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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Erscheinungsdatum
- 1907-10-06
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190710060
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19071006
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19071006
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1907
-
Monat
1907-10
- Tag 1907-10-06
-
Monat
1907-10
-
Jahr
1907
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
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4. Beilage Somllag, «. Oktober IW7. Leipziger Tageblatt. «r. 277. 10t. Jahrgang. Natur uud Geist. Wissenschaftliche Veilage ziun Leipziger Tageblatt. Ein nerrentdeektev Englän^ev. Von Otto Flake (Leipzig). Die Freundin Byrons, Charlotte Bury, schreibt 1820 in ihr Tage, buch: „Dann war noch ein anderer exzentrischer Künstler da, namens Blake, kein Maler von Profession, sondern einer von denen, die der Kunst um ihres eigenen holden Selbst willen folgen. Er schien mir voll schöner Phantasie und voll Genie. Er scheint ungelehrt in allem, was die Welt betrifft, und nach allem, was er sprach, fürchte ich, daß er einer von denen ist, deren Empfindungen ihrer Lebensstellung weit überlegen sind. Er sieht verhärmt aus, aber sein Antlitz leuchtete, als er von seinen Lieblingsbestrebungen redete. Ich begreife, das; er selten Leute trifft, die auf seine Ansichten eingehen: denn sie sind absonderlich und über das Niveau der geltenden Meinungen erhaben. Jedes Wort, das er sprach, legte Zeugnis ab von der völligen Einfachheit slin.es Geistes und seiner völligen Unkenntnis aller weltlichen Dinge." Dieses Porträt wurde während einer Zeit entworfen, als Blake Gefahr lief, noch während seines Lebens in Vergessenheit zu geraten, und er selbst für die wenigen, die von ihm gehört batten, eher einen mythischen Begriff als einen Namen bedeutete. Erst in den letzten Jahren seines Lebens — er starb 1827 im 70. Jahr — sand er einen Kreis treuer Freunde und Jünger, die sogar in seinem Geiste eine Schule bildeten und als Vorläufer der Präraffaeliten bedeutsam vmrden. In England ist seit dieser Zeit eine umfangreiche Literatur über Blake entstanden, in Deutschland wies zuerst R. Kaßner in „Die Mystik, die Künstler und das Leben" sEugen Diedcrichs) auf ihn hin: soeben übertrug sodann Stefan Zweig einen Essay von Archibald V. G. Russell: „Die visionäre Kunstphilo- sophic des William Blake (Julius Zcttlcr), Helene Richter schrieb mit einer wahrhaft philologischen, aber sehr gleichförmigen Gnoissenhastig- leit eine erste zusammenfassende Monographie (I. H. Ed. Heitz, 404 S.), Otto Frlir. o. Taube übersetzte Blakes „Ethik der Fruchtbarkeit" sEugen Dicdcrichs) und Adolf Knoblauch feine „Dichtungen" sOester- held L Co.). William Blake ist eine ganz unenglische Erscheinung, aber das sind mehre der weniger alle Künstler, die England im 19. Jahrhundert hervor gebracht bat — William Blake ist auch eine gleichsam zeitlose Erscheinung; obschon er ein Gegner des rationalistischen 18. Jahrhunderts War, er zeugt er doch nicht wie ein anderer Feind der Aufklärung, Rousseau, den Eindruck, ein notwendiges und organisches Produkt innerhalb einer nationalen Entwicklung zu sein. Er erhielt im Jahre 1773 von dem Kupferstecher Basire, dessen Lehrling er war, den Auftrag, in der Wcst- minsterabtei