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Sächsische Volkszeitung : 29.07.1922
- Erscheinungsdatum
- 1922-07-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-192207294
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19220729
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19220729
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1922
-
Monat
1922-07
- Tag 1922-07-29
-
Monat
1922-07
-
Jahr
1922
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 29.07.1922
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Sonnabend den 28. Juli 1922 Nr. 173, Seite 2 Sozialismus als Experiment I» der sozialdemokratischen Presse hat sich kürzlich ei» kochst lehrreicher Kampf abgespielt. Man beginnt nämlich in der Mehrheilssozialdemokratie allmählich einzusehen, daß man nicht mehr ins Blaue hinein experimentieren darf, sondern Aufbau arbeit leisten müßte. Deshalb lehnte sogar der „Vorwärts* kürzlich „Experimente großen Stiles* ab. wie sie Professor Ballod auf dem Oiebiele der Sozialisierung forderte. Cs verdient dem Gedächtnis erhalten zu bleiben, mit wel chen Gründen sür und wider die „Experimente großen Stils" gestritten—wird. Denn damit berühren wir eine Grundfrage unseres gesamten Wirtschaftslebens. Professor Ballod, der Verfasser eines überaus trockenen und langweiligen Buches über den Zukunftsstaat, das nur in Zahlen schwelgt und die unmöglichsten Zahlenexperimente macht, ohne Fühlung mit der Wirklichkeit zu halten, verficht seine An. sichlet, da er imnicr einer möglichst radikalen Gruppe innerhalb der in zahlreiche Sekten auseinandergebrochencn sozialistischen Partei angchort, nunmehr in der „Freiheit". Da er hier .Erperimente großen Stils" auf dem Gebiete der Sozialisierung forderte, wies der „Vorwärts" diesen Ausdruck als höchst un geschickt zurück, weil die Volkstoirtschaft nicht der Gegenstand von Experimenten sein könne. Ballod erwiderte daraus in der „Frei heit" mit einem langen Aussatz, der dem Vorwärts Anlaß zu mancherlei Spott gab. War der Artikel doch überschrieben: „Marxismus, Sozialismus und Stumpfsinn. Von Professor ÜKrllod." Erst zum Schluß erfuhr man, daß mit dem Stumps sinn die Polemik des „Vorwärts" gegen sozialistische Experi mente gemeint war. Wörtlich sagte Ballod: „Mit demselben Rechte, mit dersel ben Logik müßte man den Bau eines jeden neuen Hauses, einer jeden neuen Fabrik, einer jeden nouen Bahnlinie bekämpfen." Sehr mit Recht erwiderte der „Vorwärts" darauf: „Wir nehmen zur Ehre Ballods an, daß er selbst weiß, was ein „Experiment" ist und daß er das nur in seiner augenblicklichen polemischen Aufgeregtheit vergessen hat. Experimente, Herr Professor, sind Versuche, die man macht, um Erfahrung zu gewinnen. Häuser, Fabriken, Löhnen baut man aber nicht, um Erfahrungen zu machen, sondern zum Wohnen, Produzieren und Fahren. Das sind keine Experimente, sondern das Gegenteil davon. Diese Darlegung unterschreiben wir vollständig. Ebenso das. was der „Vorwärts" weiter sagt: „Wo es sich um das Glück und das Wohlergehen arbeitender Menschen handelt, darf man nicht ins Blaue hinein experimentieren, sondern muß, auf Er fahrung fußend, aufbancn und erweitern, was dein Allgemein wohl dient." Können wir wirklich hoffen, daß wenigstens ein Teil der Sozialisten sich zu so vernünftigen Ansichten