Federstriche die Bekenntnisschule zu beseitigen, wahrlich ein bequemes Verfahren, das Schulproblem zu lösen, bevor noch ein Rcichsschulgesetz und ein Landesschulgesctz etwas entschieden Halen. Wie gelingt es, mit dem so kurzer Hand mit dem so un- »cqucmen Gegner, mit der christlichen Schule, fertig zu werden? Die Waffe zu diesem Kampfe entnimmt man dem Artikel 148 Absatz 2 der Verfassung. Dort heißt es: -.Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu- nehmen, daß die Empfin dungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Diese Mahnung zu schonender Duldung andersgerichteter Auffassungen wird für alle Schulen ausgesprochen, die Artikel 146 unterscheidet: für die Gemeinschaftsschule, die Bckenntüisschule und die bekenntnis- freie (weltliche) Schule. Für die Gemeinschaftsschule, die alle Kinder ohne Unterschied des Glaubens in sich vereinen soll, ist sie jedoch in höherem Matze notwendig als für jene anderen Schu len, die als Sonderschulen wesentlich nur von Kindern einer be stimmten Konfession oder Weltanschauungsgruppe besucht wer den. Als Ausnahmen können natürlich auch hier „Andersden kende" vorhanden sein, wie bisher die Bekenntnisschulen der Mehrheit in der Regel immer auch einzelne Kinder des Minder- ho.tsbekenntnisses in sich beherbergt haben (die katholischen Kin der in den evangelischen Schulen Sachsens- D.eje Situation hat Artikel 148 Absatz 2 im Auge, wenn cr fordert, oatz die Emp findungen Andersdenkender g;tchont werten. Aber die Reichs verfassung hält die Erfüllung dieser Forderung für alle drei Schularten für möglich, auch für die Bekenntnisschule und die Wcltanschauungsschule. die doch ihre gesamte Bildi.ugSarbeit auf dem Grunde eines bestimmten Bekenntnisses oder einer beson deren Weltanschauung aufbauen. Artikel 146, 2, wo diese zwei Sonderformcn gesetzlich verankert werden, und Artikel 148. 2, der zur Duldung mahnt, schließen sich also keineswegs aus, son dern vertragen sich sehr wohl miteinander. Die sächsische Ministerialverordnung aber zieht aus Artikel 148, 2 eine Folgerung, die von jenen Schularten die Bekenntnis schule einfach streift. Es heißt nämlich: „Auf Grund dieser Be stimmung (Artikel 148, 2) wird hiermit verordnet, datz m den Schulen jede Art religiöser Beeinflussung außerhalb des Reli gionsunterrichts zu unterbleiben hat. Andachten, Gebete und Kirchenlieder sind nur in den Religionsstunden zulässig." Die hier aus jenem VerfassungSartikcl gefolgerte Beschränknirg aller religiösen Bildnngseinflüsse auj den Religionsunterricht kann aber vernünftigerweise nu-r für die Gemeinschaftsschule (Artikel 146, 1) gefordert werden, die den Kindern der verschie- denen Bekenntnisse einen gesonderten Religionsunterricht ge währt, aus dem gemeinsamen Unterricht aber alles Trennende auSsckaltet. Nur die Gemeinschaftsschule ist, der Durchmischung der Kinder wegen, genötigt, jede Bezugnahme auf den welt anschaulich-religiösen Standpunkt aus dem gemeinsamen Unter richte auc-zuschlietzen. So hat auch der ReichSschulgeschentwurs die Situation der Gemeinschaftsschule dargestellt (vcrgl. 