und anderen alten Kirchen die Königsstatucn und Grab denkmäler zu zeichnen, und indem er sich berauscht dem Zauber der Gotik hingab, wurde er ein Wiedcrentdecker dieses Stiles. Gleich wohl ist es eine nachträgliche Konstruktion, jenes Jahr als einen Ein schnitt in der englischen Kunst zu betrachten: erst dadurch, das; die Prä- rcn'aeliten ziemlich selbständig die gleiche Entdeckung der Gotik voll zogen, ist es erlaubt, auf Make als einen Vorläufer hinzuwcisen. Und dasselbe gilt von seinen Bemühungen um Dante: Blake war schon vor Rossetti Dantclcser und Dautezeichner, aber erst Rossetti schuf die histo rische Bewegung. Erinnert man sich anderseits an die deutschen Naza rener und die ganze Richtung der linearen Kartonzcichncr, so findet man mit Staunen in Blake eine Persönlichkeit, die zwar in keinem tatsäch lichen Zusammenhang mit ihnen steht, Wohl aber geistig sich vielfach mit ihnen berührt. Seine mystische Religiosität ist der Punkt, den ordnungs- liebende Historiker am ersten ins Auge fassen werden; durch sie ist er deutlich mit seiner Zeit verbunden: er kommt von Swedenborg her, der in der Familie des Strumpfwirkers Blake, des Vaters von William, eine Nolle spielte. Aber obwohl Blake zeitlebens an der Swedcnborg- M-fk Technik, abstrakte Ideen in die Visionen einer unmittelbaren PhüLc tasic zu verwandeln, sestbiclt, tut man doch gut daran, in ihm einen un abhängigen, in sich geschlossenen Geist, eine elementare Wahrhaftigkeit zu sehen. Blate, der zugleich Dichter und Maler war, hatte ungewöhnliche An sichten von der Kunst. Er wäre in romanischen Ländern undenkbar, und wenn er sich auch von dem kühlen Durchschnittsengländer gänzlich unter schied, so konnte er doch nur aus einem protestantischen Volke erstehen. Er griif nicht wie andere Künstler zur Farbe oder zum Ton oder zum Wort, um sich mit einem dieser Mittel restlos auszudrncken, sondern er sah in ihnen nur etwas Sekundäres und legte alles Gewicht auf ein un mittelbares, vor aller Anschaulichkeit liegendes Gefühl des „ewig Poetischen", das ihn ganz ausfüllte. Je nachdem man in der Künstler- schäft die reife Gestaltung sinnenfölliaer Dinge oder eine religiöse Prophetie sieht, wird man William Blake ignorieren oder ein Ereignis nennen. Jedenfalls aber muss man zunächst selbst seine extremsten An- sichten als notwendige Folge seiner Grundauffassnng verstehen. Er ist eine im Wortstnn visionäre Natur. Wenn der Geist über ihn kam, hörte er geheimnisvolle Stimmen und sah körperlich die Gestalten, die zu ihm redeten. Er fertigte seine Kritiker damit ab, daß er nicht eine subjektive Ansicht dichte oder zeichne, sondern ganz objektiv der Träger von übcrweltlichen Gewalten sei, die ihn als Medium benutzten. Wie einem modernen Spiritisten erschienen ihm eine Reihe historischer Per- sönlichkeiten. Moses, Homer, Dante, Milton traten als leuchtende Schatten von übermenschlicher Größe vor ihn hin. Ein Freund, so er zählt eine Anekdote, der einst mit ihm spazieren ging, bemerkte plötzlich zu seinem Erstaunen, daß Blake den Hut tief zum Gruße zog, während doch niemand zu sehen war — er hatte den Apostel Paulus begrüßt. Und wenn er mitten in einem Salon nebenbei erwähnte: „Neulich sagte mir Milton", so war es ihm sehr ernst, und es kam ihm nicht zum Be wußtsein, wie sehr er die Leute verblüffte. Seiner Kunst ist alles