bekennt? Einstwei len klingt die Aeutzcrung gerade im „Vorwärts" einigermaßen erstaunlich. Begegneten wir ihr in der „Glocke" oder iin „Firn", vielleicht auch in den „Sozialistischen Monatsheften", so würden wir das begreiflich finden; denn hier tummeln sich die Reform- sozialisten, die leidlich vernünftige Ansichten hegen, — nur, daß man in der Partei nichts von ihnen wissen will. Daß aber selbst der „Vorwärts" heute so vernünftige Aeußevungen tun kann, ist erfreulich. Sind wir doch in den letzten Jahren das Objekt rücksichtsloser volkswirtschaftlicher Experimente geworden. Reicht der entschlossene Wille von ein paar Millionen Menschen dazu hin Beschlüsse össentlicher Körperschaften durckMsctzen, die (im großen oder kleinen) eine neue Gesellschaftsordnung herbeisüh- reu wollen, so müßten wir schon heute deren Segnungen oder Mißerfolg erleben. Zweifellos hat das Zeitalter des Sctzialis- »uis begonnen. Kann er sich auch nicht ganz durchsetzen, so experimentiert er dockt mit uns — mit seinen Anhängern, wie mit seinen Gegner». Hat die Aerztcschast gegen die Kur pfuscherei ;u kämpfen, sind alle die glänzenden Folgen, die sich ans den Fortschritten der ärztlichen Wissenschaft offensichtlich ergeben haben, nicht imstande gewesen, den Glauben vieler Hnndertansendc an die Kurpfuscherei in ihren verschiedenen Ge staltungen zu erschüttern, so ist die wirtschaftliche und soziale Quacksalberei noch tausendmal gefährlicher, bedroht sie doch die Wohlfahrt aller Glieder eines Volkes, während derjenige, der sich cineni Kurpfuscher in die Hand gibt, schließlich nur seine eigene Gesiindhcit aufs Spiel setzt. Dabei strotzt das Denken der wirtschaftlich-sozialen Quack salber von den unglaublichsten Fehlern. Sie teilen mit ihren Kollegen von der Gcsundheitslehre die Vorliebe für einfache Er klärungen. Diese pflegen aber beinahe überall falsch zu sein. Immer wieder hat die Wissenschaft zeigen müssen, daß der Angenschci» uns in die Irre führt. Und immer Witter hat sie einen lange» und schmerzlichen Kampf gegen den Fanatismus zu führen gehabt, der sich an die irrigen Schlüsse anklammerte, tie man aus solche» Voraussetzungen ableitete. Wie schwer war e», di« Vorstellung zu beseitigen, daß die Sonne sich um die Erde drehel Wie hat num die Wissenschaft verhöhnt, als sie zu dem Schluff« kam da» Umgekehrte sei richtig. Daß der Augenschein trugt, will der wissenschaftlich nicht Durchgebildete in der Regel nicht glauben. Und doch lehrt die Betrachtung jedes beliebigen Gebiete», daß die unmöglichsten, scheinbar aller Er- fahrung zuwiderlaufenden Vorgänge den Naturgesetzen ent- sprechen: daß etwa zwei eiskalte Flüssigkeiten von bestimmter chemischer Beschaffenheit, die man zusammengießt, eben dadurch in Siedehitze geraten können; oder daß Wasser, wenn man eS in schwefelige Säure bringt, auf einer heißen Eisenplatte ge friert. Ist also die Kenntnis der Gesetze, nach denen sich unser wirtschaftliches und soziales Leben abspielt und verändert, un endlich schwer zu gewinnen, muß man sich stets vor Augen halten, daß zahllose Fehlerquellen dabei zu beachten find, so müssen wir namentlich vor den scheinbar einfachen und augenfälligen Erklärungen auf der Hut sein. Vor volkswirtschaftlichen Experi menten ilt — der „Vorwärts" hat ganz recht — naArÜcklich zu warnen. Se. Aus