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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.12.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-12-13
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981213023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898121302
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898121302
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-12
- Tag 1898-12-13
-
Monat
1898-12
-
Jahr
1898
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Sxtra»Beilage» (gefalzt), »,r mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderun^ 60.—, Mlt Postbrsörderung 70.—. Anzeiger. Amtsblatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und N-lizei-Ämtes -er Lta-1 Leipzig. Annahmeschluß für Anzeigern Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Le! den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet« an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. P olh in Leipzig, Dienstag den 13. December 1898. S2. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 13. December. Der nene Reichstag hat seinen ersten Verhandlungstag ohne GemüthSbervegung hinter sich gebracht. Die private Unterhaltung in dem anständig, aber bei Weitem schwächer als in der constituirenden Sitzung besuchten Hause war leb hafter, al« daS Interesse an den vom Präsidenten aufgerufenen Rednern. Ausgiebigen Gesprächsstoff bot vor allen Dingen die, wie es scheint, sehr vielseitige und an regend« Aussprache, die der Kaiser dem Neichslagspräsidium gegönnt Halle. Der vom halbamtlichen Telegraphenbureau gelieferte Bericht über den Empfang erschöpft nicht im Ent ferntesten die Fülle der politischen Unterweisungen, deren die Herren Graf Ballestrem, Or. v. Frege-Weltzieu und Schmidt lheilhaftig geworden sind. Der Monarch hat ihnen ein wenn nicht vollständiges, so doch jedenfalls inS Detail gehendes ExposS über die auswärtige Lage gegeben — wie fick von selbst versteht, nicht außer Zusammenhang mit derMilitair- vorlage. Die Bedenken, die im Iabre 1893 gegen das vom Throne herab erfolgte Werben für Heeresforderungen theils im Geheimen gehegt, theils laut geäußert wurden, werden sich diesmal, wenigstens vom Standpunkt einer Von-der- Hand-in »den-Mund-Politik, nicht erheben. Denn eine Mehrheit für daS Wesentliche der Militairvorlagc ist von Anbeginn sicher. Lebhaft erörtert wird auch nur die That- sache, daß sich der Kaiser in Gegensatz zu seinen Rächen, insbesondere dem KriegSininister, dadurch zu bringen schien, daß er den Herren vom Reichstagspräsidium eröffnete, er hätte zur Schonung der Steuerkraft des Landes (für das Heer) nicht mehr Vorschlägen lassen. Da der Monarch gemäß seiner obersten Pflicht, das Reich wehrfähig zu erhalten, jedenfalls nicht weniger als das absolut Nöchige hat fordern lassen, so gewinnt die Opposition an dem AuS- sprucve des Herrschers einen Anhaltspunkt für die Behauptung, die Minister hätten die Neigung, über daS unumgänglich Nothwendige hinauszugehen. Doch damit mögen sich die Minister abfinden. Weitere Kreise geht cs an, daß das ReichS- oberbaupt über den Verlauf und den Schluß der Sitzung, in welcher das Neichslagspräsidium constituirt wurde, seine Freude auSgedrückt hat. Was den Verlauf angebt, so ist in der kaiserlichen Bemerkung wahrscheinlich ein Eompliment für die drei neugewählien Präsidialmilglieder zu erblicken, unter dem „Schluß" kann aber jedenfalls nur der Nachruf des Grasen Ballestrem auf den Fürsten Bismarck zu verstehen sein. Da die Thronrede deS ersten Kanzlers nickt Erwähnung getban hat, so erinnert