8 2). Auf die Bekenntnisschule dagegen ist jene Folgerung der Ministerialverordnung gar nicht anwendbar. Tenn diese wird in ihrem Wesen ganz und gar aufgehoben, wenn sich in ihr das Religiös-Weltanschauliche auf den bloßen Religiousunterrichl zu- rückziehcn mutz. Denn dann wird sie eben zur Gemein schaftsschule. Jene Verweisung aller religiö sen Beeinflussung nur auf den Religions unterricht beseitigt also die Bekenntnisschule. Diese hat gegenüber der Gemeinschaftsschule eben ihr uurerschei- dendes Merkmal darin, daß die besondere religiöse Grundan- schcoivu'ig den ganzen Geist der Schule bestimmt, eben weil ihre Schülerschaft religiös einheitlich ist. Die Religio» ist hier nicht ein bloßes Unterrichtsfach, beziehungslos neben der übrigen Bildungsarbeit der Schule stehend, sondern das all gemeine Lebensclement, das den gesamten Geist und das innere Leben der Schule durchdringt und erfüll!. Es ist das gute Recht der Bekenntnisschule und darin liegt zugleich ihr päda gogischer Vorzug, den gesamten Unterricht auf der siche ren Grundlage einer einheitlichen Weltanschauung aufzubauen. So pflegt sie das Religiöse im Schulgebet zu Beginn und am Schluß des Unterrichtes, durch Schulandachten und religiöse Uebungen, auch im kirchlichen Gesang. Aber auch darüber hinaus sucht sie, namentlich für die Erziehung der Kinder, die reli giösen Kräfte fruchtbar zu machen, indem sie die sogenannten Gesinnungsfächer, Deutsch und Geschichte, mit der religiösen Grundrichtung in lebendige Beziehung bringt. Eben dies, die wcltanschauungsmätzige Einheitlichkeit der gesamten BildunW- und Erziehungsarbeit, das macht das Wesen der Bekenntnisschule aus, und diese Einheitlichkeit zerstört jene Verfügung, und damit vernichtet sic die Bekenntnisschule überhaupt. Gewiß sind die Existenzbedingungen der Bekenntnisschule noch sehr umstritten. Das Ncichsgesetz zur Ausführung van Artikel 146 Absatz 2 der Verfassung, das über ihr Schicksal ent scheiden soll, ist nach nicht weit vorangekommcn. Aber so wenig zufrieden die christlichen Erzieher mit manchen Bestimmungen des vorliegenden Entwurfes auch sein müssen, so zeigt dieser doch ein ganz anderes Verständnis für das Wesen der Bekennt nisschule, als solches der jüngsten Ministerialverordnung zu grunde liegt. Was diese ihr bestreitet, gesteht ihr jener Entwurf ausdrücklich z>.', so, wenn in Z 3 Absatz 4 folgende Bestimmung vorgesehen wird: „Die in dem Bekenntnis üblichen religiösen Hebungen und Gebräuche sind, unbeschadet des Artikels 146 Absatz 2 der Reichsverfassung zuzulassen. Indes darf der Nnterrichtsbetrieb lm ganzen dadurch nicht beeinträchtigt werden." Und noch deutlicher verurteilt die dazu gegebene «Begrün dung" die neueste Regixrungsmaßnahme: „Da jede Bekenntnisschule für ein Bekenntnis bestimmt ist, darf die Beobachtung der in diesem Bekenntnis übliche» re ligiösen Uebungen und Gebräuche in der Schule weder durch Reichs- noch durch Landesrecht ausgeschlos sen werden." Aber auch die weltauschauungsmäßige Einheitlichkeit des gesamten Unterrichts gesteht der Entwurf der Bekenntnis schule ausdrücklich zu, wenn er in der Begründung zu Z 3 sagt: „Die Bekenntnisschule ist für ein religiöses Bekenntnis bestimmt; der gesamte und namentlich der die Gesinnung der Schüler bildende Unterricht ist daher im Geiste dieses Bekenntnisses zu erteilen." Mit dieser Auffassung vom Wesen der Bekenntnisschule gerät die sächsische Verordnung in schwersten Konflikt. Und wenn diese Deutung des Wesens und der Ansprüche der Bekenntnis schule auch noch nicht gesetzliche Anerkennung gefunden hat, weil das Reichsschulgesetz noch nicht verabschiedet ist, so zeigen