dem Ausland Ablehnung des deutsche« Stundungsgesuches Pari», 28. Juli. Die Entscheid»«« über das Mora« lorkumSgesuch für die auf Konto der franzSsischen Privat« forderungen zu leistenden monatlichen Ratenzahlungen ist negativ ausgefallen. Die Vertreter der interalliierten Kompensationbüros haben in ihrer Sitzung am Donners tag nachmittag einstimmig beschlösse«, auf daS Gesuch nicht einzngehe« und Deutschland an die im Abkommen vom 10. Juni 1021 bestimmten monatlichen Zahlungen von zwei Millionen Pfund, d. h. 40 Millionen Goldmark, als gebunden zu erklären. Ministerrat unter dem Vorsitz Millerands Paris, 27. Juli. Heute morgen findet unter dem Vorsitz Millerand» in Rambouillet ein Ministcrrat statt, auf dessen Pro gramm mehrere wichtige innenpolitische Punkte stehen. Es soll eine Entscheidung geiüut werden über die Begnadigung der beiden Meuterer der Schwarzen-Meer-Flotte, die wie sie auch ausfällt, bedeutende inner politische Nachwirkungen baden wird. Eine Kollektivnote ans das deutsche Stundungs gesuch Paris, 27. Juli. (Franks. Ztg.) Seit Dienstag abend haben die Vertreter der Alliierte» der AuSgleichSbüroS in London, Noni, Paris, Brüssel und Straßbnrg über die Note der deutschen Negierung an die alliierten Regierungen verhandelt, in der eine Herabsetzung der monatlichen Verpflichtungen von zwei Millionen Pfund Sterling auf 600000 Pfund Sterling verlangt wird. E» ist aber bi» jetzt noch nicht bekannt, ob durch die Beratunaen entschieden wird, daß die alliierten Regierungen einzeln zu der Note Stellung nehmen oder sich auf einen Kollektivbericht einigen. In Paris scheint man die Absicht zu haben, jeder Negierung volle Handlungsfreiheit zu lassen. Was die Vertreter der AuSgleichSbüroS heute in ihrer letzten Sitzung be- ichlleßcn werden, steht noch dahin. Von englischer Seite wurde dex Einwand gemacht, daß e» vielleicht besser wäre, das Verfahren da durch zu beenden, daß man die gegenseitigen VorkriegSverpflichlungen der Staatsbürger durch eine Pauschalsumme ausgleicht. Der Kohlenstreik in Amerika Neuyork, 27. Juli. Piösident Harding enthob infolge der Fortdauer des Bergarbciterstrciks die Kommission, die mit der Kohlci:- vcrlciliing betraut worden war, ihres Amtes. I» verschiedenen Berg werken vcrsucht man die Arbeit wieder aufzunehmen. Zum Schutze der Arbeitswilligen werden Truppen in die betroffenen Bergwerke geschafft. Die Streikenden versuchen die Dockarbeitcr sür sich zu ge winnen, um die Ausschiffung der englischen Kohle zu Verbindern. Zur Verteilung der Kohlen werden besondere Maßnahmen getroffen werden. Das bisherige Fiasko der bolschewistischen Getreideanleihe AuS Reval wird uns geschrieben: Iin Gegensatz zu den Meldungen einiger Nachrichtenstellen über den Erfolg der Ge- trcideqnlcihe in Sowjetrußland geht aus de» voir der Sowjet- Presse veröffentlichten bisherigen Zeichnungsergebnissen die Zeich nungsunlust der Bevölkerung klar und deutlich hervor. Bis zum 14. Juni, d. h. dem anfänglich als letzter Zeichnrnrgstermiil in Aussicht genommenen Tage, waren in Moskau nicht mehr als 156083 Pud, in Petersburg 47 770 Pud gezeichnet worden bei einem Gesamtbetrag der Anleihe von 10 Millionen Pud. Tie Sowjetregieruiig hat sich daher entschließen müssen, den Schluß termin um zwei Wochen herauszuschieben. Außerdem versucht sie