sich der Unbefangene unwillkürlich an das bekannte sie v<>8, non vodio. Fürst Bismarck ist aber dem deutschen Reichstag nicht mehr gewesen als dem deutschen Kaiser und König von Preußen. Die fesselnden Gespräche über den Empfang des Präsidiums und das, wie wir hoffen, sehr fruchtbare Thema der von den agrarischen Parteien ernstlich in Angriff genommenen Zurückweisung deS Uebergriffes von BerufSazitatoren tkaten der Aufmerksamkeit für das Finanz- exposs des Herrn vonThielmann einigen Abbruch, obwohl man schon weniger fesselnde Etalsredner rm Reichsschatzamt gekannt Hal. Sachliche Kritik in wesentlichen Dingen werden seine Darlegungen kaum herauSfordern. In einem Punkte aber ist der Neichsschatzsecretair vielleicht zu optimistisch. Nicht in dem der unmittelbaren Finanzsachen. Er veranschlagt die Ucberschüsse Les künftigen EtatSjahres geringer, als die deS kaufenden. Aber die Gründungen und den hohen CourS der Industriepapiere als einen Maßstab de« volks- wirthschafllichen Gedeihens zu nehmen, wie Herr von Thielmann thut, ist vielleicht gefährlich. Seb, erfreulich war die Mittheilung, daß die Arbeiten für den autonomen Z o lltarif rüstig weiterschreiten. Was im Zusammenhänge damit über künftige Handelsverträge gesagt wurde, ist vorläufig nicht „aktuell". Wer weiß, wie man 1901 oder 1902 über diesen Gegenstand denkt? Ein zweck mäßig ausgestellter autonomer Tarif aber ist für alle Fälle gut. Wie eS der ausschlaggebenden Partei gebührt, stellte daS Centruin den ersten Redner aus dem Hause, Herrn Fritzen. Dir Regierung kann mit ihm zufrieden sein. Den Etat objektiv beurtheilcnd, verwies er den Schwerpunkt der Berathung der „ungenügend begründeten" Militairvorlagc in die Commission, wo man die eigentlichen Motive hören werde, „die wir aber nicht an die große Glocke hängen werden". Herr Fritzen ist also — und mit Grund — darauf gefaßt, in der Commission eine zwingende Rechtfertigung der Mehrforderung für das Heer zu vernehmen. Dieser zum ersten Wortführer des Centrums bestimmte Abgeordnete gab sich Alles in Allem als ein Mann der positiven und nicht der Abwebrmehrheit. Die von ihm beigemengten schärferen Ingredienzien wie daS Iesuitengesetz und dergleichen ändern so wenig an der Genießbarkeit seines Gerichts, daß wir voraussehen, das Centrum werde um des demo kratischen Anhangs willen noch eine gepfeffertere Speise auftragen lassen. Gestern war die schärfere Tonart zunächst Herrn Richter Vorbehalten. Es liegt kein Anlaß vor, auf seine Expektoration einzugehen. Der Mann hat nichts, aber auch gar nichts weiter hinter sich, als anti freisinnige Wähler, die aber noch weniger einen Socialdemo kraten als einen Freisinnigen in den Reichstag gelangen lassen wollten. Und was er persönlich bietet, ist, um bei dem früheren Bilde zu bleiben, aufgewärmte Kost. Wenn seinen Reden noch einige Bedeutung beigemessen wird, so liegt das, von den „Schlagern" abgesehen, hauptsächlich an der mit der Stärke deS Freisinns in schreiendem Mißverhältnisse stehenden Ver breitung der Fortschrittepresse, sowie an dem Gesetze der Trägheit. Es giebt uoch immer Leute, die sich schämen, eine Rede deS „berühmten Parlamentariers" nickt bemerkenswerth zu finden. An dem Schicksal der so sensationell aufgestutzten und mit so großer Reklame eingeführten Rcde Richter'S vom 18. Mai d. I. war aber zu erkennen, daß dieser Solist keinen nachhaltigen Eindruck mehr zu machen versteht. In der Wahlbeweguug, vier Wochen später, war sein Feuerwerk verpufft. Manches, was Herr Richter vorgebracht, würde, von einem andern, zur Besserung