Realistische, alles Psychologische vollkommen unbekannt; ihre Okgcn» stände sind überhaupt nicht Menschen, sondern Symbole oder Allegorien, wie er sic nennt. Er zeichnete Porträts, aber rein imaginäre von längst Verstorbenen. In gleichmäßiger Fruchtbarkeit veröffentlichte ^er eine Reihe propl>etischcr Dichtungen, in denen er sich eines ganzen Systems eigener Mythologie mit eigenen epischen Gleichnissen bedient, im An schluß an Swedenborg und an Jacob Böhme, seine große Liebe neben Milton. Nicht mit Unrecht ruft er einmal Plato an: seine Epen, in denen es von Engeln, Dämonen, Personifikationen wimmelt, schildern den Kampf von Ideen, die zuweilen dunkel, sehr oft aber tiefsinnig und überraschend sind. Die Trockenheit der Allegorien wird durch die Be deutsamkeit mystischer Symbolik überwunden. Tas Grnndtbema dieser Gedichte ist der Kampf der Phantasie, des Leidenschaftlichen, des Persön lichen gegen die Vernunft und die Satzungen. Alles Phantasielose aber ist im Grund für ihn gottlos, und so sind B. Hume, Newton, Locke und Bacon Atheisten. Nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine innerliche und wesentliche Ergänzung stellen die zahlreichen Zeichnungen dar, die Blake diesen Dichtungen mitgab. Sie sind primitiv, aber außerordent lich eindrucksvoll, und s i e vermitteln in der Tat jene Eindrücke aus dem Reiche der platonischen Ideen. Nm einen Begriff von ihrer Art zu geben, sei aufs Geratewohl eine hcrausgegriffiu, die Helene Richter sol- gcndermaßen interpretiert: „Dieses Bild zeigt das neugeborene Ideal, sicher im Grünen gebettet und gepflegt, und ein jugendlicher, aus der Erde auftauchcnder Sonnengott verkündet mit hocherhobcnen Händen den Anbruch des neuen Tages, der blntigrot am .Himmel aufdämmert — auf derselben Seite unten dringt das grimmige Antlitz des furchtbaren Tvranncngottes aus Wolken, die er mit ansgebreiteten Armen zurück preßt, unmittelbar auf uns ein. Vor ihm stürzt das Kindlein, das er von sich geschleudert, in? Leere. Alles einen Zentimeter hoch oder kleiner, und dabei doch groß und gewaltig im Ausdruck." Blake stach den Text und die Bilder eigenhändig — noch mehr, an dem fertigen Exemplar rührte nichts als das Papier von fremden Hän- den her. Innerhalb der gedruckten Konturen aquarellierte er die Zeich nungen mit der Hand, so daß jeder Abzug seinen eigenen Charakter be sitzt. Sie sind heute alle selten und teuer. Die Malerei definierte er als ein Zeichnen auf Leinewand — wer sich mit ihm beschäftigt, muß noch schlimmere Behauptungen ruhig cntgegennehmen. Er haßte die Oclmalerei. Da er philosophisch jedes Ding als etwas Vereinzeltes ansah, betonte er den Umriß der Dinge, und die Reife der Kurest bestand für ihn darin, ihnen möglichst bestimmte Konturen zuzuweisen. Mit dem naiven Doktrinarismus seiner Natur ist es ihm eine Kleinigkeit, alle Koloristen mit Fanatismus zu verfolgen. Rubens ist der „schändlichste aller Dämonen", die Venetiancr sind „Idioten", die in einem Vortrag über Kunst gar nicht genannt werden sollten, Rembrandts Hundertguldenblatt einem gemeinen Epigramm ver gleichbar. Er sagt: „Ich gestehe, daß ich die äußere Schöpfung nicht sehe, und daß sie für mich ein Hemmnis und nicht Tatkraft bedeutet. Wie? wird man einwcndeu, siehst du nicht, wenn die Sonne aufgchl, eine Feuerscheibe? O nein, nein! Ich sehe in zahlloser Menge die himmlischen