das Ansehen der Anleihe dadurch zu retten, daß sie selbst durch ihre Zentralbehörden Obligationen der Anleihe erwirbt. Die Verwaltung der Kriegsindustrie in Petersburg hat allein 28 OM Pud gezeichnet, also über die Hälfte des in Petersburg bisher überhaupt untcrgebrachten Anleihebetrages. Die Staats bank selbst wird Anleiheobligationen für 2 Millionen Pud er werbe». Diese Meldungen der Sowjetpresse sprechen wohl nicht im Geringsten für den Erfolg der Anleihe. StraßenkLmpfe ln Ravenna Mailand, 28. Juli In Ravenna hat die seit einigen Tagen herrschende Spannung zwischen den Faszisten und den extremen Linksparteien, Kommunisten und Republikanern und Sozialisten am Mittwoch zu außerordentlich blutigen Straßenkämpfen mit zahlreichen Todesopfern geführt. Die Kommunisten hatten Ver» stärkungen vom Lande erhalten und den offenen Kampf gegen die Faszisten ausgenommen. Hierbei wurden durch drei Bomben mehrere Personen verletzt. Ein Faszist wurde zu Tode geprügelt. Als die Polizei erschien kam eS zu regelrechten Straßenkämpfen, dir über eine Stunde lang andauerten. Bis jetzt wurden sieben Tod« und sieben Schwerverletzte gezählt. Todesstrafe wegen Disziplinarvergehen in Sowjetrutzland Das Kroustädter revolutionäre Militärtribunal hat einen Prozeß gegen 36 Zöglinge der Militärischen Roten Kurse ver handelt, die sich geweigert hatten, am Lehrkursus teilzunehmeu und statt dessen in die Regimenter abgeschickt werden wollten. Fünf Angeklagte wurden nach den „Jswestija" vom 18. Juli zum Tode durch Erschießen verurteilt, die anderen Angeklagten erhielten verschiedene Freiheitsstrafen. Man sollte meinen, daß es sich hier um schwerere Vergehen, als um die einfache Weige rung, die Lehranstalt zu besuchen, gehandelt hat. Vielleicht ist hier wiederum von den Bolschewisten eine Aufstandsbewegung im Keime unterdrückt worden. Jedenfalls ist das Urteil wiederum ein Beweis, daß die Bolschewisten nichts weniger als sentimental sind, was sie nicht daran hindert, den bürgerlichen Staaten stets Bestialität, Unmenschlichkeit und dergleichen vorzuwerfen. Korfanlys Tapferkeit amtlich bescheinigt Warschau, 27. Juli, Korsanih ist nach einer Meldung der Frankfurter Zeitung vom polnischen KcicgSministcr, der in Korfanlsts Kabinett übernommen werden sollte, die Tapferkeitsmedaille we-wn seiner Taten in Oberschlesten verliehen worden. Das wird deshalb mit Spott auigenommen, weil Korfanly nie an der Front gewesen ist. Deutsches Reich Morgan zu neuen Verhandlungen bereit Morgan, der anfangs Juli wegen der unnachgiebigen Halimig Frankreichs gegenüber Deutschland die Verhandlungen über eine internationale an Deutschland zu gewährende Anleibe abbrach, hat sich jetzt auf das Ersuchen Frankreichs bereit erklärt, Anfang Septem» ber wieder nach Europa kommen zu wollen, um die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen. E» ist ein iragischeS Geschick, daß dasselbe Frankreich und derselbe Poincarä in so kurzer Zeit de» Rückzug haben antreten müssen- ES ist das nichts anderes als cm Erfolg der Erfüllungspolitik, die von dem Gedanken ausgeht, diircl, Abwarten diejenige Atmosphäre zu schaffen, die ein vernünftiges Nachzeben ermöglicht. Die getäuschte Ententekommisston Jena» 27. Juli. Am Dienstag zwischen 12 und 1 Uhr mittags erschien, wie das Volk meldet, bei der