Volltext Seite (XML)
ALLGEMEINE EINLEITUNG. ieses vor Allem dem praktischen Gebrauch dienende Werk ist weniger eine Abhandlung als eine Sammlung und will mehr durch Beispiele als durch Vorschriften wirken, denn die Theorien, so richtig sie an und für sich sein mögen, in abstracter Form behandelt, bleiben zu unbestimmt und zu allgemein. Nichts ist dagegen beredsamer als der Anblick der Meisterwerke selbst, und die Lehre, welche sie enthalten, durch Analyse aufzudecken, ist ein sichereres Verfahren, als wenn diese Beispiele der Demonstration einer zuerst aufgestellten Synthese dienen, meist zu absolut, um sich unter die erlaubten Ausnahmen beugen oder alle besonderen Fälle voraussehen zu können. Diese letztere Methode wäre gerade für diesen Zweig der Kunst, der sich zur Aufstellung unbeugsamer Regeln vielleicht am wenigsten eignet, und in welchem man dem Instinct, der Einbildungskraft, ja selbst der Laune des Künstlers den grössten Antheil überlassen muss, wohl um so gefährlicher. Es soll hiemit aber nicht gesagt sein, dass die Erzeugnisse dieser Kunst gewisser Principien, gewisser Hauptregeln, welchen jede künstlerische Conception entsprechen muss, ganz enthoben seien. Eine ornamentale Composition kann nur unter der Bedingung vollkommen schön sein, wenn sie dem Betrachter jenes Gefühl der Ruhe und Befriedigung gibt, welches durch das Gleichgewicht und die vollkommene Harmonie aller einzelnen Elemente erzeugt wird. Die Gesetze der Proportion, die Regeln vom Gleichgewicht und der Symmetrie, von der Unterordnung der Details unter das Ganze — kurz, alle die durch den Instinct vorgeschriebenen und von der Wissenschaft gutgeheissenen Regeln haben in der Ornamentirungskunst, wie in allen ändern Künsten, ihre volle Gültigkeit. Aber während die Malerei und die Bildhauerei durch den Sinn und die Logik des Sujets, oder durch die Nachahmung und das genaue Wiedergeben natürlicher Gegenstände mehr oder weniger gebunden sind; während die Architektur sich den Bedingungen der Solidität, der Bestimmung des Gebäudes, der Wechselbeziehung des äusseren Anblicks mit dem innern Bedürfnisse unterstellen muss, bewegt sich die Ornamentirungskunst, und hauptsächlich jene, welche uns beschäftigt, die Ornamentirungskunst der bemalten Flächen, ohne Zweifel in einem wohl bescheideneren, aber viel freieren Wirkungskreise. Viele Mittel, viele Wege stehen ihr offen, um zum Ziel zu gelangen, d. li. zu dem Resultat der Proportion und Harmonie, welches das Gefühl des Schönen erzeugt. Wenn sie den ändern Künsten, deren verschiedene Actionsmittel entlehnen kann, der Architektur ihre allgemeinen Formen und das Interesse, das sich an die Wiederholungen, oder die Auflösungen eines und desselben Motivs knüpft, der Skulptur die Kraft ihres wirklichen oder imitirten Reliefs, der Malerei die Amnuth der ein geflochtenen Gegenstände und den Reiz des natürlichen Colorits, so findet sie auch im eigenen Gebiet unzählige Hilfsquellen. Von der einfachsten geometrischen Figur, einem Viereck, einer Raute, einem Dreieck, deren Wieder holung und Versetzung oft genügt, um ein interessantes Ensemble zu bilden, bis zu den sinnreichst complicirten Verschlingungen, den launenhaftesten Arabesken, ja bis zu jenen chimärischen Conceptionen, in welchen die 1