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Zweites Blatt Sächsische Volkszeitung vom 17. April 1907 Nr. 87 Streik und Aussperrung. Je mehr sich die Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gerade gegenwärtig verschärfen und die Äusstände und Aussperrungen infolge der gesteigerten Solidarität der beteiligten Klassen an Umfang und Gefahr für die Lcffentlichkeit zunehmen, um so mehr wendet sich unser Interesse dem Problem zu, wie an Stelle dieses tiefe Wunden sckstagenden beiderseitigen Kampfes etlvas Besse res, Friedliches zu setzen sei. Der Sozialpolitiker und Na tionalökonom hat so gut wie nichts zur Verfügung, das vier zum Muster dienen könnte. Die Zentrumsprefse lveist auf einige Versuche hin, die von einzelnen australischen Ko- lonien zur Schlichtung gerverblicher Streitigkeiten gemacht wurden. Wir wollen auf diese hier näher eingehen. Tie Experimente kamen in Australien nach dein gra sten Streik des Jahres 1890, der ganz Australien ersch-üt- terte, eine sckowere Krise brachste und mit einem Sieg der Arbeitgeber schloß- Die Gciverkschasten tvaren finanziell ruiniert, für die Arbeiter war nicht nur nichts erreickst, son dern an Stelle der allgemeinen Prosperität eine schvere De pression getreten. Das Parteiprogramm der unterlegenen Gewerkschaftler rvar ein sozialistisches gewesen mit kollek- tivistnck-ei: Forderungen. Ter Mißerfolg bildete nun die Veranlassung, daß die letzteren fallen gelassen oder nur pro kormu an untergeordneter Stelle mitgeführt wurden. Selbstverständlich gibt es auch in Australien trotzdem „Ziel bewußte", aber das Gros der Arbeiterschaft verhält sich ab lehnend gegenüber diesem Doktrinarismus, der unfrucht bar bleibt, keine Vertretung im Parlamente hat und im Lande selbst als Anarchismus verschrieen ist. In Neusee land haben die Arbeiter sich an das sozialpolitisch denkende Bürgertum angeschlossen und auf dem Gebiete der Entschei dung getverblicher Streitigkeiten eine staatliche Interven tion eiivirkt, die wesentlich zu ihren gunften den Grundsatz des freien Arbeitsvertrages aufhebt und an seine Stelle das Prinzip den Unterordnung aller Arbeitsbedingungen unter den Gesichtspunkt administrativen Ermessens setzt. Die Institution wird „Coinpulsory arbitration" zwangs weise Entscheidung geiwerblick-er und industrieller Streitig keiten genannt. Im Jahre 1894 nahm das Parlament von Neuseeland mit den Stimmen der Gewerkschaftler ein sol- ckies Gesetz an, die anderen Kolonien folgten, 1901 unter anderein NeusüdNnles, das Streik und Allssperrung direkt unter die von staatsivegen zu verfolgenden Verbrechen stellte. Im Jabro 190-1 machte der Bund der australischen Staaten Gebrauch von seiner verfassungsmäßigen Kompe tenz. ein Bundesschiedsgericht zu errichten für Streiks und Aussperrungen, die über die Grenzen einer einzelnen Ko lonie hinauslaufen sollten. Was nun die «Organisation der „Eompnlsory arditra- rion" anlangt, so steht in ihrem Mittelpunkte ein von einem NUtgliede des obersten Landesgerichts geleiteter Schieds- bof, dem je ein Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitneh mer bcigcgeben ist. Alle drei Mitglieder werden vom Gou verneur' der Kolonie, das heißt tatsächlich vom parlamenta rischen Ministerium ernannt, und zwar die Vertreter der Parteien auf Vorschlag der Unternehuierverbände und Ge- werksch-aften. Macht ein Teil keinen Gebrauch von dein Vor- sckstagsrecht, so ernennt der Gouverneur den betreffenden Vertreter. Das so gebildete Gericht entscheidet erstinstanz lich und ohne Berufuugsrecht. Es hat die Befugnisse eines ordentlichen Gerichtes, zitiert Zeugen, läßt sich Geschäfts bücher vorlegen, nimmt Augenschein in den Fabriken usw. In Neuslldwales kann keine gewerbliche Streitigkeit dein Schiedshof entzogen werden, in anderen Kolonien ist die Verhandlung abhängig vom guten Villen der Arbeiter, da eine Nichteintragung ihrer