Heerscharen, die da rufen: heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott, der Allmächtige." Entsprechend seiner antikoloristischen Be anlagung gilt seine Liebe den Sicncsen und Florentinern. William Blake war als Mensch durch und durch unmittelbar. Er erscheint zunächst als ein Kind von unzerstörbarer Naivität und als ein rührender Optimist. Aber er ist im Grunde seines Wesens komplizierter und interessanter. Er nahm sich das Recht, sy zu sein, wie er war; und nichts konnte ihn hierin beirren. Sein Jünger Palmer notiert eine wundervolle Bemerkung: „Sein Auge war das schönste, das ich je ge sehen, es blitzte von Genie und schmolz in Weichheit. Es konnte auch furchtbar sein, List und Falschheit zitterten unter ihm, aber er beschäftigte sich niemals mit ihnen." Und wenn Blake auch sagte, niemand könne wahrhaft groß sein, der sich nicht gedcmiitigt habe wie ein kleines Kind, so entwickelte er doch in seinen Tantezcichnungen eine erfinderische Grausamkeit. Er nähert sich bisweilen der problematischen Gestalt Verlaines. Seine Biographie findet seine Naivität von jener Art, die als Schamlosigkeit wirken müßte, wenn sie bewußt würde. Blake war trotz seiner religiösen Anlage ein vollkornmcner Anarchist, der un- bekümmert die gefährlichsten Lehren ausstellte nnd übte. Er soll seiner Frau einst vorgeschlagen haben, eine zweite Geliebte in ihren Bund anf- zunehmen, und auch von ihm erzählt man sich die Anekdote, daß er und seine Frmt eines Tages einen Besucher ganz unbekleidet empfingen: sie rezitierten gerade in realistischer Inszenierung Miltons verlorenes Paradies. Als fcsselloser Individualist war Blake ein Todfeind aller Er- Ziehung, er prägt in Nichscheschcm Geist den Gedanken von dem Neber- menscben, der da ansängt, wo der Staat anfhört, und man hat ihn auch mit Nietzsche verglichen, ohne dazu ein besonderes Recht zu haben — bei Blake blich alles nur Möglichkeit, nichts wurde Resultat. Daher ist er auch kein Romantiker, obwohl niemals ein Künstler verächtlicher von Nichtkünstlern sprach, und obwohl er aP ein gänzlich unpolitisches Wesen den Nnabhängigkeitskampf Amerikas gegen England so benutzt, daß daraus — der Kampf der Phantasie gegen die Phantasielosigkeit wird! Um Romantiker zu sein, war er nicht bewußt genug. Er verbindet das ossianische England mit den Präraffaeliten und findet eine Fortsetzung in Wilde und Shaw, aber man soll diese Linie nicht künstlich berauS- arbeitan. Blake war im wesentlichen Rohstoff, nnd wenn Helene Richter ihr Buch mit der Aussicht abschlicßt, daß Blake auch bei uns Einfluß gewinnen wird, da „die naturalistische Kunstrichtung erlahmt und der romantische Symbolismus anfblnbt", so ist diese Konstellation bereits wieder veraltet. Blake ist eine interne Angelegenheit der englischen Gcistesg.'schichte. Die Zrnrgsureörrev von Groh-Alinevode. i. Von Eberhard-Buchner sHannover). Groß-Almerodc ist ein sauberes, hübsches Städtchen. Daß es bc- -dententw Jrrdustrien hat (Tvnwerke, Zicgclwerke), tut seinem Aeußeren durchaus keinen Abbruch. Es liegt in lieblichem Hügelland, in eine Senkung reizvoll eingebettet. Von Hannover aus führt der Bahnweg über Kassel und Walburg, und wenn man glücklich in Walburg ange langt ist, hat man sich noch einer jener berüchtigten jtzkeinbahnen anzu- vcrrrauen, deren Benutzer drei Dinge sehr notwendig haben: zum ersten