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Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit «nit Utit«vhaltr»i,A»b«ilage Vie illustrierte Zeit und Sonntagsbeilage Feierabend > »M GeschUNanjefa!» bt» >» *«» I ««N Mk N» »0 4 Sr0a»«t»« «» Ä > ' MchttaleU de» Lute» ntcht übrrnihmra. , «edaMon».edr-chftimd»: L0 dlt >» Kik Rückgabe etngelalldter SLrIMücke macht sich die RldaMm» nicht deSindlich: «ÜMmduua erlolgt. wem, «L-N>ort°»»t.I sesügt tp. «rieftchea «Äraaea ist «üL»ort»port, LeiMsüae».> Nr. 137 Geschäftsstelle und Redaktion DresdeN'A. 16, Holbeinstrahe 46 Donnerstag den 18. Juni 1914 Fernsprecher 21366 13. Jahrg Ferien im preußischen Landing Me sommerliche Hitze treibt jetzt auch die Mitglieder oer preußischen Häuser der Herren und der Abgeordneten in kihle Sommerfrischen, und nach des Jahres Last und Arbeit haben die meisten berufenen und gewählten Vertreter des preußischen Volks die Monate der Erholungsruhe auch red lich verdient. Sie kehren allerings nicht mit viel neuen Gesetzen bepackt nach Hause zurück, aber die parlamentarische Arbeit, die seit dem 8. Januar im preußischen Landtage ge leistet worden ist, war doch immerhin reichlich bemessen. In der an diesem Tag vom Ministerpräsidenten verlesenen Thronrede waren eine Veamtenbesoldungsnovelle, ein Eisenbahnanleihegcsetz, eine Novelle zum Landes- verwaltungsgcsetz, ein Kommunalabgabengesetz, ein Fidci- komißgesetz und ein Grundteilnngsgesetz angekündigt wor den, und alle diese Gesetze sind bereits teils verabschiedet, teils rüstig gefördert worden. Die Beamtenbesoldungs- Vorlage ist in der Negiernngsfassnug angenommen worden, obwohl die Parteien gleich wie im Reichstag nicht umhin konnten, ernste Kritik an den Mängeln dieser Vorlage zu üben und darum in einer Resolution die bestimmte Er- Wartung aussprachen, daß die Staatsregierung in Bälde die noch vorhandenen Lücken und die Unebenheiten der preu ßischen Besoldungsordnung ausfüllen und ausglcichen werde. Die meisten übrigen Gesetze, die dem Landtage vor- gelegt worden sind, stecken noch in den Kommissionen, und auch den Sommer hindurch soll dort an ihnen weiter ge- arbeitet und beraten werden. Erledigt sind aber auch mehrere Eingemeindungsvorlagen, z. B. die Kölner und die Dortmunder, ferner das Moorschutz- und das Aiisgrabungs- gesetz, die Beamten der öffentlichen Krankenkassen sind dem Disziplinargesetz der mittleren Staatsbeamten unterstellt, und den Gerichtsschreibern ist die Befugnis gegeben wor den, Unterschriften öffentlich zu beglaubigen. Die Etats beratungen boten im allgemeinen das herkömmliche Bild: es wurde über recht vieles recht lang gesprochen, was zur Folge hatte, daß die diesjährigen Etatsbcratuugen die früheren an Länge und Dauer ganz erheblich übertrumpft haben. Daß daran die Herren aus der roten Ecke, die iin Abgeordnctenhause jetzt um etliche Köpfe zugenommen haben, in erster Linie beteiligt sind, bedarf keiner beson deren Hervorhebung: mit Grausen erinnert man sich der siebenstündigen Rede, die Genosse Hoffmann vor einigen Monaten dort gehalten hat. Bei der Beratung des Etats des Innern nahmen besonders die Erörterungen über den Arbcitswilligenschutz und die Arbeitsloscnfürsorgc das Interesse weiterer Kreise in Anspruch: bei den meisten Par teien ist aber das soziale Verständnis zu lebendig, als daß sie den Wünschen der Konservativen hinsichtlich einer strengeren Gesetzgebung gegen Streikende nachzukommen geneigt wären. Daß die preußische Ostmarkenpolitik auch Heuer wenn anch nicht an Erfolgen, so doch an 100 Millionen aus den Taschen der Steuerzahler reicher geworden ist, ist eigentlich nichts Neues mehr, haben doch die Preußen bis lang schon eine Milliarde für die verfehlte preußische Polen politik zahlen müssen. Beim Handels- und Gewerbcctat wurde bereits recht lebhaft über die Erneuerung der Han delsverträge gesprochen, wobei das entschiedene Eintreten des