hiesigen Polizeiinspektion eine Ententekommiffion bestehend aus zwei fraiizöslscbe» Offizieren in Be gleitung eines deutschen Verbindungsoffiziers und eines Beauftragien des thüringischen Ministeriums deS Innern. Sie bemerkte, eine «,,» zeige erhalten zu haben, nach welcher in einem hiesigen Spedittoiis- gclchäit 450 Gewehre, 6 schwere Maschinengewehre, 24 Minenwcner, 300000 Patronen und 20000 Spaten verborgen gehalten werden solle». TaS in Frage kommende Gebäude ward durchsucht, gefunden wurde aber nichts. Die Kommission fuhr dann nach Gera weiter. WuSe nicht aus der Fraktion ausgetreten Berlin, 28. Juli. Der ReichStagSabgeordneti Wulle, der Herausgeber LeS Deutsche» Tageblattes und des Deutschen Abend blattes, dessen Druck nach Pressemeldungen die Druckerei der Deutschen Tageszeitung nicht weiter auSführen will, sendet ber T.»U. eine Er klärung, daß er nicht aus der Deutschnationalen Volkspartci auS- aclchieden sei. E» entipreche auch nicht den Tatsachen, daß er beabsichtige, eine dcutsch-völkisch-freiheitliche Partei zu gründen- Die letzten Schäferspiele (Fortsetzung.) Man feierte diese Feste gern im Freien. Draußen auf grünem Wicscnplnn, unter dem Glanze des Himmels, dem pochende» Laub der Bäume, da ließ sich in schäferlicher Eintracht die Unzulänglichkeit und Tic-Harmonie des Lebens vergessen. Da waren alle, ob alt oder jung, niedrig oder hoch, nur Hir tinnen und Hirien. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hieß die Losung, und Liebe war keine Sünde. In improvisierten Schüfer- spielen »Bauernhochzeiten, Jahrmärkten uirü ähnlichen Maske rade» erschöpfte sich die gesellige Phantasie. Man schtvclgte in Natur und sank immer tiefer in die Laßheit der Sitten, in das unerhöricste Rassincment. Die Grotten und Eremitagen der Parks ivare» verschwiegen, die dunkelglänzenden Taxuswänöe, die nackten Dcarmorgöttinen plauderten nicht. Es kam eine Zeit, da fanden die schönen und hochgeborenen Damen in Frankreich einen Reiz darin, sich bei der Morgentoilette durch einen .Kammerdiener an Stelle der Zofe das Hemd reichen zu lassen. Ist eS ein Wunder, wenn die Wirklichkeit in solchen Tagen . noch spannendere Noniane und verwegenere Schäfcrspiele schrieb als selbst die Einbildungskraft der Dichter? ES gab Mesalli ancen, Ehchändel, politische Prozesse und Skandale die Fülle. Einer davon, als die „HalSbandgcschichte" berüchtigt, hat seinen Unrat bis an die Stufen des Königsthrones ergossen. Vielleicht ist der besonderen pikanten Romantik des Jahrhunderts kein tbpiscknrcr Vertreter erstanden als der schicksalsbunte Abenteurer Casanova. Und dem wilden ausschweifenden Lebensdrang der Rokoloincnschheit kein bezeichnenderes Motto als jener Spruch, den man kopfschüttelnd noch manchmal auf alte» Sonnenuhren lcscn kann: „Horas non numero nisi serenaS." Tie horae serenae — die Stunden der Einkehr sollten lonime». In die SchäfcrhäuSchen, die eibemimstandcncn Teiche, die blühenden Baumkrone» führen die Donnerkeile der Revolu tion. Das neue Frankreich war schon vor einer Weile unter die 'Tanzende» getreten. Aber es hatte sein Antlitz noch nicht ent- schleicrl. Dieses Antlitz war ungeschminkt und bleich, sein Aus druck wild. * » * „NelournonS a la naturel" Es war auch eine Art von Schäferei, was da mit macht voller Stimme der Philosoph einer