des Verbesserungsbedürftigen ehrlich bereiten Ab geordneten gesprochen, nützlich wirken. Wenn Zwei dasselbe thun, ist es eben nickt dasselbe. Unserer Meinung nach hätten auch die StaatSsecretaireGras Posavowsky und v.Bülow gut gethan, wenigstens ihre Aeußerungen mehr allgemeiner Natur bis nach der Anhörung anderer Redner zu vertagen, zumal da die Zeit weit vorgeschritten und das HauS ermüdet war. Was über den ConstitutionalismuS im Reiche und in Preußen von dem StaatSsecretair deS Innern, sowie über die Oeynhausener Rede gesagt wurde, legen wir zu dem Uebrigen. Erfreulich ist es, daß man über den Stand der lippisch en Sache endlich etwas Authentisches vernahm und zwar etwas auch in der Sache Befriedigendes. Ein Streit zwischen zwei Bundesstaaten gehört ohne Zweifel vor den Bundesrath. Wenn diese Körperschaft nun die Vorfrage entscheiden soll, ob der lippische Handel einen Streit dieser Art oder einen Streit über die Thronfolge in Lippe verbirgt, so ist dagegen nichts einzuwenden. Herrn v. Bülow ist nachzurühmen, daß r den Grasen Thun mit einer die Verständlichkeit nicht be einträchtigenden Feinheit in die Schranken zurückgewiesen hat. Bemerkenswerth ist übrigens, daß auch Eugen Richter in der Frage der Ausweisung der Mosse'schen „Handlungsbeflissenen" aus Galizien von der „specifischen" Presse demonstrativ ab gerückt ist. Unter der Uebersckrift „Auch eine Erinnerung" erinnert die „Köln. Volksztg." höhnisch daran, daß vor gerade 25 Jahren König Wilhelm I. seine Unterschrift zu dem EivtlstandSgcsetzc gegeben habe. Dieses Gesetz habe der katholischen Kirche nichts anhaben können, wohl aber habe eS dem Protestantismus geschadet. Das klerikale Blatt triumphirt: „Die katholische Presse überblickte damals be deutend klarer die Sachlage, als die protestantische, indem sie betonte . . ., in die protestantische Kirche wird wahrscheinlich durch dieses Gesetz eine große Ver wüstung getragen werden." — Gar so richtig war diese Prophezeiung denn doch wohl nicht, denn die „K. V.-Z." muß selbst zugeben, daß seit einiger Zeit die Taufen und kirchlichen Trauungen in der evangelischen Kirche wieder zugenommen haben. Und wenn 2'/s Proc. der Kinder aus protestantischen Ehen nicht getauft werden und 6i/z Proc. der Eheschließungen nicht kirchlich sind, dann wäre es doch wohl eine starke Uebertreibung, von „großen Verwüstungen" zu reden. Am interessantesten bei der schadenfrohen historischen ReminiScenz des klerikalen Blattes ist eS, daß eS den Anlaß dieser Gesetzgebung weise ver schweigt. Die Regierung war durch die Auflehnung der katholischen Geistlichkeit zu dem Gesetze gezwungen, weil die Kirchenbücher die einzige Beurkundung des Personen standes darstcllten und weil Beurkundungen, die von gesetz widrig angestellteu Geistlichen vorgenommen waren, natur gemäß ungiltig sein mußten. Dieses Motiv wurde auch in der Begründung des Gesetzes angegeben und ebenso sprach Fürst Bismarck eS ans, daß das Gesetz ein „Bedürfniß der Nothwehr" darstelle. Es ist aber begreiflich, daß in dieser Zeit treugeborsamer Huldigungsadressen der katholischen Bischöfe die „K. I.