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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.11.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-11-16
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189811166
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18981116
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18981116
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-11
- Tag 1898-11-16
-
Monat
1898-11
-
Jahr
1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.11.1898
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Größere Schriften laut unserem Preis» Verzeichnis Tabellarischer und Ziffer,:-.!- nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen»Ausgabe, ohne Postbeförderunß -4t 60.—, mit Postbefürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Marge n-Ausgabe: Nachmittags 4 UhL. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck nnd Verlag von E. Polz in Leipzig. S2. Jahrgang. Tage -er Einkehr. L2 Am heutigen ernsten Festtag, sowie am nächsten, dem Todtensonntag, werden an vielen anderen Orten des Vaterlandes Trauerfeierlichkeiten für den entschlafenen Für st en Bismarck abgehalten. Sie gewinnen um so größere Weihe, als die Beisetzung der Leiche nicht, wie angenommen worden war, in diesem Monat stattfinden nnd als dadurch ein für das ganze nichtamtliche Deutschland in Aussicht genommener Trauertag aus unbestimmte Zeit verschoben wird. Am Bußtage, am Todtensonntage mahnen Kirche und Natur an Scheiden und Vergehen. Ihre eindringliche Sprache aber wird in diesem Jahre übertönt durch die Stimme des Schicksals, das unö an der alle Menschen überragenden Gestalt BiSmarck's gezeigt hat, wie auch das Gewaltigste dem allgemeinen Gesetze von irdischer Endlichkeit verfallen ist. Der größte Meister ist vom Tode bemeistcrt und un barmherziger als die Natur, deren Schlaf ihr Wieder erwachen vorbereitet, ist das Schicksal. Der in FriedrichSruh eingezogene Winter wird nimmermehr einem Frühling für das deutsche Volk weichen. Bismarck's Werke zwar werden ewig zu uns reden und binnen Kurzem werden wir ein Vermächtniß seines Geistes kennen lernen dürfen, aber er ist uns unwiederbringlich dahin und die kleine Spanne Zeit seit seinem Hintritt hat wiederum gezeigt, wie wenig die Kleinen einem Großen ab zusehen vermögen, wie weit Vie Kraft von Beispiel und Lehre hinter der führenden That, dem lebendigen Worte zurückbleibt. Noch nicht vier Monate ruht der Große im Sarge und Manches ist geschehen, was bei Lebzeiten des auf den Grund der Dinge blickenden Kritikers Wohl unterblieben wäre. Manches Andere wiederum wäre Wohl dennoch erlebt, aber vom deutschen Volke ernster beachtet und weniger nach der Außenseite beurtheilt worden. Zwischen heute und dem 28. Juli liegen die Abrüstungsnote des Grafen Murawjew, ein erneutes Abkommen mit England, die einst nie für möglich erachtete Verschärfung eines Streites mit einem Bundesstaate und in der ganzen deutschen und preußischen Politik ein unverkennbares weiteres Zurücktreten der Bedeutung der allerdings noch immer sogenannten ver antwortlichen Minister. Fürst Bismarck entbehrte vor seinem Tode acht Jahre hindurch jeglichen MachtbesitzcS, aber manche Erscheinung, die, im FriedrichSruherSpiegel gesehen,daS deutsche Interesse allzu entstellt zurückwarf, verschwand deshalb oder trat doch in den Hintergrund. Damit ist es nun vorbei. Bald nach der Entfernung des Einzigen von dem mit unvergleichlicher Meisterschaft geführten Ruder sagte ein süddeutscher Patriot vor seinen Wählern: „Die Zeit kann kommen, wo wir Bis marck mit den Fingernägeln aus der Erde kratzen möchten. Hoffen wir, daß sie unS erspart bleibe." Hoffen wir cS. Aber mit dem Vertrauen, das Schicksal möge es nicht allzu- schlimm mit uns meinen, ist es nicht gcthan. Die deutsche Nation und ihre Vertreter