anbrechcnden neuen Zeit ge- predigt. Wie Sturmwind war der Nus in die Stickluft der Boudoirs, der Alkoven und Himmelbetten gedrungen. Rousseau» der Herold der Revolution, stand auf der Schwelle. Sein ,,con» trat socml" — dieser Protest gegen die Verderbtheit einer Kul tur ohne religiöse, sittliche und philosophische Grundlage —ent hielt scbo» die ganze Theorie de? Umsturzes, zu deren Verwirk lichung ein wenig später Robespierre und der Wohlfahrtsaus schuß durch Ströme Blutes hinwateten. „Egalitö — frater- nitfi — libcrtä!" — so hieß die Losung mich dieser neuen grim migen Schäscrspiele. darin die Hirten und Hirtinnen, die galan te» Klausner der Eremitagen und liebreizenden Bewohnerinnen der Sänften von roher Schcrgcnfanst auf die Bühne des Schafotts gestoßen wurden. Mit verba'tenem Atem lanschicn die Völker Europas diesen grellen, lärmvollen, unerhört neuen Spielen. Da hat der Mechaniker Schmitt in Paris mit Zustimmung des Ministers Roland das Modell einer sinnreichen Köpfmaschine an» gefertigt. Man stellt damit Experimente an und findet sie zweckentsprechend; man baut das Mordgerüste, dem der Volks witz nicht rasch genug den Kosenamen „petite Louison" geben kann, am Grüveplatz aus und richtet als Aersuchskarnickel einen gefesselten Straßenränder hin. Das ist im April 1792 Im August hallt der Carrousclplatz wider von dem wüsten Geschrei der Sansculottes; mail dringt in die Tuilerien, metzelt die Schweizergardiste» nieder und schleppt den König als Staatsge fangenen nach dem Temple. Im nächsten Monat vollzieht sich — auf Anstiften des Pariser Gemeindcrates und des Justiz ministers Danton — in den Gefängnissen jenes furchtbare Blut bad, das unter der Bezeichnung Scptembermorde bekannt ist und die Schrecken einer Bartholomäusnacht noch überbietet. Im Herbst 1793 wird durch Konventsbcschluß Gott abgesetzt, der republikanische Kalender und der Kultus der Vernunft ausge heckt. Der Generalrat des Departements Paris votiert, daß alle Kirchtürme abzutragen seien, weil sie „durch ihr Hervorragen über die anderen Gebäude das Prinzip der Gleichheit zu verletzeil schienen." Ludwig XVI. ist schon verurteilt und gerichtet. Er hat gewagt, ein König zu sein, ein Turm unter den Menschen — und welches Verbrechen wäre gegenwärtig in Frankreich ver abscheuungswürdiger? Die Guillotine tut heilige Arbeit. Sie streckt zur Förderung der wahren Menschenrechte ihr Fallschwert über alle Provinzen aus; ja, sie wird zum Wanderinstitut und rasselt, um Köpfe zu suchen, von Stadt zu Stadt. In Lyon und Nantes wird gewütet; im Loirestrom. der „nationalen Bade wanne", werden Tausende von Menschen ersäuft. Es ist das Regiment der „Nopaden", „Fusilladen" und „Sabraden", vor welchem den Schrcckensmännern in wachen Augenblicken selber graust. Unablässig dröhnt währenddessen in Paris Meister San- sons Nichikarren über das Pflaster. Man.feiert — vom 23. Prairial bis zum 9. Thermidor des Jahres 1 — der Gewalttaten und des Mordens Maienblüte, die schwelgende Zeit der Massen» Hinrichtungen, die mail Backöfen nennt — wobei die Opfer der Guillotine Brotlaiben verglichen werden, die der Meister Wohl fahrtsausschuß mit schwitzender Hand über die Glut schiebt. Man gibt sich mit Beweisen nicht weiter ab; eS genügt, Namen, Alter, Stand und Wohmrng eines „Verdächtigen* festgestellt zu haben, lim ihn dein Henker überantworten zu können. Vier ÄS fünf Minuten — mehr kann ein einzelner Kopf, ohne umbe» scheiden Mt sein, nicht beanspruchen. Zn dem Geschworenen Du» ums, der den Vorsitz führt, sagt einmal der Geschworene Vilate: „Die Angeklagten sind doppelt schuldig, denn in diesem Augen blick konspirieren sie gegen meinen Magen. Es ist Mittagszeit.