-Z." nicht gern an die Rebellion der katholischen Geistlichkeit gegen den Staat erinnert. Die Zustände in Ungarn sind keineswegs rosig, ja sogar äußerst kritisch, es wohnt ihnen aber, so schreiben die „Bcrl. Pol. Nachr", bei Weitem nicht jener verzweifelte Charakter inne, den man ihnen bei einseitiger Betrachtung anzusehen geneigt ist. Der Schwerpunkt der Situation liegt in der Frage, ob das Abgeordnetenhaus uoch im Laufe dieses Monats seine Aktionsfähigkeit wieder erlangen kann. Gelingt eS, der Obstruktion auf konstitu tionellem Wege Herr zu werden, so wird das „Attentat auf die Verfassung", als daS der TiSza'sche Gesetzentwurf dar gestellt wird, gleich in einem viel milderen Lichte erscheinen. Dieser Entwurf ist dazu bestimmt, den ungestörten Fortgang der RegierungSgeschäste nach Neujahr auf gesetzlichem Wege zu regeln. Da dies auf normalem Wege, durch regelrechte Verhandlung der Indemnitätsvorlage und Annahme eines abermaligen AuSgleichsprovisoriums, nicht mehr möglich er scheint, so mußte man darauf bedacht sein, einen Zustand der rein administrativen Außergesetzlichkeit selbst der Form nach nr vermeiden, d. h. den Willen der parlamentarischen Mehrheit in verfassungsmäßiger Weise zum Ausdruck zu bringen. Der Moduö hierzu ist durch die lex lisza, ge funden. Die Annahme des Entwurfes, der für Ungarn eine Verfassungörettung, für die Monarchie die Wahrung des dualistischen Prestiges bedeuten soll, hat aber vor Allem die Herbeiführung erträglicher Zustände im Abgeordnetenhaus« zur Voraussetzung. Dies aber ist nur durck eine strenge Handhabung bezw. Verschärfung der Hausordnung zu erreichen. Die augenblickliche Lebensfrage des ungarischen Parlamentarismus und des Verfassungsstaates ist die Wahl eines den Schwierigkeiten der Lage gewachsenen Präsidenten. Er muß eint Leitung der Berathungen und die Durchführung von Maßnahmen gewährleisten, die der Majorität zu ihrem Rechte zu verhelfen geeignet sind. Ist ein solcher Präsident gewählt, so kann der TiSza'sche Entwurf auf normalem Wege durckgebrackt werden, und die Continuität der Ver fassung erscheint über die kritische Jahreswende hinaus ge sichert. Von einem geplanten Staatsstreich kann also nur nach obstructionistiscker Auffassung die Rede sein. In Majoritäts kreisen hofft man zuversichtlich, daß der liberalen Partei angesichts des Reinigungsprocesses, den sie durch daS Aus scheiden von 21 längst unzuverlässigen Abgeordneten durch gemacht hat, nunmehr die nöthige Kraft der compacten Ein heit innewohnt, um unter einem neuen Präsidenten die Wiederherstellung der Aktionsfähigkeit des Abgeordneten hauses und hierdurch den ungestörten Fortbestand der Ver fassung zu ermöglichen. In Lache» Picqnart'S hat der Militairgouverneur von Paris die amtliche Mittheilung von der Ent scheidung des Cassationsbofes erhalten und darauf hin sich beeilt, dieser Entscheidung durch Vertagung der kriegsgerichtlichen Verhandlung auf unbestimmte Zeit die erste Folge zu geben. Das kriegsgerichtliche Verfahren gegen Picquart ist indessen damit nicht eingestellt, sondern die Aufgabe deS Regiernngscommissars beim Kriegsgerichte, des Obersten Foulon, ist es nnnmehr, entsprechend der Verfügung des Caffations- hofes, sein begründetes Gutachten über die von Picquart aufge worfene Zuständigkeitsfraze auszuarbeiten und mit allen Acten deS Kriegsgerichts über die gegen Picquart erhobenen Anklagen dem Cassationsbofe innerhalb vierzehn Tagen zuzustellen. Dieselbe Aufgabe bat das Zuchtpolizeigericht zu erfüllen. Alsdann wird der CassationShcf seine weitere Entscheidung über den Grund der Frage treffen. Der „Gaulois", das Vertrauensblatt der Militärbehörde, sieht heute schon voraus, daß diese Entscheidung nur die vorhergehende Lösung be stätigen kann, d. h. das Kriegsgericht als zuständige Gerichts barkeit über Picquart wird anerkennen müssen. Der Cassa- tionshof hat sich, meint er, in eine Sackgasse begeben, und sein Werk wird alsdann einfach gewesen sein, den normalen und regelmäßigen Gang der Gerichtsbarkeit zu Gunsten