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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 11.10.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981011015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898101101
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898101101
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-10
- Tag 1898-10-11
-
Monat
1898-10
-
Jahr
1898
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Neclamen unter dem Redactionsstrich l4ge» iv-ilte») SO^Z, vor den Famüirnnachrichlt» (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Zifsernsay nach höherem Tarif. stxtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. ÄnnahmeschlnK snr Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Au-gabe: Nachmittag« 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet« an L-« SrpeVttta» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz tu Leipzi». 516. Dienstag den 11. October 1898. 92. Jahrgang. „Zur Psychologie des Anarchismus" überschreibt die „Kölnische Zeitung" einen Artikel, dessen Lrctüre wir dringend nicht nur den Mitläufern der Social» demokratie, sondern auch jenen leider nicht ganz kleinen bürgerlichen Kreisen empfehlen möchten, die sich durch Lombroso's einseitige Untersuchungen und oberflächliche Schlußfolgerungen verführen lassen, in den anarchisti schen Verbrechern nicht sowohl mit allen Mitteln der Strenge zu bekämpfende Entartete, als vielmehr durch physische Veranlagung und äußere Veranlassung zu ihren Tbaten gezwungene Unglückliche zu sehen, denen trotz der gebotenen Abwehr das Mitgefühl nicht versagt werden dürfe. Der Artikel, der nur durch den Schlußsatz zu einer Einschränkung nöthigt, lautet: „Wer die zahlreichen vollendeten und versuchten Attentate, welche sich seit den Tagen der HarmodiuS und Ariskogeiton gegen Staatsoberhäupter und einflußreiche Staatsmänner richteten, unter dem psychologischen Gesichtspunkte untersuchen wollte, dürfte zu Ergebnissen kommen, welche weder vom wissenschaft lichen, noch vom praktischen Standpuncle aus als nutzlos zu betrachten wären. In dem bekannten und anregenden Buche Lombroso'S über den politischen Verbrecher, daS alle Vorzüge, aber leider auch alle Schattenseiten Lombroso'scher Darstellungsweise ausweist und ganz besonders die Neigung des berühmten Mannes zu oberflächlichen Schluß folgerungen erkennen läßt, für welche die Wissenschaft nur den Uebergana zur Tagesordnung übrig haben kann, ist die psychologische Seile zwar ebenfalls behandelt worden, aber nicht in befriedigender Weise, und dem entspricht denn auch das Endergebnis, zu welchem Lombrofo gelangt. Weit weniger interessant und weit weniger ergiebig ist die psychologische Ausbeute bei dem socialen Mord, welcher in den beiden letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts den politischen Mord verdrängt und ersetzt hat. Attentate gegen Staatsoberhäupter und Staatsmänner werden in den letzten Jahren des zu Ende gehenden Jahrhunderts nicht sowohl aus politischen Motiven und zu politischen Zwecken, als vielmehr aus socialen Beweggründen verübt; der politische Schwärmer in der Art eines Sand hat dem finstern, fanatisirten Anhänger der Propaganda der Tbat Platz gemacht, welcher nicht in leidenschaftlicher Aufwallung, sondern in kühler, der längeren Ueberlegung entsprungener Ruhe daS Messer zückt und die Bombe schleudert. Der politische Mörder, der Königsmörder pur eLcelleuco, stand unter dem zwingenden Einfluß heftigster Gemüthöbcwegungen, der sociale Mörder, der Anarchist, ge währt diesen keinen Raum, er bedenkt Alles im Voraus, erwägt die Einzelheiten vor, bei und nach der Ausführung seiner Thal,, er steht daher im schärfsten Gegensatz zu dem