sollten, soweit es in ihren Händen liegt — also mehr, als sie thun — das Schicksal mitzulenken bemüht sein. Der Bußtag, der dem Tode eines Bismarck folgt, sollte auch zur Einkehr im politischen Sinne mahnen. Der lippische Zwischenfall. Nachdem der Brief des Graf-Regenten von Lippe an den Kaiser, dessen Antwort und die von dem Regenten an die deutschen Bundesfürsten gerichtete Nechtsverwahrung im zweifellos authentischen Wortlaute bekannt geworden sind, ist eine feste Grundlage für eine Prüfung der staatsrechtlichen und der politischen Seite des Falles gegeben. Besonders die erstere Seite beleuchtet einer unserer Mitarbeiter, der sich folgendermaßen äußert: „Der unbefangene Beurtheiler muß zu dem Ergebnis; ge langen, daß in Bezug auf diesen Zwischenfall — der schaum- burgische Antrag im Bundesrath gehört bekanntlich nicht hierher — das Recht nicht durchweg auf weiten des Graf-Regenten liegt. Der Gras-Regent bezeichnet es in seinem ehrerbietigen Schreiben an den Kaiser als einen Eingriff des commandirenden Generals des VII. Armeecorps in die Rechte ves ContingcnlSherrn, daß der coinmandirende General die Anordnung des Graf-Regenten, den Mitgliedern seines Hauses militairische Ehren zu erweisen und ihnen das Prädicat „Erlaucht" zu ertheilen, aufgehoben habe. Der Graf-Regent beruft sich für seine Auffassung auf eine Stelle der zwischen Preußen und Lippe abgeschlossenen Militair- convention, die dem Contingcntsherrn die Stellung und die Ehrenrechte eines commandirenden Generals gegenüber den im Fürstentbum dislocirenden Truppen einränmt. Darf aber ein commandirender General von sich aus anordnen, daß seinen Söhnen und Töchtern militairische Ehren erwiesen und ihnen das Prädicat „Erlaucht" ertbeilt wird? Zweifel los darf er das nicht. Ein Eingriff des commandirenden Generals des VII. Armeecorps in „verfassungsmäßige Ehren rechte" liegt demnach nickt vor. Wenn eS dem Graf-Regenten ferner als „unberechtigt er scheint, daß der commandirende General des VII. Armee corps, der Dienstvorgesctzte, den „Landeskindcrn" des Graf- Regenten befiehlt, einer vom letzteren getroffenen Anordnung „auf einem nickt militairifcken Gebiete ungehorsam zn werden", so enthält diese Ansickt zugleich einen Jrrtbum und einen Widerspruch. Wohl schwören die Wehrpflicktigen dem LandeSherrn Treue, und die Osficiere, die in Lippe vom preußischen Könige ernannt und für ihn vereidigt werden, stellen daneben noch einen Nevers aus, durch welcken sie sich verpflichten, das Wohl des Landesherrn zu fördern; der reichsgesetzliche Schwerpunct des Fahneneides liegt aber in der in denselben auf Grund des Artikels 64 der Reichs verfassung aufgenommenen Verpflicktung, „den Befehlen tcS Kaisers unbedingt Folge zn geben". Schulze commcntirt in seinem „Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes" die an- gezogcne Stelle folgendermaßen: „Diese „Verpflichtung geht allen anderen vor nnd ist im ConflictS- salle die entscheidende. Die unbedingte Gehorsamspflicht besteht natürlich nicht nur persönlich dem Kaiser, sondern auch allen Denen gegenüber, die ihn in der militairischen Diensthierarchie im Befehle vertreten." So klar dieser Sackverhalt, ebenso widerspruchsvoll ist die Annahme des Graf-Regenten, seine in Rede stehende An ordnung sei „auf nicktmilitairischein Gebiete" getroffen. Dann hätte sich der Graf-Regent dock nicht darauf beziehen dürfen, daß jene Anordnung ein Ausfluß seiner Eontingentsherrlich- keit sei. Ueber die Bedeutung der letzteren bat sich der Graf- Regent offenbar einer Täuschung bingegeben, denn sie gab ihm, wie schon erwähnt, nicht daS Recht zu der von ihm ge troffenen Anordnung. Zu einer solchen war zweifellos die Genehmigung des Kaisers erforderlich, resp. ein Zusatz zur preußisch-lippischen Militairconvention. Der Kaiser ist daher verfassungsrechtlich in der Lage