Geduld, zum zweiten Geduld und zum dritten nochmals Geduld. Groß- Älmerode bat eine alte Kirche, die sich dadurch auszeichnct, daß sie, sieht man von ihrem Turm und den die Wände zierenden alten Gedenktafeln ab, so gar nicht den Eindruck einer Kirche machen will, hat ein eben falls mit einem Turm gekröntes Rathaus, mehrere leidlich charakte ristische alte Hänscr, eine Kapelle der Evangelischen Gemeinschaft und — zurzeit ist das das interessanteste Gebäude — ein evangelisches Vereins bans. In dietcm Vcreinshaud, das Pfarrer Holzapfel, der geistige Leiter der- Groß-Almerodcr Schwörmerbewegung, vor 8 Jahren er bauen ließ, versammeln sich nun seit Wochen allabendlich sam Sonn- tag auch zur Vesperzeit) die Gläubigen der Stadt, um bis in die späten Nachtstunden hinein die Wonnen der „Gnadcnzeit", die über Groß- Almerode hereingebrochen ist, auszukosten. Gegen ^9 Uhr erschien ich auf dem Plan. Es war noch früh an der Zeit, das Gros der Gläubigen war noch zu erwarten. So hatte ich Zeit, mich ein wenig umzublicken. Am Saal des Vereinshauses und seiner Ausstattung ist Besonderes nicht zu when. Die übliche Schablone. Rechts von dem Mittelgang sind die Bänke für die Männer, links für die Frauen. Vor» das Rednerpult, zu beiden Seiten davon einige den Bänken zuqekehrte Stühle. In einer Ecke das Harmonium. Bilder und Sprüche ganz in der Art gehalten, wie stets in solchen Räumen. Interessanter war schon die Musterung der mich umgehenden lVesichter. Ich fand nicht viel von dem wilden Fanatismus, dem man in derartigem Milieu zuweilen begegnen kann. Dagegen wiesen die Gesichter der älteren Leute fast durchweg einen Ausdruck frömmelnder Ergebung, der mir wegen seiner Schwächlichkeit und Unmännlichkeit wenig geeignet erscheint, Sympathien zu erwecken. Schon die flüchtige Musterung hin terließ den Eindruck, daß sich hier die kraftlosesten, passivsten, unmündigsten Elemente der Stadt zusamemngefiindcn hatten, Geister, denen man innere Stärke und Selbständigkeit kaum Zutrauen möchte, Geister, die Suggestio nen aller Art hervorragende Empfänglichkeit entgegenbringen müssen. Nur die Jugend prangte in fröhlichster Frische. Ihr mag das Tun und Treiben, das sich hier abspielt, weniger Ueberzcugungswche fein, und wo das etwa doch der^Fall ist, da bat diese Ucbcrzcugnng doch noch nicht ihre sichtbaren Spuren in Gehaben und Mienenspiel zurückge- lassen. Leise, einförmige Töne drangen inzwischen fortgesetzt an mein Ohr: Nebenan wurde gebetet, bald von einer Männerstimme, bald von Frauen stimmen, zumeist in dem Charakter eines weinerlichen Lamenw. Der eine oder andere der neuen Ankömmlinge ging den Tönen nach und gesellte sich durch die offenstchcnde, links im Vordergründe befindliche Tür in den Nebenraum zu der Bcterichar. Trotzdem füllte sich unier I Saal in wenigen Minuten zusehends. Es mochte ^9 Uhr sein, als das Beten verstnmmte und das Häuflein der Intimen den Saal betrat. Der Beginn der Versammlung war in keiner Weise auffallend und aufregend. Ans den „Reichsliedern für Evangelisation und Gemein schaftspflege", die bekanntlich bei den verschiedensten Gemeinschaften und Sekten als Gesangbuch dienen, wurde zur Harmoniumbegleitung ein Lied gesungen. Tann erteilte der Leiter des Abends sich lernte ihn später als einen ehemaligen Bnchbnidermcister, der sich aus Begeisterung Nir die gute Sacke in einen