irregeleiteten Schwärmer, welcher in einseitiger Hingabe an eine Idee sich verleiten ließ, die todtbringente Waffe gegen Denjenigen zu zücken, der ihm als der Träger eines verhaßten Systems erschien. Aus diesem grundsätzlichen Unterschied zwischen dem poli tischen und socialen Mörder erklärt sich das geringere Inter esse, welches der letztere dem Psychologen bietet, nicht minder aber seine moralische Inferiorität. Der politische Mörder war häufig, wenn nickt geradezu in den meisten Fällen, ein warm- empsindender, gefühlvoller, zuweilen selbst ein sentimentaler Mensch; der Anarchist, dieser Typus des socialen Mörders, ist ein gefühlsroher, jedem Appell an die Menschlichkeit unzugänglicher Mensch; er mordet, gleichviel ob es sich um ein gekröntes Haupt, eine wehrlose, selbst des Schutzes bedürftige Frau oder einen Soldaten handelt, der auf Posten steht, er mordet, damit die Gesellschaft die Macht der Propaganda der That fürchte, damit sie an die Fortexistenz des Anarchis mus erinnert werde; ob die Dynamilbombe eine Bettlerin oder eine Kaiserin trifft, ob bas mit Nytroglycerin ge füllte Gefäß das Leben von hundert Arbeitern vernichtet, die sich nach der Arbeit der sonntäglichen Erholung er freuen, oder die in eleganten Wagen fahrenden Börsenfürsten erreicht, ist dem anarchistischen Mörder gleich; der Mord ist bei ihm nicht Mittel zum Zweck, sondern so zu sagen Selbst zweck, und dies muß im Auge behalten werden, will man die Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen Mördern und den politischen Mördern früherer Zeiten genau feststellen. Es darf behauptet werden, daß eö niemals eine politische oder sociale Secte gegeben hat, welche gleich den Anarchisten den Mord um seiner selbst willen cultivirte, denn selbst die orientalischen Fanatiker, welche sich zur Verübung von Mordthaten verbanden, erstrebten doch noch stets einen poli tischen Zweck damit. Lombroso hat auch ein Buch über die Anarchisten (Lombroso, Die Anarchisten, deutsch von Kurella, Ham burg, 1895) geschrieben, welches an den Schwächen seiner Darstellung noch in erheblicherem Maße krankt, als das zuvor genannte; auf diese Besonderheit der anarchistischen Verbrechen, auf diese Eigenthümlichkeit der anarchistischen Mörder ist der italienische Psychiater nicht eingegangen und eS fehlt dieserhalb seiner Behandlung des Anarchismus und des anarchistischen Verbrechens, so anregend und fesselnd dieselbe auch vielfach gehalten ist, doch ein recht wesentliches Moment. Gemeinsam ist im Gegensätze zu dem bisher Ge sagten dem politischen und dem socialen Mörder der G rößenwahn.jeneArtpsychischer Entartung,welchcman wohl bin und wieder alSHerostratoS-Wahnsinn bezeichnet hat in Erinnerung an jenen Herostratos, der den Tianatempel zu Ephesus, eines der sieben Weltwunder, anzündete. Die griechischen Geschichtsschreiber, welche über dieses Verbrechen berichten, erzählen übereinstimmend, HerostratoS habe dasselbe nur ausgesührt, um sich und seinen Namen bekannt zu machen. Es muß dahingestellt bleiben, inwieweit diese Er klärung der That die richtige war, jedenfalls ist dieses Motiv sowohl bei dem politischen wie dem socialen Mord von der allergrößten Bedeutung. Der durch die Irrlehren des Anarchismus an die maßlose Ueberschätzung der Per sönlichkeit und des Individuums überhaupt gewöhnte Mensch, in den meisten Fällen ein unwissender und confuser Kopf, welchem kritisches Denken absolut unmöglich ist, hält sich für eine Größe, er glaubt, daß die Augen der ganzen Welt sich auf ihn richten werden, wenn er ein Verbrechen begeht, daS von der Unversöhnlichkeit der Terroristen Kunde giebt, er will, daß die Presse sich mit ibm beschäftigt, daß der Telegraph seinen Namen mit Blitzesschnelle