eines wohlberatkenen Angeklagten unter Mißachtung jeglichen Rechtes für einen Augenblick aufgehalten zu haben. Wenn der „Gaulois" Neckt behält, wird man also, was die rechtliche Lage des Falles angeht, gerade so weit sein, wie jetzt. Wenn man be denkt, daß Picquart vor der Militairgerichtsbarkeit eines Ver brechens, der Fälschung, vor dem Zuchtpolizeigerichte aber nur eines Vergehens, der Kenntnißgabe geheimer Aktenstücke, des Petit Bleu, an LebloiS, angeklagt ist, so könnte man geneigt sein, dem „Gaulois" Recht zu geben. Indessen hat diese Auf fassung einen Haken, und in diesem Haken liegt der Angel punkt der ganzen Sache. Die Militairgerichtsbarkeit und das i Zuchtpolizeigericht stützen ihre Anklagen beide materiell auf I denselben Gegenstand, den Petit Bleu. Während jene aber diesen I für Fälschung erklärt, betrachtet dieses ihn als echt. Die beiden Die Lettelmaid. L8j Roman von Fitzgerald Molloy. Nachdruck verboten. Sie schloß die Augen, als ob ihr vor dem großen Glück schwindelte. Nach vielen Jahren trostloser Oede blühte nun auch in ihrem Herzen die Wunderblume Liebe; sie wollte schon dafür sorgen, daß sie ewig darin wurzelt und immer reichere Blüthen treibe. Aber ehe sie das entscheidende Wort sprach, mußte sie dem Geliebten noch einen Gedanken, der sie beunruhigte, offen baren. „Marcus, es gäbe viel weniger Sünde und Elend in der Welt, wenn es in unserer Macht stände, unsere Herzen zu ver schenken und wieder zurückzunehmen", es kostete sie eine Ueber- windung fortzufahren, doch sprach sie ohne Zögern tapfer weiter. „Wissen Sie bestimmt, daß Ihr Herz jetzt frei ist, daß Sie darüber verfügen können?" „Glauben Sic, daß ich es wagen würde, es Ihnen an- zubicten, wenn ich dessen nicht ganz sicher wäre? Glauben Sie, daß ich so ungerecht sein könnte, um Ihre Liebe zu bitten, wenn ich Ihnen die meinige nicht voll und ganz zum Tausch anbieten könnte? O, Felice, halten Sie mich für so ehrlo«?" „Nein, nein! Ich habe nur die Frage gestellt, weil ich auS Erfahrung weiß, wie wenig wir unser eigenes Herz kennen." „Da haben Sie Recht! Aber ich hatte Zeit und Muße, das meinige zu prüfen, und ich habe nach vielen Kämpfen entdeckt, daß die Leidenschaft, die noch vor wenigen Monaten mein ganzes Sein erfüllte und mich dann auS allen Himmeln auf die nüchterne Erde warf, nichts hinterließ als eine schmerzlose Narbe. Und das verdanke ich einzig und allein Ihnen. Ohne Ihre sanften Trostworte und guten Lehren wäre ich ein Cyniker geworden. Kann es Sie Wunder nehmen, daß die Retterin meiner Seele, meines besseren Jchs in meiner stillen Einsamkeit, inmitten der herrlichen Natur, allmählich in meinem Herzen einen immer größeren Raum ausfüllte und jenes andere Bild ganz daraus verdrängte? O, Felice, ich liebe Sie unaussprechlich!" Sie sah ihm in die Augen und wußte, daß diese blauen Sterne nicht logen. Ein überwältigende« GliickSgefühl erfüllte sie, die ganze Welt erschien ihr plötzlich in dem rosigsten Licht. „Da ich Ihnen schon gestanden habe, daß mein Herz Ihnen gehört, seit ich Sie kenne, so will ich auch noch hinzufügen, daß mich Ihre Gegenliebe beseligt und zum glücklichsten Weibe auf Erden macht", entgegnete sie zärtlich. „Sie haben mich gelehrt, mein eigenes Ich zu prüfen, und so lange ich lebe, gehört jeder Athemzug Ihnen." War es nur ein schöner Traum, der beim Erwachen der nüchternen Wahrheit Platz machen würde? Sie seufzte tief auf. Seine süßen Worte klangen wie Musik in ihren Ohren und hallten in ihrem Herzen nach. Und doch mußte sic stark sein und seine Liebe auf eine Probe stellen. Sein