Geiverkschaft sie von der „Com pulsory arbitration" befreit. Die Kompetenz der Schiedsgerichte, welche natürlich Arbeiterverbänden einen Vorzug gegenüber Nichtorganisier ten Arbeitern geben müssen — weil rechtlich das System der Zwangsschiedsgerichte auf Verbänden und nicht auf Individuen beruht — hat sich durch die Auslegung seitens der Gerichte und durch die neueren Gesetze immer mehr er- tveitert. Ter Begriff „industriell" bedeutet nicht nur Unter nehmungen zur Gewinnung von Urprodukten und zur Her stellung von Fabrikaten, sondern auch die Transportgeiverbe fallen darunter und sogar Handelsgefck-äfte unterstehen dein Gesetz in gewissem Umfange; Neuseeland nimmt sogar Lohnarbeit in jeder Form unter den Zwang des Gerichtes. Auch der Begriff „Streitigkeit" ist sehr weitherzig ansge legt: Minimallolm, Lohn für beschränkte Arbeitsfähigkeit. Fabrikdisziplin, Ueberstunden, Lehrlingszahl — aill da? wird gerichtlich entschieden. Lohndrückereien durch Nicht organisierte sind ausgeschlossen, da sie unter den ge setz licken Minimallohn nicht herabkönnen. Das Schiedsurteil gilt für die ganze Branche des Jndustriebezirkes, bis ein neues Urteil erfolgt. .Hauptzweck der Schiedsgesetzgebung ist ja, Stabilität in die Arbeitsverhältnisse zu bringen und die Beziehungen von Unternehmern und Arbeitern dauernd zu beherrschen. Geldbußen bis zu 20 000 Mark für den Unter nehmer und 250 Mark für den einzelnen Arbeiter, even tuell und im Wiederholungsfälle Gefängnis garantieren den Vollzug der Urteile. Freilich dürfen die sehr guten wirtschaftlichen Verhält nisse Australiens jetzt nickst ausschließlich ans das Konto der Zndgsschiedsgerickste gesetzt und daraus Schlüsse allzu günstiger Art gesetzt werden. Die Urteile, welche den Ar beitern beträchtliche Verbesserungen gebracht haben, werden auch von den Unternehmern nicht kritisiert. Dieser Um stand ist ein Beweis dafür, daß die dem Schiedssystem an haftenden Schwierigkeiten nickst unüberwindlich sind. Eben so ist kaum zweifelhaft, daß in Zeiten steigender Konjnnttnr die Schiedshöfe Störungen der industriellen Entwickelung durch Streiks und Aussperrungen ziemlich vollständig ver hindern können. Unsere sozialpolitischen Führer werden sich fragen müssen, ob Las Schiedssystem. mit den ihn: an haftenden Mängeln und den Varianten, die seine Anwen dung in einem andersgestalteten Staatsgebiete erfordert, vielleicht das kleinere von mehreren Uebeln ist, und wenn dies der Fall iväre, hätten alle Freunde des sozialen Frie dens ein eminentes Interesse daran, das australische Bei spiel in den Details, deren Wiedergabe wir uns nicht ge statten können, zu studieren. Wenn man sielst, wie Streik und Aussperrung zu zwei Drack-engestalten getvorden sin-, die Wohlstand und Frieden vernichten, sucht der Blick nach einem Hilfsmittel. Er fand es nicht, regt aber vielleicht zu »weiterem, ergebnisreichem Suchen an. Psltttsche R«udscha». (Fortsetzung au» dem Hauptblatt.» — Zur Neueintcilung der Reichstagswahlkrcise erhebt der „Vonvärts" die Frage: „Wie verteilten sich die zircka Millionen Wähler, die bei der letzten Wahl in die Wählerlisten eingetragen tvaren, auf die Wahlkreise, die Sozialdemoraten, Konservative, Nationalliberale, Frei sinnige, Zentrnmsabgeordnete usw. nach dem Reichstage entsandt haben?" Tie nack-stehende Tabelle gibt darüber Aufschluß. Man ersieht daraus, wie sich die Gesamtzahl der Wahlberechtigten auf die von den versck-iedenen Parteien vertretenen Wahlkreise verteilt und ebenso wie sich die Zahl dieser Wahlberechtigten in den einzelnen Kreisen zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten verl-ält. Weiter ersieht inan die Zahl der Abgeordneten, die die einzelnen Parteien stellen und welck-en Prozentsatz diese zur Gesamtzahl der Abgeordneten liefern. Enkstich ist noch angegeben, wieviel Wahlberechtigte im Turck-schnitt auf einen sozialdemo kratisch freisinnig-nationalliberal usw. vertretenen Wahl kreis entfallen. Parlciüellung der gnkl der Vre,ent Ziilil der Pro,e»t Wabl der N>nvldeiechl. nlter Snt>l '.1V der'.ld- Otlhler «u. Abgeordneten i» den delr. dcreaitig gevrd- geerd- eine» Ab ÄnvIlreNen teil neten »eten geordneten Sozialdemokraten 2 917 UNO 22.1 43 11.0 6» 020 Zentrum .9,10 153 23 5 105 26.9 29 630 Naüonalliberale 1 713 904 ,3.0 50 14 3 30 605 Konscrvalinc 1 018 2:», 12 2 03 10.1 25 686 Freis. Volkspartei 99!» 