von einem Pol zum andern verbreitet, und dieser Beweggrund trägt viel dazu bei, daß das anarchistische Verbrechen stets aufs Neue Nachahmung findet. Daß auch gemeine Verbrechen aus Eitelkeit und Ruhmsucht begangen werden, ist dem Eriminalisten längst wohl bekannt gewesen, es bedurfte aber der anarchistischen Verbrechen der letzten Jahrzehnte, um zu zeigen, wie außergewöhnlich groß die praktische Wichtigkeit dieses Motivs bei dem socialen Mord ist. Ravachol und Caserio waren aus das Bekanntwerden ihres Namens stolz, sie fragten stets angelegentlichst, ob sich die Presse auch eingehend mit ihnen beschäftige, und nach den Berichten, welche über das Verhalten Lucchcni's in dem Ge- jängniß bekannt geworden sind, muß angenommen werden, daß auch dieser Mordgeselle sich in seiner Eitelkeit befriedigt dadurch fühlt, daß die gesammte Presse der Welt ihn und seine That in den letzten Wochen so ausführlich besprochen hat wie kein zweites Ereigniß. Wenn die psychologische Analyse des politischen Mörders nicht selten dazu führte, daß man für den Verblendeten und Irregeleiteten aufrichtiges, inniges Mitleid und selbst Sympathie haben konnte unbeschadet der Verurtbeilung seiner That, so ist dies bei dem anarchistischen Mörder durchaus unmöglich. Gegenüber der Gefühlsroheit, die auch durch keine Erinnerung an das Homo 8um ge mildert wird, gegenüber der Gleichgiltigkeit für die Qualen und Leiden, die Thränen und Schmerzen der von dem Verbrechen Betroffenen, gegenüber dieser leidenschaftslosen Ruhe, mit der der Mord als Selbstzweck ausgeführt wird, wäre Mitleid ein Zeichen von Schwachsinn. Wer Mitleid mit dem anarchistischen Mörder bat, kann auch Mitleid mit dem erschossenen Tiger haben, welcher vor seinem Ende Dutzende von Menschen zerrissen hat, und ohne Uebertreibung läßt sich behaupten, daß vom Standpunkte der Sicherung der Gesell schaft dieser gefährlicher ist als jener. Wer der mensch lichen Gefühle und Empfindungen so bar ist, wie der anarchistische Mörder, hat keinen Anspruch daraus, als Mensch behandelt zu werden; wer der Gesellschaft mit dem selben Blutdurst und derselben ungezäbmten Wildheit gegen übertritt, wie die unter der Tropensonne geborene Bestie, kann sich nicht darüber beklagen, wenn die Gesellschaft ibn auch als Bestie behandelt und sich gegen ihn ebenso vertbei- digt wie gegen den seinem Käfig entsprungenen Tiger. Wenn irgendwo und irgendwie der bekannte Ausspruch „Im mort saus ptirnse" angewendet werden darf, so gegenüber dem anarchistischen Mörder, der sich durch seine Tbat voll ständig außerhalb der Gesellschaft stellt. Wir brauchen und sollen keine Wiederverzeltung im Sinne des mosaischen Gebots üben, aber wir sollen und müssen Personen, die sich als Wilde fühlen und als Wilde handeln, unschädlich machen, und zwar für immer. Es giebt keine Strafrechtstheorie, die dem anarchistischen Mörder gegenüber zu einem andern Ergebniß kommen kann; denn auch die radikale Richtung der Lom- broso'schen Schule verlangt die Unschädlichmachung, allerdings in besonderer Form. Psychologisch betrachtet gehört somit der anarchistische Mörder zu denjenigen Verbrechern, deren Seelenleben auf den ersten Stufen der Entwickelung stehen geblieben ist, und wenn die unrichtige Lehre Lombroso's, daß ter Verbrecher den Menschen früherer Entwickelungsperioden gleiche, so zutreffend wäre, als sie falsch ist, könnte man den anarchistischen Mörder als den Typus des uomo ckeliucxuenw betrachten, der die Zeichen atavistischer Rückbildung aufweist. Wenn jede Zeit und jede Gesellschaft ihre Verbrecher hat, die sie verdient, so ergeben sich aus dieser psychologischen Analyse wenig schmeichelhafte Schlüsse für die Gegenwart und die gegenwärtige Gesellschaft." Nur