gewesen, die Beschwerde des Graf-Regenten über den commandirenden General Les VII. Armeecorps abzulehncn. Die Art aber, in der die Ablehnung durch das bekannte Telegramm er folgte, läßt die Nechtsverwahrung des Graf- Regenten, soweit sie nicht seine Besckwerde über den commandirenden General des VII. Armee- corpS betrifft, als begründet erscheinen. Denn weder in der Form der Anrede, noch der Uebermittelung, nock in der Verweisung und Verkittung ist zu verkennen, daß sie die Ausübung einer disciplinären Correctur gegen ein deutsches Staatsoberhaupt bedeuten, welche das ver fassungsmäßige Verhältniß zwischen den Bundesfürsten in seinen Grundlagen verändert. Was die politische Seite des Zwischenfalles anlangt, so beklagen wir aufs Tiefste, daß er zeigt, wie vollständig mit den Grundsätzen der Politik des Fürsten Bismarck in: Puncte der Schonung dynastischer Empfindlichkeit ge brochen worden ist. Die Erwägung, daß die Aufhebung dec Anordnung des Gras-Regenten geeignet war, die Autorität des Graf-Regenten in Lippe zu untergraben, hätte von der Aufhebung seiner Anordnung nm so mehr abhalten muffen, als jene Anordnung ursprünglich im Einverständniß mit dem Generalcommando des VII. Armeecorps erfolgt und in Kraft getreten war. Wie jetzt die Dinge sich entwickelt haben, ge reicht der lippische Zwischenfall nicht nur dem staats feindlichen RadicalismuS, sondern auch dem Aus lande zur Freude, welches sich erinnert, daß 1848/49 die deutschen EinigungSvcrsuche vorzugsweise an der dynastischen Empfind lichkeit gescheitert sind, und jetzt ausschweifende Hoffnungen nährt, die, an sich hinfällig, doch unserem Ansehen nicht förderlich sind." Ein anderer unserer Herren Mitarbeiter geht auf die politische Seite des Falles noch näher ein und erörtert be sonders die Frage nach den Urhebern der Veröffentlichung und ihren Zwecken. Seine beachteuswerthen Ausführungen lauten: „Eine kürzlich erschienene,dieReform desArbeiterversickerungs- wescns behandelnde Schrift des ehemaligen Präsidenten des Neichsversickerungsamtes, Or. Bödiker, zeigt an einem merk würdigen Beispiel, wie sckwer zuweilen die Ursache der Ver öffentlichung geheimer amtlicher Schriftstücke ist und ihre Be weggründe zu errathen sind. Man ersieht da, daß in einem nicht unwichtigen Falle einer IndiScretion der nächstliegende und allgemein gehegte Verdacht unbegründet gewesen ist. Wir verweisen auf diese Irrung, weil es nicht an Stimmen feblt, die die Bekanntgabe des Schreibens des Gras- Regenten von Lippe-Detmold und seine Verwahrung gegen die kaiserliche Antwort auf den Verfasser zurückführen. Wir sind aus triftigen Gründen überzeugt, daß die Spur falsch ist, und hegen die Vermulhung, daß der Veröffentlickcr dieser Schriftstücke im Kreise der Hintermänner der soge nannten Rechtspartei zn suchen sei. Die in Fällen dieser Art von selbst sich aufdrängende Frage: cuibcmo? weist mit zwingender Gewalt aus eine solche Stelle hin. Die „Rechts partei" ist bestrebt, die im Jahre 1866 geschaffene öffentliche Ordnung in Deutschland als eine rechtswidrige und darum als eine Quelle weiterer Rechtswidrigkeiten hinzustellen. So haltlos diese Kennzeichnung einer völkerrechtlich unanfechtbaren und nationalpolitisch unvermeidlichen Reform ist, so gewiß ist eS, daß Vie von Berlin ausgegangene Behandlung des Regenten von Lippe es ermöglicht, ihm neue Gläubige zuzuführru. Die Feuilleton. Ein Bußtag. Novclletle von Eugen Reichel (Berlin). Nachdruck verboten. Schwer hing der dicke Novembernebel über der Stadt! Agnes Brauning war gleich nach Tisch mit ihrer Mutter nach dem Friedhof hinauszefahren. Zuerst batten sie gemein sam daS Grab des vor zwei Jahren verstorbenen Vaters besucht; dann war Agnes allein weitergegangen — einen Weg von fünf Minuten an geschmückten Gräbern und ernst gestimmten Männern, Frauen nnd Kindern vorbei — bis