129 7.5 28 7.1 35 683 Reichsparni 0,9-19l 4.9 24 0.1 27 062 Polen 024 254 8.7 20 k',1 31212 Winsch. Vereinig. 54'. 009 4.1 20 5,1 27 280 Freu. Vereinigung 55» 5,7 '2 0 14 3 25 108 Deutsche Volkspart. 240 590 1.8 7 1.7 35 228 Elsässer 201 889 I 7 9 2.3 25 705 Antisemiten 1517,0 1.' 0 1.5 25 785 Dänen 19 698 O.I I 0.2 19 098 — Die Abneigung gegen sogenannte wilde Streiks ge winnt in gewerkschaftlichen Kreisen immer mehr an Boden. Tie Zahl der Kundgebungen genarksckastlicher Organe, die zur Besonnenheit bei der Erhebung von Forderungen und bei Lohnbewegungen raten, hat sich neuerdings wieder ge mehrt. So schreibt der „Steinarbeiter": „Vor allen Dingen sollten die Kollegen aber die Bestimmungen des Statuts über die Inszenierungen von Lohnbewegungen beherzigen. Leider »nacht sich hier häufig eine krasse Unkenntnis auch der elementarsten Begriffe geltend. Ties hat sich im Laufe des verflossenen Jahres wiederholt gezeigt. Gerade die Be wegungen, die gegen die Bestimmungen des Statuts einge leitet wurden, bilden das traurigste Kapitel unserer Jahres berichte. Das sollten sich alle jene .Heißsporne, die sich mit Vorliebe bei Bewegungen über das Statut hinwegsetzen, be sonders merken. Nickst darin besteht das Wesen der Denw- kratie, daß eine Versammlung, deren Zusammensetzung zu fällig ist, die häufig zum Ztvecke der Tnrchdrückilng irgend- — 44 - Dem alten Fischer aber rief eine innere Stimme zu: „T-ies ist der Augenblick der Abrechnung! Das Blut, das du rinnen iahst, sck-reit zum Himmel um Rache." KÄthchen hatte ihre Mutter entkleidet und aufs Lager gebracht. Die Gräfin hatte sich ztvar nach dem Vlutfturz ein wenig erholt, indessen nab sie sich über ihrem Zustand keiner Täuschung hin: sie wußte, daß ihre Lebensuhr abgelaufen N>ar und daß sie hier an der Stätte, wo sie gekämpft und gelitten, auch ihre Augen zum letzten Schlummer schließen werde. Gregor Targen und Kühnappel hatten die Hütte verlassen und ihren Schritt nach der „Dünenschcnke" gelenkt. — Sie wußten auch, daß der Tod Einkehr halten »werde im Hans, um eine Dulderin von allein Erdenleid zu erlösen und sie sagten sich, daß es für sie besser getan sei, »wenn sic den» ernsten Akt ans dem Wege gingen und jenen Ort anfsuchten. »wo sie Gelegenheit fanden, die Vorwürfe ihres Innern in Branntwein zu ersticken. Käthchen l-atte allerlei Hausmittel hervorgesucht und sie der Kranken gereicht, in der gewissen Hoffnung, daß es ihr gelingen »werde, das teure Leben der geliebten Mutter zu erhalten. So nahte Mitternacht heran. Die Leidende fühlte sich jetzt verhältnismäßig wohl, und auch sie begann wieder zu hoffen; als plötzlich ein erneuter heftiger Blutsturz eintrat, der jede Hoffnung illusorisch machte. Ein Ohnmackstsanfall folgte alsbald, und als die Kranke wieder zu sich kam, da »rar ihr Lebenslicht schon nahe den» Erlöschen. „Mein Kind, ich sterbe." sagte sie mit matter Stimme, „und überlasse lich den» Schutze des Allgütigei», der dir ein liebevoller Vater, Helfer und Beistand in der Not sein wird." Das unglückliche Mädchen »war vor dem Lager auf die Knie gesunken und bedeckte die schon erkaltende Rechte der Sterbenden mit Küssen und Tränen. „Verlaß mich nicht, geliebte Mutter!" sck-lnchzte sie mit herzerschüttern den» Flehen. „Nimm mich mit — laß nrich nickst allein hier — in dieser argen, trübsalsvollen WeltI" — Zwei große Träircn rollten an den bleichen, eingefallenen Wangen