nationalliberalen Redners für die Aufrechterhaltung unserer Zoll- und Wirtschaftspolitik besondere Beachtung fand. Bei dieser Gelegenheit suchten die bürgerlichen Par teien sich überhaupt wieder etwas näher zu kommen, aber die gut gemeinten Versuche scheinen dann an einer nicht zu verwindenden Zcntrumsscheu der Nationalliberalen ge scheitert zu sein. Die Kultusdebatten waren wieder äußerst lebhaft und bedeutsam. Kulturkämpferei wurde eigentlich nur noch von nationalliberaler Seite getrieben, vor allem bei der Beratung der vom Zentrum gestellten Ordens anträge, wonach die Krankenpflege der katholischen Orden von allen staatlichen Einschränkungen in derselben Weise wie die anderer Vereinigungen befreit und alle katholischen Ordensniederlassungen, die zurzeit noch keine Korporations rechte besitzen, mit Rechtsfähigkeit ausgestattet werden sollten. Alle Parteien erkannten die Berechtigung dieser Anträge an mit Ausnahme der Nationalliberalen, an deren Seite sich die preußische Negierung stellte. Der Zentrums antrag, betreffend die geistliche Schulaufsicht, fand nur bei den Polen Unterstützung. Einen ausgedehnten Raum nahm in den Kultusdebatten die Erörterung der staatlichen Jugendpflege ein, wobei trotz oder gerade wegen der glän zenden Erfolge, die unsere Jugendbewegung aufzuweisen hat, ernstlich betont wurde, daß die Jugendpflege sich nicht allein in der körperlichen Ertüchtigung unserer Jugend er schöpfen dürfe. Bei der dritten Etatsberatung stellte sich der neue Minister des Innern, Herr v. Loebcll, dem Abgeord netenhaus? vor und enttäuschte gleich bei seinem ersten Auf treten die von den Liberalen ans ihn gesetzten Hoffnungen, denn er machte eine recht tiefe Verbengnng vor den konser vativen Parteien und lehnte es ab, als Minister der Wahl- reform gepriesen zu werden. Bedeutsam war aber doch die Versicherung des neuen Ministers, daß sein Streben bei einer etwaigen Wahlreform in Preußen dahin gehen werde, dem Mittelstand zu einer besseren Vertretung seiner Inter essen zu verhelfen. Noch etwas konservativer als im Abge ordnetenhause zeigte sich Herr v. Loebell im Herrenhause, das in diesem Jahr etwas gar zu deutlich das sonst ganz gute und gesunde retardierende Moment in der Gesetz gebung in Erscheinung treten ließ. In der Sozialgesetz gebung verlangten die Herren größere Mäßigung und ein langsameres Tempo, in der Prenßendebatte sprachen sic dem Preußischen Ministerpräsidenten als Reichskanzler ein ziem lich nnverbelltes Mißtrauensvotum aus, und bei den jüngsten .Kaiserhochdebatten glaubten sie ebenfalls der Reichsregiernng eine ernste Rüge aussprechen zu müssen. Wenn der Landtag im November wieder zusammenkommen wird, wird ihm schon ein tüchtiges Arbeitspensum von den Sommerkommissionen vorgelegt werden können, so daß es im nächsten Jahr vielleicht eher möglich sein wird, das Ab geordnetenhaus während der Zeit der Etatsberatung von gesetzgeberischen Arbeiten mehr zn entlasten. Deutsches Reich Dresden den 18. Juni 1914 — Zum Empfang des Königs von Sachsen fuhren dem Monarchen bis zur Grenze die ihm für die Dauer des Petersburger Aufenthaltes zugeteilten Offiziere General- adjutant Maximowitsch und Flügeladjutanten Swjetschin entgegen. — Der König von Bayer« hat dem LandtagSabgeord- neten und ZentrumSsührer Pichler den persönlichen Adel verliehen. — I« der Zweiten badischen Kammer erklärte der Minister des Innern von Bodman, daß die Regierung mit tunlichster Beschleunigung sich überzeugen wolle, ob sie die Mitwirkung Elsaß - Lothringens und der Schweiz bei dem Projekt der Schiffbarmachung des Rheins von Stratzburg nach Basel erlangen könne. Im Falle der Zustimmung wolle die Regierung sofort mit der Beratung des Projekts beginnen. Das Haus nahm die geforderte Position von insgesamt 40 000 M. einstimmig an. — Antrag gegen den Massenstreik. Die freikonser vative Fraktion des Abgeordnetenhauses hat folgenden An trag