diese Bestimmungen doch deutlich, in welcher Weise das Reich die LebenSbcdingmugen der Bekenntnisschule zu regeln gedenkt. Was die sächsische Negierung aber jetzt tut, ist ein vorzeitiger, der Rcichsgesetzgebung vorgreifender Versuch, die Schulfrage ein seitig im Sinne der Gemeinschaftsschule zu lösen. Ans der in Artikel 148 Absatz 2 enthaltenen Mahnung zur Duldsamkeit wer den in gewaltsamer Auslegung Folgerungen gezogen, die aus der Bekenntnisschule einfach eine Gemcinschrflsschule machen. Der in der ErzichungSpraxis von Jahrhunderten erprobte be- kenntnismäßige Charakter der christlichen Jugenderziehung, den die NeichSgesetzgcbung anzucrkcnnen bereit ist, wird mit gewag ten, au einem Verfassungsartikel vorgcnommenen TeutungS- kunststückcn beseitigt, unbekümmert darum, ob man damit an dere Vcrfassung-obcstinimungcn verletzt. Die neue Verordnung ist ein Verstoß sowohl gegen Artikel 116 Absatz 2 der Verfassung, der die Einrichtung von Bekenntnisschulen den sich dafür ent scheidenden Erziehnngsberechiigten ausdrücklich zugestehl, wie auch gegen Artikel 174b, der festsctzt: „Vis znin Erlaß des in Artikel 116 Absatz 2 vorgesehenen Neichsgesetzes vlellu es bei der bestehende» Rechtslage." Jener Artikel verweist aus die künftige Regelung der Angelegenheit der Bekenntnisschule, dieser sichert sie in ihrem Bestehen bis zu jener Neuregelung. Beide sind ein Beweis dafür, datz die verfassunggebende Nationalversamm lung in der Existenz besonderer Belcnntnisschulen lein Hinder nis für die Durchführbarkeit des Artikels 148 Absatz 2 gesehen hat, der znr Schonung der Empsindungen Andersdenkender mahnt. Ilm die hier geforderte Duldsamkeit zu befördern, ist es wahrlich nicht nötig, sich mit zwei anderen Versassnngsariileln in Konflikt z» setzen und damit in Wahrheit eine weit schlimmere Vergewaltigung zu begehen, als sie von der Bekenntnisschule auch im allerungünstigsten Falle jemals zu befürchten ist. Mit seiner jüngsten Verordnung verstrickt sich das sächsische .Knlnisministc- rium in die widerspruchsvolle Situation, datz es auf der einen Seite sich den Anschein gibt, wahrer Toleranz zu dienen, auf der anderen aber eben damit die schlimmste Unduldsamkeit »ud bru talste Vergewaltigung begeht, — wahrlich: der W.u» i,„ Schafspelze! Hundertjahrfeier deutscher Na ursorscher und Aerzte in Leipzig vom 17. bis 24. September 1922 Von Dr. R. Stein, Leipzig. Einflihrer der Abteilung für Geschichte der Medizin »ist der Naturwissenschaften. Vor hundert Jahren kamen deutsche Naturforscher und Aerzte zum ersten Mal zu gemeinsamer Tagung und zwar in Leipzig zusammen. Der philosophische Oken, Professor in Jena, wai der Anreger gewesen. Seitdem haben sich diese Tagungen in wachsender Bedeutung alljährlich wiederholt; nur in Epidemie- nnd Kriegsjahren sielen sie ans; die jetzige ist die 87. Ver sammlung. Wie jene von 1822, so war auch die Tagung 50 Jahre später in Leipzig, und nun nach hundert Jahren findet sic Wiede rum hier statt. Die hervorragendsten Forscher haben sich in diesen Versammlungen eifrig betätigt wie Alexander von Hum boldt, Justus Liebig, Rudolf Virchow; die wichtig sten Forschungen der Natur- und Heilkunde wurden hier mitgcteilt und erörtert; ein Stromland. Auch WeltanschannngSfragen wurden verhandelt; besonders die Kasseler Tagung 1603 hat durch Ladcn- burgS Rede eine scharfe Verteidigung christlicher