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Nr. VS — 1«. Jahrgang DienStag den SS. April 1011 MchslscheNolkszelllMg Erscheint täglich nachm, mit Ausnahme der Sonn« und Festtage. Ausgabe ^ mit .Die Zeit in Wort und Bild» vierteisLbrlich A In Dresden durch Boten 2,4<» In ganz Deutschland >e, Hau» SS« 4»! in Oesterreich 4.4» L Aasgabe » ohne illustrierte Beilage viertelsShrlich I.ts« U Dresden durch Boten »,IV 4k hn ganz Deutschland ftet Hau» »,S» 4k ^ in Oesterreich 4,v» L — Einzel-Nr. Iv 4 Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die Ngelpnltene Petitzcile oder deren Raum mit ^5 4. ReNamen mit St» 4 die Zeile berechne», bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt «„»druckeret, Redaktion und Geschäftsstelle, Dresden, Pilluttzer Etrafte 4». - Fernsprecher I»«« SürRtickgabr unverlangt, echriftstiicke keine «»rbtndltchkett RedaltionS Sprechstundc: I I btS IS Uhr. Irotr noch nie äagecc-esener Knttoe - ^euerunx kostet unser be liebter, vorrüxlicker k^arnilien-Kafkee nur ISO Pf. ilss pkuncl. kerliox 8 kaclistroli, kresileii. dlisäerlsgen in allen Stadtteilen. Die Geschichte von den großen und den kleinen Dieben erlebt in Frankreich eine Neuauflage. Die großen Diebe läßt man laufen, die kleinen hängt man auf. Das ganze 20. Jahrhundert ist in Frankreich eine große Diebstahls geschichte: das ist kein Wort zu viel gesagt. Mit dem Ver mögen der Klöster fing man an, heute werden den Eham- pagncrfabrikanten die Schlösser angezündet und rund -1 Millionen Flaschen köstlichen Sektes zertrümmert. Was dazwischen liegt, ist ungemein reich an Schwindel und Diebstahlsgeschichten/ Aber das schlechte Beispiel von oben muß solche Wellen werfen und den gesunden Sinn des Volkes zerstören. Wer erinnert sich heute nicht an die Milliarde Mark, die aus den Klöstern geholt werden sollte, um den Arbeit u eine Altersversicherung zu geben? Man hat alles Ordens vermögen eingezogen, man setzte Liquidatoren ein und nun begann der Diebstahl on xro», genau ivie bei uns vor 100 Jahren in der Säkularisation. Statt eines Ueberschnsses mußte der Staat noch 6 Millionen Mark darauf bezahlen. Die Klöster wurden arm, aber.die Liquidatoren sehr reich-, die ganze Pariser Rechtsanwaltschaft, die zur Regierung hielt, hatte gute Tage. Dann ging man an das Kirchen vermögen selbst und zog es ein-, man verjagte den Bischof ans dem alten Palast, den Pfarrer aus dein Pfarrhaus und vielfach aus der Kirche. Wohin sind diese Gelder alle ge kommen? Diese Beispiele des Massendiebstahles waren das Sig nal für den einzelnen, um wieder den Staat zu bestehle», wo er konnte. Jeder Tag bringt uns ja neue Nachrichten über Betrug, Diebstahl usw. in den Ministerien. Ver- trauensmißbrauch, Veruntreuung oder Verschleuderung von Staatsgeldern und Nationaleigentum, Betrug und Gaunerei bei Ausbeutung der Dummheit und Eitelkeit der Nebenmenschen: alles das sind ja streng genommen keine politischen Angelegenheiten, aber werfen doch ein so eigen artiges Licht ans die Gesinnung gewisser Kreise in der Ge sellschaft der dritten Republik, daß wir uns diese Chädanne, Meulemans, Valensi, Elements etwas näher anschen müssen, selbstverständlich stets mit Berücksichtigung der Tatsache, daß die Genannten einstweilen nur Angeschnldigte, aber noch keine Verurteilten sind. Chädanne gilt als einer der hervorragendsten Archi tekten im heutigen Paris und gleichzeitig als ein so reicher Mann, daß man zunächst kein rechtes Motiv für die ihm zur Last gelegten Straftaten entdecken kann. Die eigentliche Veranlassung zur Verhaftung Ehädannes, der mit Hamon „zusammengearbeitet" haben soll, ist der Fall Dewambez. Dcwambez hatte den Auftrag erhalten, Malereien für die französische Botschaft in Wien zu liefern, die ihm 17 000 Franken bringen sollten. Er hat aber nur 7000 Franken lrhalten und sollte eine Quittung über 80 000 Franken aiisstellen. Dieser Fast ist typisch für die Art der Geschäfte, die die Hamon, Chädanne und Eompagnie