* » » » Todflill ist es geworden im lustigen Frankreich. Um die geschorenen Hecken im Park von Versailles, um die Wasser becken und Marmorgötter, durch die Alleen schauert der Wind. Sind das Ratten, was durch die dunklen Prunkgemächer des Königsschlosses huscht? Ist cs Nachtluft oder Blättertanz, was a» die steifen Vrokaivorhänge rührt? Der alte Kastellan, in dessen Erinnerung noch ein Lächeln der schönen Madame de Pompadour lebt, macht tappenden Schrittes die Runde. Er kennt keine Furcht. Hat er damals nicht das Gejohl der Weiber unten am Schloßportal gehört — hat er nicht den König und die Königin gesehen, wie ihnen der Henker letzte hastige Toilette machte? Kann es Schlimmeres geben? Und doch erschrickt der Alte jetzt — die Kerzen zittern in seiner Hand — sie stumpfgewordenen Augen weiten sich und starren — Dort in der Kaminecke sitzt eine Gestaltl Der weiße Mond nebel, der durch ein Hobes Heilster hereinstäubt, läßt ihre Linien unsicher erscheinen. Monsieur Beelzebub? Die Allongeperncke wallt zerknittert auf die geschweifte Lehne des Goldstuhls nieder, die Haltung ist schlaff und gebrochen, ans dem blutleeren Gesicht, dessen Hochmut ein Krampf ist, malt sich weltgeschichtlicher Katzen jammer. Bei Gott, das ist Herzog Philipp von Orlöans, Regent von Frankreich, dessen Porträt dort über dem Goldstuhl hängt — Herzog Philipp, Schwiegersohn der heiteren und witzigen Mar quise de Montespan. Der Kastellan tappt weiter. Ihm graust plötzlich vor den Toten. » Wenn man die Porträts aus den Tagen der französischen Revolution betrachtet, dann wird man vielleicht etwas Eigen tümliches wahrnehmcn. Sehr vielen dieser Antlitze von Männern uild Frauen, die den Bürger Louis Capet mit zurückgeschlagenem Hemdkragen neben dem Befehlshaber der Nationalgarde stehn» sahen, eignet ein gewisser gespannter, schreckhafter, ja verstörter Ausdruck. Die Augen sind weit geöffnet, die Ohren, gleichsam gespitzt, scheinen in Erwartung und Schauder der endlosen Reihe von Namen zu lauschen, die eine mißtönige Stimme von der Liste der „Verdächtigen" abliest. Wahrlich, in diese Gesichter passen keine Schönheitspflästerchen mehr. Seltsam durchgeistigt sind sie, mager und eckig — der gerade Gegensatz zu den Weichen, üppigen, gedunsenen Larven des Rokokos. Durch diese Haut, die mit keiner Schminke in Berührung kommen wird, wenn nicht mit der blu tigen des Todes, scheinen keine zärtlichen Empfindungen, keine süßen Träume des Selbstvergessens mehr zu vibrieren. Diele Lider sind seit dem Lärm der Sturmtrommeln vor der Bastille unausgesetzt in einem nervösen Zucken geblieben; sie brennen wie am Morgen nach einer wüsten Nacht; sie erwarten den grauenden Bölkertag ungeduldig, phantasielos, mit dem harten Temperament der Ernüchterung. (Forts, folgt.) lilsmm'r linEEnn Vs« UkEdengsss« ZS pvrssplivlrst 22-2- 6roS- un6 HIeinksn«i«1 803 links» kckokolsrlsn
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