der Schlußsatz nöthigt, wie gesagt, zu einer Ein schränkung, und zwar deshalb, weil er so gedeutet werden könnte, als ob unsere Zeit und Gesellschaft überhaupt anarchistische Verbrecher mehr verdiene, als frühere Zeiten und Gesellschaften sie verdient bätten. Das wäre im Hinblick auf die Bestrebungen der Gegenwart, selbst den Gesunkensten die rettende Hand zu reichen, ein durchaus unverdienter Vorwnrf. Ein solcher trifft sie mit Macht nur deswegen, weil sie den Thaten und der Züchtung von Anarchisten mit einer Geduld zusicht, die keine frühere Zeit geübt hat und noch „mensch lichere" Zeiten erst recht nicht üben werden; denn zur Förde rung alles Guten im Menschen gehört in erster Linie der Schutz vor Bestialität und vor Verführung zur Bestialität. Das mögen besonders die Theilnehmer an der internationalen Eonsereng zur Bekämpfung des Anarchismus allen selbst süchtigen' und doktrinären Einwänden gegenüber im Auge behalten. Leuilletsii. Unsere Hochsahrt mit -er „Wega". (AuS der „Neuen Zürcher Zeitung".) Ein tiefblauer, sonniger Himmel lacht am Morgen des 3. October über Sitten; dumpf dröhnen vom Arsenal her Ka nonenschüsse, ein weithin schallendes Zeichen, daß der Aufstieg der „Wega" stattfinden wird. Tausende von Personen, Städter und Landbevölkerung drängen sich zur Place d'Armes; auf den Dächern, an Tclegraphenstangen, auf den Bäumen der Promenade La Plantade, überall wird es lebendig; sie wollen uns ja Alle noch einmal herzlich grüßen, bevor wir im Reich der Lüfte ent schwinden. Nasch und glatt werden die letzten Vorbereitungen mit militairischer Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit für den Auf stieg erledigt, meine Thermometer außerhalb der Gondel befestigt und der Weidenkorb mit unseren kostbaren Instrumenten an Roll« und Seil hochgezogen; das Kommando zum Einsteigen ertönt! Der Letzte, der mir di« Hand kräftig schüttelt, ist Pro fessor Hrrgesell-Straßburg; „o, wie beneide ich Sie um diese herrliche Fahrt", ruft er mir zu, für mich eine tröstliche Be ruhigung. Professor Forel, 'der unermüdliche Helfer, umarmt und küßt seinen Freund Heim, Professor Riedmattcn, eine ehr würdig« Pätriarchengestalt, steht mit unserem langjährigen treuen Beobachter Bührer aus Clärens dicht vor der Gondel und rsicht uns zum Abschied «in Körbchen süßer Weintrauben herein. Im Korbe werden mit den photographischen Apparaten rasch noch die beiden registrirenden Barographen untcrgebracht, das große Quecksilberbarometer aufgehängt. 10 Uhr 45 Min.! Die Gondel ist frei und wird noch mit Hand von zehn Mann gehalten. Zum letzten Mal 'drückt man sich di« Händ«, es ist «in feierlicher Augenblick, der aüf die zahlreiche Zuschauermenge «inen tiefernsten Eindruck macht — «s ist stille wie in einer Kirche. „DLcUer kout*, schallt der Befehl des A«ronaut-Jn- genieurS Surcouff, welcher mit Spelkerini die Vorbereitungen leitete. Langsam sinkt die Mutter Erde unter uns zurück, tausend stimmige Zurufe dringen herauf; unser Aeronautchek Spel- terini, in voller Uniform und weißer Mütze, grüßt mit verbind lichem Lächeln graciös nach allen Seiten. Klapp, klapp — tönt es neben mir; unser liebenswürdiger Reisebegleiter, Or.Biedermann, hat bereits ein«Reih« von Bildern auf der lichtempfindlichen Platte für immer festgehalten. „Höher! Zwei Säcke Ballast auS!" ruft Capitain Spelterini; „nochmals zwei; noch mehr." Wir steigen langsam auf 1500, dann 2000 Meter. Welch wunderbare Pracht! Keiner von uns ist eine» Worte» fähig. Unter un» liegt das ganze herrlich« Rhonethal, die flankirenden Höhenzüge sind stellenweise in wundervoller Klarheit sichtbar, weiter draußen gegen Süden die Savoyerberg« in lückenhaftem Wolkenmeer, die tiefblaue Schale d«S Genfersees grüßt zu unS hinauf. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält von dem goldenen Ueberfluh der Welt"; das arme Wort ist nicht im Stande, auch nur ein schwache» Spiegelbild zu geben von all der großartigen Schönheit, die sich von Moment zu Moment dem trunkenen Auge entrollt. Nur die rapid fallende Linie des Registrirbarometer» läßt die rasch steigend« Bewegung des DallonS erkennen, di« mit beispielloser Sanftheit, unter völliger Abwesenheit jeglicher Luftbewrgung, eine unendlich an genehm« Ueberraschung bietet. Di« „Wega" hat fast genau nord westliche Richtung; 11 Uhr 43 Minuten, der Barometer markirt bereits 4500 Nieter Höhe und die Lufttemperatur ist auf — 10 Grad Celsius gesunken; trotzdem durchaus kein Frost- oder Kältegefühl! Senkrecht unter uns liegt der Glacier de Zanfleuron der „Diablerets", wieder ein prachtvolles Bild. Weit draußen vor dem Korbrand, an einem eisernen Galgen auf gehängt, surrt friedlich mein Aspirationsthcrmometer. Es wird mittels eines durch Uhrwerk getriebenen kleinen Ventilators einem Dauerstrom der umgebenden Lust ausgesetzt und dient zur Er mittelung der wahren Lufttemperatur. Die Ablesung der Thermometerscala geschieht durch ein kleines Fernrohr, das sicher am Korbrano befestigt ist, mir jeden Augenblick den Stand des Quccksilberfadens abzulejen gestattet. Die „Wega" fliegt »veiler nordwestwärts, direkt über den Rocher de Naye gegen Chatek St. Denis; 12 Uhr 45 Minuten, wir sind schon üoer Montblanc-Hohe und cs sangt an, kalter zu werden; — „10 Grad Celsius , rufe ich Prosenor Heim zu. Unser guter Capitain reicht mir ein Gläschen Hennessy-Cognac, sonst mundet er trefflich, aber jetzt schmeckt er unangenehm bitter in Vieser Höhe und brennt wie höllisches Feuer in der gänzlich ausgetrockneten Kehle. Doch höher! Wir überblicken saft die ganze nördliche Schweiz dis hinaus zum Säntis Lurch lücken haftes Wolkenmeer, ein gut Stück über das letztere ragen Rigi, Pilatus und Säntis hervor. Die Berneroberlänoer Riesen, Jungfrau, Mönch und Finsteraarhorn, sind theilweife in Wolken, aber doch erkennbar. 1 Uhr 30 Minuten, 6200 Meter! Wir stehen über Oron, das Thermometer zeigt auf — 20 Grad Celsius und das Barometer markirt kaum noch 340 Millimeter Luft druck. In dieser enormen Höhe treiben wir ein« volle Stund« lang dahin. Ich fühl«, daß ich zusehends schwächer werde; zeit- weif« befällt mich eine starke Schlafsucht, aus der ich mich energisch aufraffen muß. Leichtes Herzklopfen stellt sich ein, ich suhle einen stechenden Kopfschmerz, die schon stark verdünnte Luft fordert gebieterisch ihre Rechte. In Höhen von 5000 bis 6000 Nieter ist letzter« bereits lo verdünnt, daß durch di« Athmung nicht mehr die zur Erhaltung des Lebens erforderliche Menge Sauerstoff den Lungen zugeführt werden kann, wie die unglück liche Fahrt des französischen Ballons „Le Zenith" am 15. April 1875 gelehrt hatte. Auf dieser Fahrt, bei der «ine Höhe von 8000 Meter «rreicht wurde, haben zwei der Luftschiffer, Sivel und CrocS-Spinelli, wegen Mangels an Sauerstoff ihr Leben eingebüßt. Es ist deshalb eine unerläßliche Forderung, ge nügenden Saurrstosf zur Einathmung in so großen Höhen mit hinauf zu nehmen. Mit Sauerstoff gesättigte Luft in kleinen Stoffballons für diesen Zweck mitzuführen, wie es bei jener un glücklichen Hochfahrt des „Zenith" geschah, ist nicht empfehlens- werth. Vielmehr wurden von der „Wega" mehrere mit je 500 bis 800 Liter reinen SauerftofseS gefüllte Stahlflaschen mitge nommen, in denen da» kostbar« Lebensgas auf 120 Atmosphären comprimirt war; sie wurden uns zuvorkommend von dem be kannten Sauerstoff- und Wasserstoffwerk Luzern zur Vrrfiigung gestellt. Das Druckreductionsventil der Flaschen gestattet