Kolporteur gewandelt, kennens einem aus wärtigen „Bruder" das Wort. Dieser ließ die Versammelten die Bibeln ausschlagen und verlas mit pathetischer Stimme einen lanacn Abschnitt aus dem ersten Petribrief, den er dann zu erläutern versuchte. Frei lich irrte er bei dieser Erläuterung merkwürdig weit vow Thema ab. Er kam auch aus die besonderen Verhältnisse in Groß-Almerode zu sprechen und beschäftigte sich vor allem mit der Frage, warum die Gläu bigen Groß-Almerodes nicht noch viel mehr nnd größere Segnungen empfangen hätten. Der Grund ist der, so meinte er, daß die älteren „Geschwister" scheel sähen auf die jugendlichen Glieder der Gemeiu'cha't, die von Gott mit der Gabe des Znngcnv.dens beschenkt seien. Diese Disharmonie müsse nun gelöst werden. Sobald der Redner das Podium verlassen hatte, fiel alles auf die Kniee und es begann das Gebet. Dem ersten Beter folgte unmittel bar ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Ost sielen mehrere Stimmen zu gleicher Zeit ein, und es war dann eine Mackitfrage, welche von ihnen den Sieg behaupten würde. Die Frauen hielten sich zuerst ein wenig zurück, holten aber später das Versäumte reichlich und überreichlich nach. Der Inhalt der Gebete war höchst konventionell und nichtssagend. Alle begannen sie ohne Ausnahme mit einem Dank, daß Christus auch heute wieder in den Seelen der Gläubigen wirken wolle, und endeten mit der Bitte, doch nun sein Werk „voll und ganz" zu tun und reichlich zu stärken und zu segnen. Aber man hatte nicht viel Zeit, sich an diesen Worten zu erbauen, denn nun setzten rasch hintereinander eine Anzahl merkwürdiger Ge räusche ein. Zuerst hatte man das Empfinden, als hätte sich plötzlich ein starker Frost über die Versammlung gelegt. Man hörte hier und dort ein Zähneklapperii, ein Sich-Schütleln, ein Prusten, alles Ge räusche, die lebhaft an Eindrücke aus dem Schwimmbassin erinnern konn ten. Bald kamen Seufzer hinzu. Seufzer, wie in tiefster Not hervor- gestoßen, lange nachhallend, quälend, aufreibend. Uird nun die ersten Ruse: „O Jesus, kvmm doch!" „Mache dein Wort wahr!" Komm doch Jesus, o Jesus, o Jesus!" Wie ein wahnsinniger Taumel ergreift es die betende Menge. Die Ruse werden zu Schreien, die sich aus der Kehle herausringen wie verzweifelte Hilfeschreie in höchster Todesnot. Tas Seufzen und Stöhnen wird immer dringlicher, immer wilder und übertönt für Augenblicke alte anderen Geräusche, die den Raum erfüllen. Neue Laute mischen sich in den Chor: ein Pfeisen, ein Zischen, und nun plötzlich bricht-sich eine feste, fast rauhe Mädchenfrimmc Bahn, die unverständliche Silben in die Mei^e hinauswirst. Was soll das? Die allgemeine Freude gibt bald Ausschluß darüber: Der Heilige Geist hat gesprochen. „Herr, gib die Auslegung!" sieht mit bewW'amem Pathos ein Solo, und „Herr, gib die Ausiegui^!" wiederholt mit ge- steigerten; Temperament der Chor. Und die Auslegung kommt. Ein Jüngling, der auf der ersten Bank seinen Platz hat, gibt sie: „Der Herr will uns alle segnen!" Eine Bewegung bacchantischer Freude durchzieht die Reihen, und glücksiruniene Ru;e werden überall laut. Wer nicht ruft, gibt durch einen den ganzen Saal durchschallenden Seuf zer der Erleichterung seinen Gefühlen Ausdruck. Von jetzt ab gehört alle Aufmerksamkeit den Zungenrednern und Zungcnredncrinnen. Es wird zioar noch wcitergcbctet, aber niemand hört