eingebracht: die Staatsregierung aufzufordern, gegen über den Beschlüssen der sozialdemokratischen Verbands- generalversammlnng zu Berlin vom 14. Juni 1014. welche ans Erzwingung des gleichen Wahlrechts für Preußen durch Vorbereitung des Massenstreiks und Sammlung eines Kampffonds gerichtet sind, alle zur Anfrechterhaltung der Autorität und der Sicherheit des Staates erforderlichen Maßregeln zu treffen. — Der internationale Pressekongreß in Kopenhagen beschäftigte sich in der geschäftlichen Sitzung mit der Frage der Schweigepflicht des Journalisten. Er nahm mit allen gegen drei Stimmen eine Resolution an, wonach die Prcsse- organisationcn der verschiedenen Länder durch das inter nationale Bureau von neuem aufgcfordert werden sollen, Eingaben an die Negierungen und die Parlamente zu richten wegen der Einführung von gesetzliclien Bestim mungen, wonach die Journalisten das Recht erhalten sollen, ihre Quellen geheim zu halten. Am Abend gab das Königs- Paar zu Ehren des Presse-Kongresses in Amalienborg eine Abendgesellschaft, wozu zirka 340 Einladungen ergangen waren. Die Majestäten unterhielten sich lebhaft mit den Delegierten der verschiedenen Länder. — Eine Gardinenpredigt des „Vorwärts". Daß auch Genosse Quessel in der Kaiserhochfrage seiner von der knappen Fraktionsniehrheit abweichenden Meinung Aus druck gegeben hat, bringt den „Vorwärts" in den Harnisch und erhält dem Genossen folgende liebenswürdige Stand pauke: Genosse Quessel kann es sich nicht versagen, z» den Aenßerungen der Genossen Heine und Edmund Fischer auch seinen Senf dazuzugeben — natürlich in den „Sozia- Wischen Monatsheften". Seine Ausführungen bieten selbst nichts Neues. Daß aber ein sozialdemokratischer Neichstagsabgeordneter just in dem Moment, wo die ganze reaktionäre Meute gegen die Partei losgelassen ist, nichts Beim Teüspiel in Oetigheim*) Plauderei von A. v. Fretdorf , Nachdruck verbolcn Willkommen Oetigheiml Da bin ich wieder zu deiner ersten diesjährigen Tellaufsührung, nachdem ich im vorigen Spätherbst bei der letzten Abschied von dir genommen! Da mals, wo im tiefen Dämmer der früh eintrctenden Nacht der weite Wald im Hintergründe magisch durchleuchtet war, die Gestalten immer schattenhafter erschienen und dann auf einmal die Freudenfeuer auf den Bergen erglühten, und heute ... es war ein Ausruf des Hellen Entzückens, mit dem ich durch die breite Pforte in den Zuschauerraum trat und diese wunderbare Szenerie wieder vor mir sah: Dies mal vom ganzen Lenzzauber umstrahlt, der in üppiger Fülle bis in den tiefsten Waldhintergrund blühenden Akazien bäume, dazu ein Duft, so süß und betäubend, als wäre man in den Orient versetzt, wo ja auch der Blütenduft be rauschender sein soll, als bei uns. Ich sag' es ja: Octig- heim ist immer neu, so oft man kommt, ich habe noch jedes mal neue Eindrücke mitgenommen und mich an vorher nicht gesehenen erfreut. Und auf diesem bllltenweißen Hintergründe nun die lustigen bunten Gewänder, doch in so abgetönten Farben, nicht grell, nicht aufdringlich, stil- und stimmungsvoll zur Landschaft gehörend, keine Kostüme: es ist das Volk in seiner Tracht. Und nun die Spieler selbst, sie wachsen jedes Jahr mit ihrer Aufgabe, sie haben sich hineingelebt in *) Da» schmucke Dörfchen Oetigheim, dessen kunstsinniger Pfarrherr Saier ihm Ruf weit über die Grenzen Baden» hinaus verschaffte, liegt auf der Strecke (strategische Bahn) Karlsruhe- Röschwog r es hat eigene Bahnstation (unweit Karlsruhe oder Rastatt, von Baden-Baden in 20 Minuten erreichbar). Schillers Tell wird schon zum dritten Male als Freilichttheater, von nur Ortsbewohnern (ca. »00 Mitwirkende) aufgeführt, wozu auch der Festspielplatz sich tn idealer Weise eignet. Wer die badischen Lande mit ihren emzigarttgen landschaftlichen Schönheiten besucht, sollte ntcht an OKighetm vorübergehen. ihre Rollen: nicht nur die Darsteller der Hauptpersonen, nein: es ist besonders