machten, und er erklärt die Leidenschaft für fortwährende neue und mög lichst kostspielige Bauten, die oft keinen anderen Zweck hatten als den, die Taschen der Beteiligten auf Kosten des Staates zu füllen. Daß man sich zwischen diesen Geschäfts freunden nicht mit Kleinigkeiten abgab, zeigt die Tatsache, daß Chädanne seinem in Verlegenheit geratenen Freunde Hamon mit 28 000 Franken einmal ausgcholfen hat. Chä- dnnne war überall bekannt wegen der Kühnheit seiner Bau pläne. aber auch wegen der Kühnheit seiner Rechnungen. Die Neubauten der großen Warenhäuser „Galerie Lafette", die 8 Millionen kosteten, haben Ehädanne persönlich 600 000 Franken eingebracht. Hatte aber ein Mann mit so ge waltigen, ordnungsmäßigen Einnahmen nötig, noch gesetz widrigen kleinen Nebenverdienst zu suchen? Kanin. Auch der Vorwurf, daß er Gobelins des Staates im Werte von 8 Millionen für sich behalten haben soll, scheint auf einem Irrtum zu beruhen: wenigstens behaupten Chädannes Freunde, daß die Gobelins in Chädannes Besitz mit jenen Staatsgobclins gar nichts zu tun haben. Mit ganz anderen Leuten haben die Meulemans, Valensi, Elements zu tun. Meulemans ist, wie schon be merkt, Herausgeber der „Revue Diplomatique", Valensi ist Advokat und Elements ist Zollbeamter. Ihre Haupttätig- kcit soll aber der Handel mit Orden, Titeln. Ehrenämtern gewesen sein. Wenn etwas noch ver blüffender ist als die Unverschämtheit, mit der Valensi und Clementi ihrem Geschäft nachgingen, so ist cs die abgrund tiefe Dummheit ihrer Opfer, die diese phantastischen Titel und Orden mit schweren! Gelbe bezahlten. Valensi und Clementi hatten ihre Kunden überall, auch in Deutschland, ober nirgends konnten sie wirtschaften wie in der Republik der Egalitä, denn nirgends ist die Gier nach bunten Bän dern und Titeln so groß wie in der französischen Demo iratie. Ein Hauptartikel für die Herren war der Nickam Jstikhar-Ordcn. General Valensi, ein Verwandter des Advokaten, nimmt eine einflußreiche Stelle bei diesem Orden ein. Man handelte aber auch mit portugiesischen und amerikanischen Abzeichen, besorgte Konsulats- oder sonstige Titel von der lengendären Republik Counani, di da irgendwo zwischen Brasilien und Guyana liegt. Auch verschmähte man die akademischen Palmen nicht, erfand eigene Orden und Ehrenabzeichen. Das war ein be sonderes Gebiet für Elenienti, der in dem Stadtviertel von Clichy-Batignol eine beträchtliche Rolle spielte. Er bat da eine „Ligne hnmnnitnirc nationale" gegründet, die tatsächlich auch manche menschenfreundliche Tat auf ihr Konto soll schreiben können. Für Clementi war aber die Hauptsache der Eingang der Beiträge der verschiedenen Mitglieder und Ehrenmitglieder, die mit Diplomen und besonderen Ab zeichen eingefangen wurden. Cleinenti machte sich selbst ganz einfach znm Großmeister des Ordens vom Märite national, dessen violettes Band an die akademischen „Palmen" und die Rosette der Officiers de l'instrnction publique erinnerte und der zu Dutzenden verliehen wurde. — Am National feiertage wurden auch goldene Ehrcnpalmen, Abzeichen aus Silber, Bronze und „ehrenvolle Erwähnungen" ver teilt. Bei diesem Massenbetrieb konnte man sich mit ver hältnismäßig niedrigen Gebühren begnügen. Ter Tarif schwankte zwischen 200 und 3 Franken. Heute will nun kein Mensch diesen ganzen Humbug ernst genommen haben und die Elementischen Ordensritter wollen sich kaum besinnen, jemals diese Titel und Abzeichen vom violetten Bande nachgeprüft z» haben. Eine andere Frage ist, ob die sonstigen wirklichen Orden, die die Va lensi, Clementi!, Meulemans verliehen, sämtlich gefälscht waren oder ob sich da auch echte Orden darunter befanden, die sich die Herren auf rechtswidrige Weise zu verschaffen wußten. Man erzählt, daß auch hinter diesem Ordens skandal der Kleinen noch ein anderer Skandal lauert, der in politisch viel interessantere Kreise hineinreichen soll. In anderen Ministerien kracht es auch und man hat schon Untersnchniigskommissionen