mehr darauf; alles harrt der mystischen Schreie, die die Gott- begeistcncn, die sich ans die vordersten Reihen verteilt haben, von sich geben. Drei Mädchen nnd zwei junge Männer spielen dabei die Haupt rolle. Während die Mädchen nur unartikulierte Laute ausstoßen, also „in Zungen sprechen" köunen, erfreuen sich die beiden männlichen Zniigenreoner auch der Gabe der Auslegung. Eines der Mädchen hat nur einen einzigen Schrei aus ihrem Repertoir. „Toje, toje, toje, toje to" so heißt er. csic brüllt es bald wütend, bald klagend, bald tröstend, bald drohend und mit einer Wildheit, die durch Mark und Bein geht, und dabei fliegen ihr die Glieder in hysterischen Krämpfen. Das ist das Furchtbarste: Die Krämpfe sehen ein. Zuerst waren es nur einzelne mehr oder weniger heftige nervöse Zuckungen, nun aber nimmt der Geist überhand und mit ihm im gleichen Schritte das wahn sinnige Spiel der Glieder. Hier stehen die Mädchen obenan. Wer nie solche Krämpfe gesehen hat, kann sich den Anblick, den dieses halbe Dutzend wild zuckender Menschenlciber bietet, nicht vorstellen. Wie von einer tödlichen Kranlheit geschüttelt, winden und krümmen sich die Körper unter der Macht des „Geistes". Der heilige Geist ist so stark, so erklären die Schwärmer, daß das irdische Gesäß ihn nicht fassen kann und über ihm zu zerbrechen droht. Die Gesichter sind dabei ver zerrt, die Augen stier, die Arme wirboln zuweilen völlig direktionslos in der Luft umher. Ein wüstes, wühlendes Stöhnen begleitet die Be wegung, ein Stöhnen, das oft in Schreien oder Schluchzen umspringt. Bei einigen verlaufen die Anfälle in einer allmählich aufsteigenden und dann wieder ebenso allmählich abfallenden Linie. Bei anderen brechen sie plötzlich, ja meist aus dem Höhepunkt ab. Die schon erwähnte Zungen rednerin, die nur über die mouotone Formel „toje toje .... to" ver fügt, schmeißt sich bei dem letzten „to" mit einem gewaltsamen Ruck ganz nach vorn und siegt nun unbeweglich, bis der nächste Anfall sie wieder aus ihrer Lethargie l-erausreißt. Auch jede ihrer Genossinnen, jeder ihrer Genossen hat übrigens eine besondere Note, eine besondere Note sowohl in der Art der Zuugensprache wie in der Art des sie begleitenden KrampfcS. Man kann, was besonders interessant ist, für ;edes von ihnen auch einen bestimmten Rhythmus feMcllen, der ru jeder ihrer Verkündigungen, ab und zu freilich oberflächlich variiert, wiederkchrt. Ob sich auch die Laute selbst stets wiederholen, läßt sich schwer er mitteln, da sie eine zu wenig charakteristische Färbung tragen und allzu rmdcutlich und meist auch viel zu rasch hervorgestoßcn werden. Otto Schopf hat in einer Boichürc über die Kasseler Versammlungen eine Aussage sestzubalten versucht: „8olmUc> mo ciul bscksiack votsolüßroi". So einfach sind aber die Aussagen in der Regel nicht. Mit Vorliebe werden Mischlautc gebraucht, Töne, die man als undefinierbar an sprechen muß, weil sie bis zu völliger Unkenntlichkeit ineinander ver- schlcist werden, und nur ganz selten einmal kann man einem reinen Vokal begegnen. Man könnte sagen, auch die Laute dieser Zungenredner ge fallen sich in hysterischen Zuckungsbcwegnngeu. Am syrnpathischsten spricht (man sagt aber wohl besser: schreit) eines der Mädchen; es hört sich au, als wenn ihre Stimme gleich einer vulkanischen Kraft aus den tiefsten Gründen mystischer Unerwrscklichkeit