Auffassung herauS- gefordert; auch unser hochw. Herr Bischof Dr. Christian Schreiber hat in jene» Geisteskämpfen mitgesochten. Die Versammlungen deutscher Naturforscher und Arzte hatte» nicht nur für die Fachwissenschaften Bedeutung; sie waren längst ehe eS ein einiges deutsches Vaterland gab, Mittelpunkte deutscher Forschung und Sammelstätten deutscher Gelehrter und Praktikei ans Nord und Süd, ans Ost und West. Das ganze Deutschland war hier vertrete», nicht nur ganze Gebiete, die später im Deutschen Reich vereinigt waren, sonder» auch Deutsch-Oester- reicher, Deutsch-Schweizer und sonstige Deutsche von jenseits bei Reichsgrcnzcn kamen zu ernster Arbeit hier zusammen; auch nach de» Tagungsorten war die ganze segensreiche Einrichtnne grostdeutsrh; es seien dafür genannt: Wien (1832, 1856, 1864. 1613), Prag (1837), Graz (1813, 1875). Innsbruck (1866), Sah;- lmrd (1881, 1606), Karlsbad (1602), Meran (1605). Ans der fetzigen Jubeltagung in Leipzig stehen Relativität-'- thcorie, Wiederherstellungschirurgie und Vererbungslehre im Vordergrund der allgemeinen Erörterung; der Geburtstag des Hanptvererbungsforschers Gregor Mendel, eines Augustiner möncheS, (siche meinen Aufsatz in Nr. 168 der S. B.) war gleich scuem der Natursorschcrversammliliiae» vor hundert Jahren. Auster jenen Hanptsrcigen werden in 30 Abteilungen über tausend Vorträge dargebotcn, ferner wissenschaftliche Ausflüge, Besich tigungen, Kurse. Es ist eine Tagung, auf die die ganze wissen schaftliche Welt blicken wird, mehr noch als ans je eine zuvor. Möge sie zum geistigen Ausbau unseres armen Vaterlandes viel beitragen! k-M-- »r, Die große Hoffnung Originalroman von Erich Ebenstein Urheberrecht durch Greiner n. Comp.» Berlin W. 30 (30. Fortsetzung.) Sie sprang vom Korb herab und sperrte dessen Schloß ab. „Na, erzähle mir lieber von dir. Das ist jedenfalls schöner, als wenn wir von mir oder Schlohstädr sprechen." Annchen tat es gern. Als sie sich nach einer halben Stunde verabschiedete, fiel ihr Thilda plötzlich wieder um den Ha!s und schluchzte: „Ach, Annchen, es Ivar dach wunderschön damals, als du noch in Schlohstädt warst . . . und alles so anders als jetzt!.. Wenn ich denke, datz das nun nie wiedcrkommt . . . und ich fort an ganz allein in der Fremde leben soll . . . drückt es mir schier das Herz ab!" „Aber du mutzt doch nicht, Thilda! Wenn du nicht willst." „Doch. Ich will und mußl Verstehst du mich denn nicht? Das; ick geh, weil tchS nicht vertragen kan», wie der Eine» den ich lieb habe über alles, nichts mehr von mir wißen will und mit Geringschätzung meiner denkt und eines Tages eine andere hei raten wird, deren Name nicht durch entehrende Gerüchte befleckt ist!" „Thilda! I?" Thilda Hobinger schauerte zusammen und fuhr sich m:l dem Taschentuch über das entstellte G.sichu „Stille — frage nicht!" sagte sie hastig. „Alles habe ich dir immer anvertraut, nur über ihn kann ich nicht reden! Spä ter vielleicht ... bis ich verwunden habe." Da schwieg Annchen. Am Abend reiste sie ab. Frau Gersdorfer hatte es so ge« wünscht. Als sie, von Ferdinand begleitet, zur Bahnstation fuhr, sah sie zufällig aus dem Wagen blickend im Schneetreiben ein Paar den einsamen Weg vor dem Waldevitzertor entlangschreue». Sie gingen langsam Arm in Arm. Im Schein einer trüben Straßenlaterne erkannte Annchen Thilda Hobinger. Ihr Be gleiter, der den