den Sauerstoff unter beliebig«! Pression bis zu zwei Atmosphären ausströmen zu lassen, worüber ein an dem Ventilgehäus« ange brachte« Manometer Auskunft giebt. Ich setz« «inen langen Gunnmschlvuch an das Ventil und sauge das belebend« Sa» in langen, gierigen Zügen in die Lungen. Der lästige Kopfschmerz, das zeitweise leichte Herzklopfen nehmen sofort ab und ich fühle unmittelbar die erfrischend« belebend« Wirkung des Gases auf den geschwächten Körper. Unterdessen ist unser Ballonchef Spelterini und die beiden anderen Herren unablässig bemüht, die reizvollen Bilder der ganzen Umgebung durch die Suter'schcn Momentapparatc auf der Platte zu fixiren. Professor Heim notirt und zeichnet daneben eifrig: er befindet sich, auch ohne Sauerstoffathmung, vcrhältnißmäßig ganz wohl; sein Bart ist voll Eiszapfen, wachsgelb sein sonst so sehr frischer, rosiger Teint, lieber Spelterini's energische Züge legt sich eine lief dunkle, schwarzbraune Färbung, seine sonore, kräftige Stimine klingt hohl, dumpf, wie aus überirdischer Welt. Jetzt erst werde ich der unheimlichen, geisterhaften Stille gewahr, die uns Alle umgiebt, jener eisig-stillen, ewigen Ruhe der höchsten Schichten des Luftmeeres, zu denen kein Geschöpf und kaum noch ein Laut der Erde hinaufdringt. Das schwache Surren des Uhrwerkes am Aspirationslhermometer, das Ticken der Uhren in unseren registrirenden Barometern unterbrechen kaum hörbar die feierliche Stille dieser hohen Regionen. Die „Wega" zieht ruhig ihres Weges gen Nordwest; 1 Uhr 15 Minuten stehen wir über Yver don, dann über St. Croix, dem Jura, fliegen weiter gen Be sannen, das wir in steilem Absturze in ungefähr 2500 Meter Höhe um ^3 Uhr erreichen. Der Ballon hebt sich neuerdings in raschem Fluge aufwärts, um Z4 — über Gray — gelangt er in die maximal« Höhe zwischen 6300 und 6400 Nieter. Spel terini möchte noch höher, bedeutend höher gehen; er fühlt sich immer noch im Vollbesitz seiner herkulischen Körperkräft, trotz der bedeutenden Höhe und ohne jegliche Sauerstoffathmung! Die Situation wird kritisch; Spelterini verlangt gebieterisch von mir den Schlüssel zum Ocsfnen der neben ihm stehenden Sauerstoff flasche; er will, unter Einwirkung des belebenden Gases, un bedingt höher gehen. Ich widerspreche energisch, denn über 7000 Meter weiß ich bestimmt, daß mir unter den obwaltenden Umständen höchste Lebensgefahr droht, wahrscheinlich ebenfalls den beiden anderen Begleitern, während die elastische Lebenskraft unseres gestählten Aeronautchefs vielleicht 8000—9000 Meter vertragen hätte. Professor Heim legt sich schlichtend ins Mittel, auch er fühlt den Ernst der Situation; der dämonische Wunsch des Capitains blieb trotz seines drohenden Vetos unerfüllt, den Schlüssel zum Himmelreich hielt ich im Stiefel wohl verborgen. Also Ventil los! Die „Wega" wird durch Gasverlust rasch zum Fallen gebracht. Jetzt erst merk« ich — trotz der starken Sonnenstrahlung am tiefblauen Himmel — die heillose Kälte, die mir die Finger fast zum Erstarren gebracht. Gott sei Dank, wir fallen fortwährend stark, di« steil abfallende Curve des Registrirbarometers läßt darüber k«inen Zweifel mehr auf kommen. Ein, zwei Säcke Ballast werden hinauSgefeucrt und überschütten all« Insassen und Instrumente mit einem dichten Staubregen, denn unser, „Wega" fällt weit rascher ab als der fein geschlemmte Flußsand der Rhone, der unsere Ballastsäcke füllte. Doch wo sind wir? Weit« Strecken Wald mit kleinen Lichtungsflecken sind erkennbar. Da heißt es höchste Vorsicht. Wir machen un» zur Landung klar, die wegen des ziemlich starken Unterwindes durchaus nicht leicht erscheint. Jeder, der einige Kenntniß in aSronautifchrn Dingen be sitzt, weiß, daß die Landung oft weit schwieriger