sie an einem fast überreich mit Blumen und Kränzen bedeckten Hügel stehen blieb, dessen Marmorstein die Aufschrift trug: Heinrich von Auer, Regierungsreferendar, geb. 10. August 1867, gest. 5. Juli 1890. Agnes kniete zu Boden, weinte dann eine Weile still vor sich hin und verrichtete schließlich ein stilles Gebet — bis eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legte. Sie blickte auf. Es war ihre Mutter. „Komm Agnes — Du wirst Dich erkälten — eS ist spät. Wir wollen nach Hause gehn." „Ja Mutter — gleich." Sie drückte noch einen Kuß auf den Grabstein — dort wo der Name stand und folgte dann der bereits Vorangegangenen. „Du solltest endlich mit dieser Erinnerung aufräumen, Agnes" — sagte Frau Brauning, als Beide wieder ihre Wohnung betreten und sicks behaglich gemacht hatten. „Fast acht Jahre ist er nun todt — und gehabt hast Du dock ohnehin nichts von ihm — da wärS wohl Zeit, daß Du die Trauer ablegst, wieder in die Welt hineinlachtest und Dich bcmüthest, einen Mann zu finden, ehe es zu spät wird." „Du weißt ja, Mutter — ich will nicht heirathen." „Das spricht man so hin. Aber ich werde nicht eher wieder froh werden, bi« ich Dich untergebracht weiß." „Willst Du denn allein bleiben?" „Ich kann Dir ja inS Heim Deines Mannes folgen." „Ach, bitte Mutter — lassen wir das — wenigstens heute." Sie gab der Alten einen Kuß und zog sich in ihr Stübchen zurück, dessen Hauptschmuck in einer eingerahmten großen Photographie eines hübschen, keck dreinschauenden jungen Manne« bestand. Sie setzte sich diesem Bilde gegenüber und schaute so lange zu ihm empor, bis ihre schönen Augen sich mit Thränen füllten. All das Glück und Unglück, daß sich für sie an das Original dieses Bilde« knüpfte, wurde aufs Neue in ihr lebendig; aber auck die Reue über da« eigene Ver schulden, daS ihr Unglück bewirkt hatte, wachte in dieser Stunde wieder auf. Ja — schließlich war eS doch einzig ihre Untreue dem jungen Manne gegenüber, der sie ebenfalls geliebt» dem sie halb und halb ihre Hand zugesagt hatte, waS all' daS Schreckliche zur Folge ge habt. Warum war sie in ihrer ersten Empfindung wankend geworden? Warum war sie so schlecht gewesen, dem vornehmen Referendar, der fich doch vielleicht nicht berabgelafsen hätte, daS einfache Mädchen, die Tochter eines Subalternbeamten, zu heirathen, ihr Herz zu schenken — sich an ihn zu hängen und dadurch ihren ersten Freund, der es gewiß gut und ehrlich mit ihr gemeint hatte, wenn er auch nur ein schlichter Bureauschreiber war, zur Verzweiflung zu treiben? Zwar, eS war in jedem Fall eine verbrecherische That gewesen, durch die der Geliebte dem Leben und ihr entrissen wurde, und sie batte keinen Theil an diesem Ver brechen, daS der Thäter mit einer siebenjährigen Gefängniß- strafe büßen mußte; aber ganz ohne Schuld fühlte sie sich trotzdem nicht — und gerade dieses stille Schuldbewußtsein verschärfte ihren Schmerz und ließ sie noch immer nickt den Frieden finden, durch den ihre Seele ganz hätte genesen können. Gedanken dieser trüben Art beschäftigten sie noch, als die Glocke der Corridorthür anschlug. Sie glaubte, daß die Mutter öffnen würde, und rührte sich nicht. Bis jetzt eben die Glocke zum zweiten Male ertönte; da mußte sie Wohl annehmen, daß die Mutter drüben eingenickt war. Sie ging in den Flur hinaus und fragte, wer da sei. „Ernst Heidenreich" — gab eine trübe und gedrückte Stimme draußen zur Antwort. Agnes überfiel unwillkürlich ein Schauer. Ernst Heiden reich — daS war ja der Freund, dem sie so weh' gethan hatte, und der in seiner eifersüchtigen Wuth zum Mörder, zum Schöpfer ihres Unglücks geworden war! Aber wie kam der jetzt hierher? Dem batte man doch sieben Jahre Ge- fänguiß zugetheilt? Sollte er von dort entsprungen sein? Doch nein — die sieben Jahre müssen ja wirklich schon seit Wochen um sein — sie hatte nur nicht