Kragen hochgeschlagen und einen weichen Hi.'t tief in die Stirn gedrückt hatte, kam Annchen zwar bekannt vor, doch konnte sie sein Gesicht nicht sehen. ' Trotz ihrer gedrückten Stimmung huschte ein Lächeln über Annchcns Gesicht. So ganz verlassen war Thilda also doch nicht. > 16. Kapitel. Frau Gersdorfer schloß das Kassenpult und schob den Schlüs sel mechanisch in die Tasche, blieb aber noch auf ihrem Play sitzen bis die Lichter gelöscht und alles im Geschäft in Ordnung gebracht ivar. In dieser Viertelstunde veränderte sich ihr Gesicy» merkwürdig, wie Ferdinand jeden Abend verwundert bei sich fest- slcllte. Es war, als ginge mit dem letzten Kunden das freundliche Mcrweltslächeln, das tagsüber wie festgenagelt darauf lag aus ihrem Gesicht. Und wenn dann Fritz, wie jetzt, die Rolläden draußen nicderlietz, senkte sich auf das Plötzlich um Jahre älter rrscheinende Fraiicngcsicht ei» starrer Ausdruck von Kälte. Müdig keit und Verdrossenbeit.- Schweigend wurde dann oben das Abendessen eingenommen. Wortkarg satz sie danach noch eine halbe Stunde mit Fer dinand im Wohnzimmer, stichelte an einer Handarbeit, uno wenn es neun schlug, sagte man sich Gutenacht und ging zu Bett. Das ging nun schon zwei Jahre so hin und Ferdinand, der das trostlose, dieses einförmig sreudlose Dasein oft bitier emp fand, hatte doch nie den Mut, wenigstens für seine Person außer .Haus etwas Zerstreuung zu suche». Er konnte Frau Gersdorfer, die ihn als kleinen eltern'oscn Knaben ins Haus genommen, ihm ein Heim und einen Berns ge geben hotte, doch nicht ganz sich selbst überlassen, wen» er sie auch durchaus nicht begriff. Denn es hätte doch alles ganz anders und viel schöner se>n können, wenn sie nur gewollt hatte. Annchen sckrieb alle Augen blicke. die Mutter möge doch das Geschärt verkaufen und ganz zu ihnen ziehen. Auch Otto drängle. Seme Frau- war zweimal hier gewesen, um sie einfach mit Gewalt zu holen. Vergebens. Frau Gersdorfer wollte, nicht. Nicht einmal zu einem kurzen Besuch war sie zu bewegen. Sie kannte weder Ottos Forsthaus noch Anrichens Heim. Wenn Ferdinand früher manchmal von den Kindern zu sprechen begonnen hatte, lenkte sie sofort ab. ES war, als sei jedes Mut tergefühl in ihr erstorben. Auch von ihrem toten Gatten sprach sie nie. Ihr csirziges Interesse war das Geschäft, dem sie sich >uer- müdlich widmete. Trotzdem häuften sich da die Schwierigkeiten, und wenn Ferdinand auch durckmus keinen genauen Einblick in Frau Gersdorfers Vermögensverhältnisse bekam, wußte er doch durch andere, daß sie zu den bereits von ihrem Mann ausgenom- menen Hypotheken neue hinzugefügt hatte. Das nun ganz in großstädtischem Stil betriebene Heschlsche Geschäft hatte das Gersdorfer sche eben allmählich an die Wand gedrückt. Bloß ein kleiner Rest von Stammkunden war ihm treu geblieben. Die Stadtgemcinde, welche Heschl in jeder Weise entgegenkam, beolxichtcte Frau Gersdorfer gegenüber beständig eisige Ablehnung. So viel auch gebaut wurde, die Witwe Gersdorfer hatte seit dem Tode ihres Mannes keine einzige Lieferung mehr für die städtischen Bauten erkalten. Ferdinand glaubte es ja nicht, was man sich damals nach Gersdorfers und Hobingers Tod und dem kurz danach erfolgten Selbstmord des Stadtbaumeisters Merz, der sich in plötzlicher Geistesverwirrung erhängt haben sollte.'zuraunte: daß alle drei bei den Liefermugsgeschäften die