und gefährlicher ist als die meist gefahrlos und glatt verlaufende Abfahrt. Wie sein Gefährte zu Wasser, so geht auch das Luftschiff vor Anker, wenn e» seine Fahrt vollendet hat, und r» unterscheidet sich auch das dazu benutzte Instrument in keiner Weife bei beiderlei Arten von Fahrzeugen. Ein Schiff, da» in den Hafen läuft, kann aber seine Fahrt mehr und mehr verlangsamen, bi» der Anker gefaßt hat, nicht so der Ballon, der ja mit voller Wind geschwindigkeit dahinsaust. Wenn sich da der Anker in das Erdreich einfrißt, so erhält die Gondel einen gewaltigen Ruck, sie schlägt aus den Boden aüf, der so entlastete Ballon schnellt empor und reißt Gondel und Anker mit sich herauf; wieder sink! er, wieder faßt der Anker, wieder der Aufprall, wieder 'das Em porschnellen, und so kann der Ballon in riesenhaften Sätzen manchmal über das Land dahinspringen, indessen den umher geschleuderten Insassen oft Hören und Sehen vergeht. So ungefähr war auch das Bild, das ich unmittelbar vor unserer Landung im Kopfe hatte. Die Erde kommt uns in rasender Eile immer näher, scheint auf uns zuzufliegen; da scharf spähende Auge des Capitains hatte ein günstiges Brachfeld entdeckt, der Anter fällt. Ich berge noch mit Blitzesschnelle, so gut es geht, meine mobilen Instrumente im Korbe. Achtung! Klimmzug! Mein blonder Nachbar zur Rechten und ich fassen nach oben und ziehen sich mit den Armen an Len Korbseilen in die Höhe; Professor Heim hängt sich mit Leibeskräften an die Ventilleine, während Spelterini, zum Sprunge bereit, nach dec Reibleine greift, die den Ballon durch Ausleihen zum raschen Stillstand bringen soll. Da schlägt die Gondel mit Gewalt auf den Boden auf, die Ballonkugel erhebt sich noch einmal uns schleift ein Stück weiter. In todesmuthigem Satze springt unser Ballonführer Spelterini aus der Gondel in das Netzwerk und faßt glücklich wieder die ihm aus den Händen entschlüpfte Reiß leine. Zum zweiten Male Rn starker Ausstoß, dann ein kräftiger Zug, der Anker hat fest gefaßt, der Ballon neigt sein stolzes Haupt und schmiegt sich der Erde an. Alle sind unversehrt, auch die meteorologischen und photographischen Apparate haben kaum nennenswerth gelitten, Dank der ausgezeichneten Führung und wunderbaren Geschicklichkeit unseres Aöronautchefs Spelterini, der bis zum letzten Moment seine eiserne Ruhe und Geistesgegen wart voll bewahrte. Wir waren bei dem kleinen Dörfchen RiviSre um Z5 Uhr niedergegangen, auf der Grenze der Haute Marne und des Departements Este d'Or zwischen Dijon und Langres. Damit endete für die Theilnehmer eine großartige Episode, die zeitlebens uns Allen in unauslöschlicher Erinnerung bleiben wird. * * * Während wir mit der „Wega" iw Reiche der Lüfte ent schwebten, war für die Zurückgebliebenen die Arbeit noch keines wegs beendigt. Wie bereits gemeldet, sollten am nämlichen Tage des Aufstieges der „Wega" gleickyeitig an verschiedenen Puncten des europäischen Continents — in Paris, München, Berlin, Wien und Petersburg — bemannte und unbemannte Ballons, letztere mit empfindlichen Registririnstrumenten ausgerüstet, ab geschickt werden. Professor Hergesell, Director des meteorolo gischen LandeSbienstes von Elsaß-Lothringen und Präsident des internationalen aeronautischen ComitSs, war zum Zwecke der einheitlichen Organisation dieser internationalen Vereinigung eigens nach Sitten gekommen und hatte selbst einen 300 Kubik meter fassenden Regifirirballon, den „Hohenlohe Langenburg", mitgebracht. Dieser hätte der Abmachung gemäß vor der „Wega" aufsteigen sollen, aber durch eine klein« Störung an dem Wasser- stoffentwickler konnte die Füllung nicht rechtzeitig in Gang gesetzt werden.
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