daran gedacht . . . Und jetzt stand der Mensch vor ihrer Thür und begehrte Einlaß. Ein Gefühl von Angst bemächtigte sich ihrer. Sie wollte nicht öffnen, oder wenigstens vorher die Mutter wecken — denn wer konnte eS wissen, vielleicht war er nur gekommen, um jetzt auch an ihr Rache zu üben. „Soll ich draußen bleiben?" Hub in diesem Augenblick die Stimme draußen wieder an, aber in einem Tone, der so gar nicht auf Gräßliches schließen ließ; im Gegentheil — er klang so zaghaft, so vergrämt, ja so rührend, daß AgneS nicht länger zögern mochte. Ohne erst noch die Mutter im Schlafe zu stören, schloß sie die Thür auf. Ein fast ergrauter Mann stand vor ihr. Von einem blitzartig in sie einschlagenden Gefühl deS Mitleids bis inS Innerste ergriffen, trat sie ein paar Schritte in den Flur zurück. „Du erschrickst Wohl vor mir, Agnes?" fragte er, ohne sich von der Stelle zu rühren, sie nur mit seinen matt ge wordenen grauen Augen wie ein Hilfeflehender anblickend. ES berührte sie seltsam, daß «r sie wieder mit dem ver traulichen „Du" anredete, gleich als wenn gar nichts in den sieben Jahren zwischen sie getreten wäre. Aber sie war noch so erregt, daß sie sich außer Stande füdlte, ein Wort ru er widern; sie machte jetzt nur die Thür etwas weiter auf, um ihm zu verstehen zu geben, daß er eintreten sollte — denn es hätte ihr herzlos geschienen, den Mann, der um ihret willen unglücklich geworden war, abzuweisen. Er trat ein; und nachdem sie schweigend die Tbür hinter sich geschlossen hatte, geleitete sie ,hn m ihr Stübchen. „Ich danke Dir, AgneS, daß Du mich eingelassen hast — ich hätte auch nicht eher geruht, bis ich Dick wiedergesehen hätte — denn —" er hielt inne. Sein Blick war auf da< Bild deS ehemaligen Nebenbuhler« gefallen. Sie bemerkte dies und erröthet« unwillkürlich. „Hast Du ihn denn wirklich so sehr geliebt, AgneS?" Sie nickte stumm. „Und ich hab' ihn Dir entrissen!" — er wandte dem Bilde den Rücken zu und starrte zu Boden. „Du hast ja schon genug dafür büßen müssen", — es waren die ersten Worte, die sie hervorbringen konnte; nnd so trübe sie klangen, sie lächelten ihm doch wie Sonnenschein in die Seele — freilich, wie Novembersonnenschein, der müde durch die nebelfenchte Lust schimmert. Sie hatte fick inzwischen gesetzt und lud jetzt auch ihn mit einer stillen Handbewegung zum Sitzen ein. Er nahm ihr gegenüber Platz und so, daß er das Bildniß des Referendars nicht sehen konnte. „Ja" — fubr er jetzt fort — „schwer genug hab' ich dafür büßen müssen; aber eS ist mir immer, als ob ich es trotzdem noch lange nicht ausreichend gebüßt habe. Du kannst Dir nicht vorstellen, AgneS, wie ich in den sieben Jahren gelitten habe — wie ich noch leide." „Der Todte wird ja nun doch nicht mehr lebendig." „Mir wär' eS ganz recht — ja, ick gäb' viel darum, wenn er wieder lebendig würde und Dich glücklich machen könnte." „DaS ist nun für immer vorbei." „Mich hast Du seitdem natürlich von ganzem Herzen gehaßt — nicht wahr, Agnes?" Sie antwortete nicht gleich; dann sagte sie: „Gehaßt hab' ich Dich nickt; denn ick hatte Dir ja auch viel abzubitten — aber natürlich — mit Liebe hab' ich Deiner auch nicht mehr gedenken können." „Darauf hab' ich auch nicht gerechnet. Aber ich bin schon froh, daß Du mich nicht gehaßt, daß Du mir nicht geflucht hast; denn freilich — der Unglücklichere von nn« Beiden bin ja ick. Du verlorst doch damals nur den Geliebten — ich die Geliebte und alles andere dazu. Ach — AgneS — Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mich das heruntergebracht bat. Meine Mutter ist inzwischen gestorben — die guten Freunde und Verwandten, die ich sonst noch hatte, wollen nichts von mir wissen — meine Stellung kann ich auch nicht wieder bekommen — da bin ich so ganz unten, so ganz tief. Und die Vorwürfe noch obenein —Er hielt inne: die Bewegung bemeisterte