Antrag brachte Sonnenschein in ihr Leben, und wenn dies so bleiben sollte, durfte kein Schatten ihn trüben. „Zweifeln Sie an meinen Worten?" fragte er, wie ihr dünkte: vorwurfsvoll. „Nein, ich weiß, Sie meinen all Das, was Sie sagten." „Meine Liebe zu Ihnen ist rein und groß. Ihre Worte, Ihre Handlungen, Ihr Wesen haben mich begeistert und ein Gefühl für Sie in mir groß gezogen, das nur wahr und auf richtig sein kann. Glauben Sie mir, ich kann nur in Ihrer Nähe glücklich sein." „Seit ich denken kann, hat mich nichts so beglückt, als dieses Ihr Geständniß. Mein Herz gehört Ihnen, wird bis zu meinem Tode Ihnen gehören. Wenn Sie in drei Monaten die Frage an mich stellen wollen, ob ich Ihr Weib werden mag, werde ich mit Ja antworten." „Das ist für so hohen Preis nur ein kleines Opfer", entgegnete er feurig, „obzwar mir die Wartezeit schrecklich lange werden wird." „Ich werde Sie Geduld lehren." „Don einer solchen Meisterin, waS wollte ich da nicht lernen, Felice! — In diesen drei Monaten wird meine Liebe noch inS Unendliche wachsen", rief er lächelnd. Sie erröthete wie ein junges Mädchen, und er glaubte sie noch nie so lieblich gesehen zu haben. „Ich werde die Tage zählen, aber Du darfst mich dann auf keine weitere Probe stellen, denn ich fürchte, meine Geduld würde reißen", sagte er. Bei dem trauten „Du" erröthetcn Beide. „Dessen kannst Du sicher sein." „Und nach den drei Monaten?" „Din ich die Deinige", erwiderte sie zärtlich. Er zog sie an sein wild pochendes Herz und bedeckte ihren Mund mit Küssen, die sie leidenschaftlich erwiderte. Dann machte sie sich sanft au« seinen Armen lo« und schlüpfte, noch ehe er sich dessen recht bewußt wurde, durch die kleine Taprtrnthür hinau«. Vierundzwanzig st es Capitel. Fünf Monate waren seit Marcus Phillips' Rückkehr aus der Bretagne verflossen. Laue Frühjahrslüftchen zauberten saftiges Grün auf Feld und Flur, über Nacht schlugen die Bäume und Sträucher aus, die goldgelben Primeln reckten ihre zarten Köpfchen der Sonne entgegen, da und dort wagte sich auch schon ein Gänseblümchen bescheiden hervor, Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und die Schwalben bauten eifrig ihre Nestchen. Die Natur war wieder einmal aus ihrem Todesschlaf erwacht und dieses Erwachen erfüllte die ganze Erde mit einer wonnigen Lebensfreudigkeit. Die drei Probemonate hatte Marcus sehr gut überstanden und Mrs. Stonex den Hochzeitstag auf den 28. April festgesetzt. Die Nachricht von dieser Verbindung rief einen großen Un willen in der „eleganten Welt" hervor, so daß diese sich eine ganze Woche lang davon nicht erholen konnte. Man sprach in allen Salons nur von diesem Ereigniß. War es nicht unerhört, daß Mrs. Stonex, die man für kalt und leidenschaftslos hielt, sich dennoch herbeiließ, noch einmal zu heirathen, und zwar aus Liebe zu heirathen! Und wen? Allen Redereien und Voraus setzungen zum Trotz einen jungen Künstler, dessen Namen Niemand gekannt, ehe er „die Bettelmaid" ausgestellt! Man wußte ganz genau, daß er außer seinem Talent gar nichts besaß, während sie jährlich 5000 Pfund zu verzehren hatte. O, über die Unbegreiflichkeit einer Weibernatur! War es nicht seltsam, daß sie gerade an diesem blonden, blauäugigen Menschen Gefallen fand, während sie doch vor nicht langer Zeit an einen reichen Marquis sowohl als auch an einen berühmten Maler Körbe ausgetheilt? Was war es, daß der Marquis ein gichtkranker Greis war, der bereits zwei Frauen zu Grabe getragen hatte, eine Perrücke trug und schnupfte? Das sind ja unbedeutende Nebensächlichkeiten, wenn ein hoher