anziehend, auch so eine einzelne Figur aus dem nach Hunderten zählenden Volkshaufen ins Auge zu fassen, wie jede selbständig die Handlung belebt und mit erlebt. Und wie wunderbar wirken die Gesangseinlagen, die Gesamtchöre soivohl wie die Einzelgcsüngc der beiden Fischerknaben, das klingt so goldenrein und trägt so klar durch den freien Raum, daß kein Konzertsaal eine bessere Akustik haben kann Ja, jedesmal wird man wieder durch eine neue Einlage überrascht. Es ist wohl immer in seinen großen Hauptzügen der Teil, aber, wie im Leben des Volkes kein Tag dem anderen gleicht, so ist es auch hier: während Stauffacher mit seinem Weib unter dem Lindenbauin die tiefernste Zwiesprache hält, spielen dort fern im Torfe die Kinder vor der Haustür, der Schmied dengelt seine Sense und all das Volksleben geht fernab hinter den Bäumen weiter, ohne daß es stört. Man sieht eben kein Schauspiel, man ist um ein paar Jahrhunderte verjüngt, ist in der Schweiz selbst und erlebt mit ein Stück seiner Geschichte. Da steckt eben ein gar geschickter Regisseur dahinter, und daß man ihn so ganz und gar vergißt und meint, es ergebe sich das alles ganz natürlich von selbst, das eben ist seine große Kunst! Doch wenn wir von Kunst reden, so darf eben auch nicht vergessen werden, wie bei der ganzen weiten Szenerie Kunst und Natur unbemerkbar in einander übergehen, wie die Alpen sich heben aus dem dichten lebenden Waldgebüsch, wie die Schmetterlinge fliegen über den vom Wind beweg ten Blumen, wie in den fernverklingenden Orgelton eine Amsel ihr Lied schmettert vom hohen Ast, daß auch ihr im nächsten Augenblick ein Heller Applaus werden muß. Der Himmel hat ja zu der diesjährigen Erstaufführung gerade kein sonniges Gesicht gemacht, im Gegenteil, er hat sogar die ursprüngliche Tellinszeniernng insofern wieder Herstellen wollen, daß er durch einige dichte Regenvorhänge Aktschlüsse herbeizuführen beabsichtigte, aber die wackeren Spieler ließen sich nicht aus der Fassung bringen. Es war auch rücksichtsvoll vom Regen, daß er den ersten kübelartigen Gruß verabfolgte, als die Szene und Dach und Fach in Stauffachers Haus spielte, während die Deckung des Zu- schnncrraiinis sich vollkommen bewährte. Aber der zweite, noch ergiebigere Regenschauer erfolgte, da AttinghanS sei nen Knechten den Frühtrnnk kredenzt und die lang sich hin ziehende Zwiesprache mit Nudenz hat. die ans der Stadt bühne sich ja auch im Burggeniach abspielt, hier aber im Burghof vor sich geht. Die Knechte waren lange geborgen, nur noch der alte Freiherr und sein Neffe trotzten in größter Selbstverleugnung dem Unwetter, obgleich hinter ihnen das Burgziminer offen stand und eine Stufentreppe von außen hinaufführte, bis von den obersten Reiben der geschützten Zuschauerplätze eine Stimme herunterrief: „So ganget doch ins Stüble!" Und ein allgemeiner fröhlich lachender Applaus der Erleichterung erfolgte, als die schon ganz Durchnäßten dieser wohlgemeinten Mahnung schleunigst, aber doch mit Würde Folge leisteten. Der Regen hatte nur einen Beweis liefern wollen, daß in Oetigheim unter allen Umständen gespielt wird, man sich also nicht durch einen etwas trüben Vormittag vom Be such abhalten lassen soll. Nachdem er diese Reklainepslicht erfüllt hatte, wurde er bescheiden, man merkte ihn schier gar nicht mehr, nur nn See sah es reizend ans, wie die glitzern den Tropfen von den überdüngenden Aesten niedersielen und im Aufspringen mit den hereingefallencn Weißen Blüten spielten. Immer von neuem unterbrach nun der einsetzende Beifallssturm das Spiel bis zum glücklich-m Ende und als der Schlußreigcn unter dem Zeichen der Akazienblüte von den bekränzten Maidlis geschwungen und gesungen war und von allen Höhen die Fähnchen flatterten, da dachte im Heimgehen niemand mehr an den Regen, sondern alles nur an den unvergeßlichen Kunst- und Naturgenuß, den diese MaisonntagSnachiuittagsstnnden ge bracht hatten.