eingesetzt. Wir sind nicht überrascht von diesem Gang der Dinge. Wo die Religion ans dem öffentlichen Leben ausgeschaltet ist und wo sie auch im Privatleben keine Rolle spielt, da werden alle Fesseln der Selbstsucht gelöst, da muß es so kommen, da drückt sich jeder an den besten Platz an der gut gefüllten Staatskrippe. Das Strafgesetzbuch allein schützt nicht; man sucht vielmehr nur den alten Satz anzuwendcn: Laß dich nickst erwischen! Die großen Diebe machen den Diebstahl gesetzlich, um unaehin-ert ihre Taschen füllen zu können, die kleinen bleibe:, dann in den Maschen des Ge setzes hängen. So geht cs derzeit im Nachbarlande zu. Politische Rundschau. Dresden, den 24. «pcil 191 l. — Beförderung. D>r Geh. Reqiermigßrat und vor- tragende Rat im Neichsomt des Innern. Landtagsabg. Dr. Bönisch, ist zum Gcy. Oberregierungsrate ernannt worden. Herr Dr. Bönilch hat das Dezernat für land wirtschaftliche Fragen in dem genannten Reichsamte inne und war bekanntlich in hervorragendem Maße bei der Vorbereitung des neuen Zolltarife« beteiligt. Er gehölt der ZentrumSfroktion deS preußischen Abgeordnetenhauses an. — Vizeadmiral z. D. Franz Mensiug ist am Sonntag nach langem Leiden in Bad Nassau an dir Lahn sin 67. Lebensjahre gestorben. Durch seinen Tod verlleit die deutsche Marine einen ihrer ältesten und bekanntesten in aktiven Flaggoffiziere. — Die Füufzigjahrseier des Deutschen HaudelStageS findet vom 11.—Ist. Mai in Heidelberg statt Der Groß- Herzog von Baden hat seine Teilnahme zngesagt. Aus dem Kreise der Mitglieder des Deutschen Handelstages sind bis jetzt etwa 600 Teilnehmer gemeldet. — Eine vrrtraueuSkundgebuug für den Vorsitzenden des Evangelischen Bundes, Abg. Everling, beschloß der Gesamtvorstand des Evangelischen Bundes. — Der Parteitag der fortschrittlichen Volkspartei für den Wahlkreis DuiSburg-Oberhausen-Mülheim beschloß, da das nationalliberale Entgegenkommen ungenügend sei, selbständig vorzugehen und proklamierte die Kandidatur Dr. PotthoffS. Die Blocktheorte zwischen Nalionaliberal und Fortschritt bei Verteilung der Kandidaturen wird noch öfter durchbrochen werden. — Die „Nvrdd. Allgem. Ztg." zitiert in ihrem Rück blick einen Artikel des „Vorwärts", der sich mit dem Ein treten der englischen Sozialisten für eine genügend starke englische Flotte beschäftigt und schreibt dazu: „Zwischen einer solchen Auffassung der nationalen Lebensfragen und der Preisgabe der höchsten Interessen des Volkes durch die Sozialdemokratie in Deutschland klafft ein Abgrund, den keine Sophistik zu überbrücken ver mag. Der internationale Sozialismus wird von den Sozialisten Frankreichs und Englands nur soweit gepflegt, als er notwendig ist, um die Sozialdemokratie in Deutsch land in ihrem verräterischen Gebaren zu bestärken. In Wahrheit ist lediglich bei uns die Sozialdemokratie in ihrer Gesinnung international. Der Sozialismus in anderen Ländern verleugnet diese Gesinnung offen, in jedem Falle, in dein wirkliche Interessen der Nation zur Erörte- rung stehen." Zentrum und Verfassungsfrage. Der Landes- ausschußabgeordnete Wolf will dem Zentrum die Ver- antwortnng für das Scheitern der Verfassnngsrevision im Neichslandc znschreiben: er schreibt: „Die Verantwortung hat und behält das Zen trum, was auch komnie. Die Hanptschwicrigkeit liegt nach Ablehnung der Wahlkreiseinteilnng der Negierung in der Schaffung eines Kompromisses auf diesem für die inner- politische Zukunft des Landes so bedeutungsvollen Gebiete. Wenn die Negierung in ihrer Wahlkreiseinteilung das ganze Land dem Zentrum ansgelicfert hätte, das nach den letzten Reichstagswahlen nur stst Prozent der Stimmen zählt, würde Herr Erzberger im „Tag" wohl die hohe Weis heit der reichsländischen Regierung gepriesen haben. Da sie aber auch die anderen bedeutenden Richtungen wenigstens einigermaßen berücksichtigte, ist sie von vornherein ver dächtig. Wenn das Zentrum sich fernerhin auf diesen Standpunkt versteift und die Reform nur