Titel und großer Reichthum in die Waagschale fallen. Mrs. Stonex hatte bei der Abweisung dieses Freiers entschieden wenig Tact und Geschmack an den Tag gelegt. Und erst bei dem zweiten! Dieser war ein Mann von großem Ruf und nicht unbedeutendem Vermögen, dabei jung, nicht häßlich und ein RouS. Konnte eS einen vernünftigen Grund geben, weshalb sie nicht die Seinige werden wollte? Ihr Herz sprach nicht für ihn. — Mein Gott, wer wird sich denn von diesem kleinen menschlichen Organ leiten lassen, wenn Der- nunftsgründe für eine Sache sprechen? Wa» hat denn die Liebe überhaupt mit der Ehe zu schaffen? Wer sich von ihr leiten läßt, muß e- früher oder später büßen, denn „Liebe" ist nur ein sentimentaler Begriff, der blo» in der Einbildung excen trischer Menschen lebt. Die Liebenden werden einander über drüssig, wie man es so oft auf „den Brettern, die die Welt be deuten", sieht. Wir leben eben in einem materialistischen Zeit alter, dessen Losungswort abwechselungsreicher Genuß ist! Wenn man nichts Besseres zu thun hat, und als gelegentlicke Zerstreuung, ist eine Liebelei durchaus nicht zu verachten. Sie rettet Einen vor tödtlicher Langeweile; unter ihrem er wärmenden Einfluß läßt man sich hinreißen, Händedrücke und ge flüsterte Liebesworte auszutauschen, Liebesworte, die sich wie Aether verflüchtigen, keine ernste Bedeutung haben, aber an genehm und anregend wirken. Am nächsten Tage hat man sie vergessen. Die Rose, die man verstohlen geküßt und mit ver liebten Seufzern der Geliebten dargereicht hat, verwelkt und entblättert nicht rascher, als solche Tändeleien vergessen sind. — Aber eine Liebe, die Opfer verlangt, die gehegt und gepflegt sein will, — eine solche Liebe wird zum Mindesten für thöricht ge halten. Trotz der Mißbilligung der sogenannten „guten Gesellschaft" wurden Marcus Phillips und Mrs. Stonex an dem genannten Tage Mann und Weib. Die Trauung vollzog sich in aller Stille. Die Probemonate hatte der Künstler, der wohl die Tage zählte, gleichsam in einem seligen Traum verlebt. Er durfte die Geliebte täglich sehen, durfte sich bei ihr Anregung und Rath holen. Noch niemals hatte er mit solcher Lust gearbeitet, nicht einmal an „der Bettelmaid". Er wollte berühmt werden, denn bald, bald würde ja sie seinen Namen tragen! Diese beiden Menschen kinder lebten nur mehr für einander, und als nun gar der Priester ihren Bund eingesegnet, war ihr Glück ein vollkommenes. Ende Mai kehrte das junge Paar von der Hochzeitsreise, die es nach der Bretagne unternommen, heim. „Die Gesellschaft" hatte Zeit gefunden, sich mit Mrs. Stonex Wahl auszusöhnen. Ihr Salon gehörte zu den vornehmsten der Stadt und bildete den Mittelpunkt des geselligen Lebens. Sie verstand es, zu repräsen- tiren und alle hervorragenden Geister heranzuziehen, sie durch ihre Anmuth, ihr feines Benehmen und ihre seltene Bildung zu fesseln. Man konnte sicher sein, bei ihren Theeabenden eine aus erwählte Gesellschaft zu treffen; politische Gegner, Mitglieder der höchsten Aristokratie, die Jünger sämmtlicher schönen Künste ver sammelten sich in ihrem Hause. „Man" würde sich also nur selbst strafen, wollte man die Enttäuschung, die sie durch ihre Berheirathung hrrvorgerufen, nicht vergessen. An Mrs. Phillips' erstem Empfangstag erschien dann wie auf Verabredung tont l^nckrvs, Bohemia war bis auf den letzten Mann vertreten, ebenso Bohemias Frauen. Ihre Unterhaltung war so zwanglos heiter und geistvoll, daß Lady Everfair sich nicht enthalten konnte, ihrer Nachbarin zuzuflüstern:
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