heransbräche, um nun mit sieghafter O-ewalt alles in ihren Dienst zu zwingen. Wirkt dieses Mäd chen durch die elementare Plötzlichkeit ihrer Ergüsse, so einer der männ lichen Zirngenredner durch die behäbige Breite, mit der er seine Orakel sprüche in die Menge hineinbrüllt. Sein Nachbar wirbelt erst ein paar Worte heraus, die wie ein Kanonenschuß lärmen und leitet dann nach dieser Einleitung in einen etwas sawsteren Ton hinüber. Was aber hat der „Heilige Geist", der sich durch das Medium dieser Zungcnrcduer äußert, zu sagen? Die Dolmetscher find unermüdlich in der Auslegung, aber ihre Deutungen sind von erschreckender Saft- und Kraftlosigkeit. Nein, hier ist kein Geist am Werke, weder Gottes Geist, noch der Geist reifer nach irgend welcher Hinsicht bedeutsamer oder auch nur beachtenswerter Menschen. Die Ausleger bewegen sich durchweg in den farblosesten und unverbindlichsten Phrasen; daß diese trotzdem zünden, kann nicht für die Phrasen ivrechen, sondern einzig gegen das Publikum, das sich von ihnen betören läßt. Ein Paar der Geistesoficnbarungen, denen ich lauschen durste, seien hier angeführt: „Jeuis ist in unserer Mitte." „Jesus blickt in jedes Herz." „Blickt auf Golcm.tha!" „Sein Blut reinigt uns." „Sein Blut reinigt bis auf die Wurzel." „Es sind unaufrichtige Seelen im Saale." „Was wollt ihr zum Diebe an Gott werden?" „Ihr sollt euch alle beugen." „Es sind Seelen da, die sich mit ihrem Nachbar noch nicht versöhnt haben." Das sind noch die originellsten und eindrucksvollsten der Gcistesworte. Es kann auch Vorkommen, daß das Wort eines Zungenredners nur die Aufforderung enthält, eine bestimmte Stelle dec Bibel zu lesen. Dieser Aufforderung kommt dann die Veriammlunq natürlich schleunigst nach. Ueürigcns können die aleichen Laute die verschiedensten Tinge bedeuten. Ich kann versichern, daß sich „toje to" auf hundertfache Art verdeutschen läßt. Weiter ist noch zu erwähnen, daß ganz kurze Ausrufe der Zungen redner zu ziemlich umfangreichen Uebcrsetznngen Anlaß geben können, während viel längere Ergüsse mit einem oder zwei Aorten vmn Ueber- setzcr abgetan werden. Alle Deutungen der Ausleger werden mit lauter Freude oder, bedeuten sie Tadel und Strafe, mit lautem Wehklagen von der Menge ausge nommen. Jeder Ausspruch läßt die Wogen der Stimmung höher geben, und mehr und mehr greift bei den meisten der Gläubigen der Wahn Platz, in gan.z besonderer Weise vom Herrn gesegnet zu sein. Anders ist natürlich die Wirkung ans die bisher unbckchrten Seelen. Je länger dieses Beten nnd Sckrcien währt, desto qualvoller fühlen sie die Last ihrer vermeintlichen nnd wirklichen Sünden, und lvenn der Höhepunkt ihrer ckstafi'chen Reue erreicht ist, suchen sie durch ein öffentliches Sün- dcnbekenntnis den Frieden zu erlangen. „O Jesus", stammelt mit lallen den Lippen ein Mädchen, „dn hast mich gesucht, seit Jahren schon, und ich bin dir nicht ge'olgt. O Jesus, dn weißt, ich habe wohl qewollt. O Jesus, es war aber zu sihwer für mich. Du weißt, wie schwer c? cicrade für mich war. llnd ich kam nicht los. all die Jabre lang. Aber du bast mich gerufen und heute rufst du wieder. Und heute folge ich dir. o JesuS, o Jesus", und nun kippt die Stimme über in ein bitteres, krampfhaftes Weinen und Jammern. Verantwortlicher Redakteur: Otto Flake in Leipzig.
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