macht, wenn man ihm das Land parteipolitisch verkauft, dann ist die Vor- läge gescheitert. Denn es wird kein vernünftiger Mensch vom Liberalismus verlangen können, sich in Elsaß- Lothringen auf Jahrzehnte hinaus parlamentarisch und politisch ttniznbriiigen." — Ganz zutreffend, nur darf nie mand vom Zentrum dasselbe fordern wollen. Das Zentrum wird die Vorlage weder dem Reichskanzler zuliebe niinehinen noch Herrn Delbrück zum Leide vorwcrfen: es wird rein sachlich entscheiden, wie die anderen Parteien auch, und es wird dabei große Rücksicht ans die Stimmung seiner Wähler im Lande zu nehmen haben. Der Freisinn und die Wnhlkreiscinteilung. In dem demokratischen Wochenblatt „Das freie Volk" ver öffentlicht Professor Tr. G. Went, der früher dem linken Flügel der Fortschrittspartei angehörte, folgende inter essante Erinnerung aus den Tagen des großen Eugen Richter: „Ich war eben (1881) in den Reichstag gewählt und als Demokrat der Fortschrittspartei beigetreten. Unter den Initiativanträgen befand sich ei» sozialdemokratischer auf andere Abgrenzung der Wahlkreise. Bei der Fraktions- besprechnng schien es den jüngeren, eben erst gewählten Mitgliedern selbstverändlich, daß der sozialdemokratische Antrag zu unterstützen sei. Der noch lebende Abgeordnete G. begründete diesen Standpunkt kurz und treffend. Da griff Engen Richter in die Debatte. „Taktisch und klug", „kommt nur der Sozialdemokratie zugute." Wir haben keine Veranlassung^ de» Sozialdemo kraten Vorspann zu leisten." — Also Ab lehnung! Wem aber wurde das Referat gegen den An trag zngemutet? Herrn G., der annahm und trefflich mit „zlvar" — „aber" jonglierte, ohne natürlich den wahren Grund dagegen anzndeiiten . Wiederholung des Verfahrens 1884 bei der berühmten „Abkommandierung". — Mir wagte man wenigstens nicht den ominösen Brief zn schicken. Herr G. zeigte ihn mir. Unterschrift natürlich nicht Eugen Richter, sonder» Hugo Hermes. Schale — demo kratisch, Kern - nationalliberal! Das Bürgeitnm beute wie damals. Damit soll eine ehrliche Demokratie pak tieren!" — Es ist heute in dieser Partei nicht anders ge worden. — Eine nüchterne rote Wahlrechnung machte Genosse Bernstein ans dem Parteitage der schlesischen Sozialdemo kratie ans. Bernstein konstatierte zunächst, daß die „Schwarzblanen" im jetzigen Reichstage über rund 220 Stimmen verfügen. Dieser Mehrheit stehen gegenüber die Sozialdemokraten mit 62, die Fortschrittliche Volkspartei mit 46, die „zweifelhaften Nationalliberalen" mit 49 Man daten. Um die Rechte in die Minderheit zu bringen, müß ten also 40 Sitze neu erobert werden. Auf die Frage, ob dies wahrscheinlich sei, antwortete Bernstein nach der „Bres lauer Volkswacht" Nr. 91: „Manche von nnS jagen, viele Mandate, die wir zuletzt verloren, werden wir erobern. Aber wer hat denn diese Mandate inne? Das Zentrum hat mir ein Mandat (Reichenbach-Neurode), andere 10 die Mittelparteien, die Nationalliberalen 26. Wenn wir die znrückerobern, ändern wir im Block und gegen Block »och nichts. Es müssen außerdem »och 30 Mandate erobert wer den. Doch wir wollen »ns auch keiner Täuschung hingeben. Bei der heutigen WablkrciSeiiiteilniig wären 100 sozial demokratische Mandate schon etwas Ungeheuerliches. Nun könnten auch andere Parteien dem Block etwas abnehmen. Ich glaube sogar, durch gute Agitation wird man dem Block noch manches Mandat cibnehinen, die Fortschrittliche Volks partei 20 bis 30 Mandate gewinnen. Es ist schon möglich, daß neben den Mandaten, die wir dem Blocke abnehmen, auch andere Parteien noch Mandate erobern. Die anderen Parteien sind aber auf die Wahlhilfe der Sozi"ldemokraten angewiesen." Was Bernstein über die eigene Partei sagt, dürfte zutreffend sein. Wir sind der Ansicht, daß die Ge nossen keine 100 Mandate erhalten werden. Aber der Ge winn der Volkspartei mit 20 bis 30 ist ein ganz unwahr scheinlicher. weil zunächst die Volkspartei eine ganze Reihe« von Mandaten an die Sozialdemokratie verliert, nament-