Stadt betrogen haben sollten, und nur durch den Tod schmachvollen Prozeßen entronnen waren. . Aber der Bürgermeister glaubte es offenbar und ließ es nun die Witwen entgelten. Eigentlich nur die eine. Denn Frau Merz war desbalb längst von Schlohstädt fortgezogcn und Frau Hobinger war ihrem Gatten ein Jahr später »ach kurzer Krank, heit in den Tod gefolgt. Auch sie hatte Schlohstädt freiwillig vcr. lassen wollen und die Koffer standen bereits gepackt, da kmn ganz unerwartet plötzlich der junge Wilhelm Jobst und hielt um Thildvs Hand an. Es hieß, daß er sich Thildas wegen mit seiner Mutter entzweit habe, aber zum erstenmal im Leben blieb er eisenfcst ihr gegenüber: „Ich habe Thilda immer aer« gehabt und lasse jetzt erst recht nicht von ihr! Sie wird meine Frau — basta!" Nun stand Frau Thilda schon anderthalb Jahre neben dem hühnenkaften, jetzt immer zufrieden schmunzelnden Platten ir Jobsts Wcinhandlnng und zog die Kunden an durch ihr tempera mentvolles Geplauder und half das Geschäft zu ungeahnte? Blüte bringen. -- An Annchen Halle sie einmal geschrieben: „Ich muß der Alten doch zeigen, daß Will auch äußerlich nickt schlecht fuhr mit mir — trotzdem ich Hobinger hieß! Denn das batte sie zuletzt am leidenschaftlichsten gegen mich geltend gemacht. Aber Will ließ sich nichts cinrcdcn. sind gerade an dein Tag. da du da mals von Schlokstädt wegfuhrst, lauerte er mir unten aus und führte mich nach der Promenade am Waldevitzertor, wo zur Winterszeit nie jemand geht, und da sprachen wir uns a>?...* Frme GerSdorsiw war heute neck verdrossener als sonst die Treppe zu ihrer Woknnng hinansizestiegcn. Am Morgen war ikr eine Hvpotbck gekündigt worden und am Nachmittage batte sie vom Bürgermeisteramt die Verständigung erkalten, daß dis Stad'gemcinde den ikr seit Jakren kostenlos überlassene» Lager platz für Holz fortan leibst benötige, cr daher binnen vier Woche» von ikr zu räumen sei. llneriräalich diese ewigen Schikanen Dr. Eckings. Denn natürlich steckte nur cr wieder kinter diesem Beschluß. Wohin nun mit dem Holz? lind Kinnen vier V»be»l Das Kietz ver schleudern mü.nen und daran zr-rnnde neben. Dabei war der von ihrem Manne seinerzeit begonnene, von ihr nach seinem Tode verarößerte Holzhandel noch das einzige, woran man verdienen konnte. Das wußte der Bürgermeister offenbar oder akute eS. Aber alle? brauchte sie sich dock, auch nicht bieten zu lassen! Gleich morgen krük wollte sie lick bei ikm beschweren. Der Lagerplatz war Gersdorfer seinerzeit durch Stadchatsbescbluß überlaßen worden und der Bürgermeister konnte unmöglich das Recht Koben, diese Verfügung eigenmächtig ausznbcben. Dieser Ansicht war zwar auch Ferdinand, dem sic die Sache jetzt mitteilte, während beide das Wohnzimmer betraten, wo sie bereits der gedeckte Tisch erwartete. Aber im stillen erkofste cr wenig von den, beabsichtigten Protest beim Büraermeister. Daß er der Fra» Gersdorfer nickt woklwollte, war ja klar und dar um würde er auch nickt nachgeben. Auf den, Tisch stand heute ein steif gebundener Strauß von Pfingstrosen und Goldlack. Daneben ein überzuckerter Ro, sinenknchen. Nickstig — ihr vieburtstag. Den hatte sie ganz vergessen. Früher, als sie noch nicht so trostlos vereinsamt, war das immer ein Festtag im Hause gewesen. Aber jetzt . . . Fortsetzung kolgt. ädeLkenpseiÄHeAi
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