der Sterbeirden herab. Es war das letzte Opfer mütterlicher Liebe und Treue — ein schmerz liches Opfer dcS brechenden Mutterherzens, den» die bittere Sorge um das verlassene Kind die letzte, schwerste Erdenqual bereitete. Plötzlich zuckte es »vie ein Strahl der Verklärung über die Züge der Dali ege»» den. „Käthchen," sagte sie mit dem letzten Aufgebot ihrer Kraft, „sei getrost, mein Käthchen; denn vom Himmel habe ich die Offenbarung: Du — du wirst — deinen Vater Wiedersehen!" Prophetische Worte waren es, in denen das treue Mutterherz seine letzte Kraft erschöpfte. Noch ein letzter, tiefer Atemzug, ein leises Röcheln, noch ein schwaches Dehnen der Glieder — die Dulderin hatte ausgelitten. Käthchen war von den Knicei» aufgesprungen. — 41 - „Gut gesprock-en, mein Sohn!" rief Gregor Dargen heiter. „Gleich nach den» Abendessen nimmst erst die Käthe bei der Hand und richtest an sic die Frage, ob sie dich mag. Tann wendest dich an die Mutter und bittest sie um die Hand ihrer Tochter. Wie der Bescheid hier und dort anssallen wird, deine Werbung wirst du bei den richtigen Adressen angebracht haben und »vir können dann die »»»eitere Entwickelung der Tinge abivarten." Damit verließe»» beide den Schuppen und begaben sich ins Hans. Noch waren ihre Tritte nicht verhallt, als es sich hinter dem Bretter- verschlage zu regen begann, Käthchens Mutter trat hervor. Ihr Gesicht Nx»r erdfahl, ihr Blick schien erloschen. Tie unglückliche Frau war Ohrcnzengc der ganzen Unterhaltung der zwei Schurken getvesen, und jedes Wort, das sie vernommen, hatte »vie ein Dolck-stoß ihr Herz getroffen. Als sie nun ins Freie trat, da flog ihr Blick empor zmn Himmel, an dein eben die Sterne mit ihrem ewig neuen Glanz hervortraten. „Tank dir, Allgütiger, herzinnigen Tank, daß du mir in dieser Stimde Dinge offenbart last, deren Kenntnis nengeftaltend in das Sck-icksal meines geliebte»» Kindes eingreisen wird!" Unter einem tiefen Atemzug hob und senkte sich ihr Busen, als sie fetzt mit festem Schritt von der Hinterseite das Haus betrat. Ihr Herz war gebrochen; aber ein großer, fester Entschluß hielt sie noch anfrecht, gab ihr Mut und Kraft, den» Schicksal, das sie einem beispiellos großen Unglück in die Arme geschleudert, kühn entgegenzutreten, um, »venn auch nicht für sich, so doch für ihre Tochter, die entrissenen Güter ihres ver- lorener» Lebens zu retten. 8. Kapitel. Ein Augenblick der Abrechnung. Während Gregor und Fritz ihr Abendessen unter heiterem Geplauder verzehrten, trat Käthchens Mutter ans der Kammer in die Stube und Uetz sich ans ihre», unweit des Fensters befindliche»» Sessel nieder. Sie stützte das Haupt in die Hand und überlietz sich den düsteren Ge- »walten, die ihr Inneres durckstobten. Ihr war es zu Mute »vie jemand, der von den» Furchtbaren, das er irgendwo erlebt hat, sich keine Nechensckxfft zu geben vermag, ob er es in Wirk- lichkeit »vahrgenomnnui, oder ob er davon nur geträumt l-abe. Mar es denn überhaupt möglich, daß ein Mensch den anderen in solcher Weise betrügen konnte, wie dieser Gregor Dargcn es mit ihr getan hatteI Ihr geliebter Gatte war also damals nickst tot — nein, er lebte, er empfand Sehnsucht nach ihr, nach seinem Kinde, er tnig ein heißes Verlangen danach. Gattin und Töcksterchen in seine Arme zu sckstießen! Und Gregor, dieser Teufel in Menschengestalt, er ge»»>ann es über sein Herz, drei dnrck» das heilige Band der Liede verbundene Menschen »in» ihr schönes, süßes Erdcnglück zu betrüge,». Von seiner Leidenschaft verblendet, wurde dieser Mann, den sic damals als einen Rechtschaffenen geachtet, zum Lügner und Betrüger, der die ge- heiligten Gattennechte des durch daS El>csakrament verbundenen Paares »nit Füßen trat, und der sich kein Gewissen daraus machte, das Kind dieses El-e- paares zu enterben, es dem Elend eines mühsalvollen Daseins preiszugeben. »DaS Dteinkreuz am Ostseestrande. 11