ihn. „WaS gedenkst Du denn zu beginnen?" hob sie nach kurzem beiderseitigen Schweigen an. „Ich hab' mich nun in den paar Wochen, seit sie mich au« dem Gefängniß entlassen haben, hier herum gedrückt, aber der Stellung Suchenden sind zu viele — und da ich Niemand habe, der ein gutes Wort für mich rinlegt, so ist gar nicht daran zu denken, daß ich hier in absehbarer Zeit mein Brod finde. Da hab' ich mich nun entschlossen, nach Amerika auSzuwandern oder nach unseren Eolonien zn gehen — ich weiß noch nicht genau, wozu ich mich entscheiden werde — ein- nur weiß ich, daß ich nicht leben, nicht die Heimatb verlassen kann, ohne mit Dir versöhnt zu sein. Auf alles Andere hab' ich verzichtet — zusammen können wir zwei nicht mehr kommen — der Todte jteht zwischen un- und so manche« andere. Aber versöhnt sein muß ich mit Dir, wenn ich zur Ruhe kommen soll. Darüber bin ich mir ganz klar — und nur deshalb hab' ich« gewagt Dich aufzusuchen — beut — am Bußtag. „Du hast recht, Ernst — zusammen können wir zwei nicht mehr kommen — und wenn Du daS selbst einsiebst, so erleichtert mir das in dieser Stunde Vieles. Du darfst mir glauben, daß ich es in den letzten Jahren bitter bereut habe. Dir damals untreu geworden zu sein — obwobl ich nickt anders konnte, obwobl mich eine unwiderstehliche Macht dem Andern in die Arme trieb — so war es doch ein Unreckt gegen Dick — und ich hab' es denn auch sckwer genug büßen müssen. So sind wir beide Büßer geworden und werden es möglichenfalls bis ans Ende unseres Lebens bleiben; aber auch mir soll es ein Trost sein, zu wissen, daß Du mir ver geben hast. Ich hasse Dich nicht mehr — ich bedaure Tick und will wünschen, daß eS Dir in der Fremde gelingen möge, den Frieden, das Glück, das ich Dir geraubt habe, wicder- zusinden." „Ich danke Dir, AgneS. Jetzt hoff' auch ich, daß mir daS Leben wieder lächeln wird — mög' es auch Dir wieder lächeln; denn ich sehe wohl, daß Du Dich von dem Schlage noch immer nicht erholt hast. Vielleicht bringt auck Dir diese Stunde Genesung oder doch den Anfang dazu. Soviel sei versichert — ich werde stets wie ein Freund für Dich empfinden — und wenn wir auch nicht zusammen kommen können — daß wir im Grunde zusammen gehören — das will ich nicht vergessen. Vergiß auch Du es nicht — es lebt sich leichter, wenn man weiß, daß man einen Freund in der Welt hat." „Ja, Ernst — eS lebt sich leichter. Und auch ick danke Dir für diesen Besuch — eS war gut, daß Du den Weg zu mir fandest — es ist schön, daß wir die paar Worte mit einander gewechselt haben. Und wenn Du mal aus der Fremde an mich schreiben solltest — sei gewiß, daß ich ant worten werde — wie eine Freundin dem Freunde antwortet. Und wünschen will ich Dir, daß Du ein Mädchen findest, das Dir besser Treue hält, als ich sie Dir gehalten habe." Si- reichte ihm die Hand hi»; er küßte sie. „Und nun will ich wieder gehen, AgneS. Grüß mir Deine Eltern — sie leben doch noch?" „Mutter lebt noch. Vater starb vor zwei Jahren." „Dann grüß' mir Deine Mutter recht herzlich. Und nun leb' wohl, AgneS — und wenn Du eS noch ein bischen gut mit mir meinst, so reich mir Deinen Mund, daß ich ihn küsse." Sic schüttelte schmerzlich daS Haupt. „Nein, Ernst, ich hab' es nicht mehr verdient — und dann — ich will nicht auch noch ihm untreu werden. Einem muß man doch Treue halten — und er ist ja um meinetwillen gestorben." „Du hast recht, Agnes. Ach — wie ick noch den Tobten beneide!" Er seufzte tief auf. Dann erhob er sich — drückte ihr noch einmal die Hand und ging hinaus, von ihr begleitet. Erst al- sie wieder allein war, stürzten ihr die Tbränen in Strömen aus den Augen — aber auch er hatte Mühe, sich zu fassen; und eS dauerte etliche Minuten, bis er sich wieder so weit in der Gewalt hatte, um sich auf die Straße hinauszuwagen.
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