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Deutscher Reichstag. Sitzung vom 16. Mai, 11 Uhr 20 Minuten. Die zweite Lesung der Reichsversicherungsordnung wird bei der K rankenversicher un, 8 621: Knapp- schriftliche Krankenkassen, fortgesetzt. Abg. H u e (Soz.) bemängelt, daß die Halbinvaliden der Bergwerke kein Wahlrecht erhalten sollen; das sei un gerecht. Man müsse die Halbinvaliden zu den Vorständen der Krankenkassen zulassen. Wenn man diese Leute aus schließt, verhindert man die Kasse an ihrer Entwickelung. Die Minderheit der Werksbesitzer vergewaltigt die Arbeiter miss schärfste. Die Kiiappschaftskassen sind in den Reihen der Arbeiter direkt verhaßt. — Abg. Gothein (Vp.) be antragt, daß die bei der Kasse Versicherten auch Wahlrecht erhalten. — Abg. Korfanty (Pole): Wir stimmen für den Antrag Gothein. Nach kurzen Bemerkungen der Abg. Becker-Arns berg (Ztr.), Behrens (W. V.) und Schirmer wird die Debatte geschlossen. Die Bestimmungen der Kommis sion werden mit folgendem Zusätze angenommen: „In die Keneralversamnilung und den Vorstand einer knappschaft- lichen Krankenkasse können auch Knappschaftsinvaliden ge wählt werden, wenn sie als Mitglieder Beiträge zur Kran kenkasse zahlen" und zwar mit 207 Stimmen einstimmig, der sozialdemokratische Antrag wurde mit 213 gegen 83 Stimmen abgelehnt. Präsident Graf Schwerin teilt mit, daß der Dresdner Magistrat den Reichstag und Bundesrat zum Be- jnche der Internationalen Hygieneansstettung eingeladen habe; sehr erwünscht sei, wenn die Damen der Herren des Reichstages an den« Besuche teilnehmen würden. (Beifall.) Es folgt der 10. Abschnitt: Ersatzkassen (8 628 bis 648). — Abg. B r ü h n e (Soz.) fordert für die freien HilfSkassen weitergehende Freiheiten; die Kommissionsan- träge seien ein Ausnahmegesetz gegen die freie» Hilfskassen Gesandter v. Eucken Addenhausen bittet, im Interesse der Ziegler von Lippe »in Annahme der Kommis- sionsbeschlüsse. 20 solcher Kassen mit 17 000 Mitgliedern bestehen in Lippe und wirken sehr segensreich. Wenn man die Mitgliederzahl auf 260 herabsetzt, können diese Kassen bestehen. — Abg. Dr. N a u in a n n - H o f e r (Vp.): Wir sind Freunde der freien Hilsskassen und wollen sie bestehen lassen; man sollte sie nicht allzuschwer einschränken. Man sollte die Hilfskassrn schon bei 500 Mitgliedern znlassen und nicht erst bei 1000. — Die Kommissionsanträge werden angenommen; es sind also Ersatzkassen von über 1000 Mit gliedern zugelassen. Der Nest der Krankenversicherung wird angenommen. Es folgt das dritte Buch: Unfallversicherung; 8 660, Umfang der Versicherung. Abg. Severing (Soz.) tritt für Ausdehnung der Unfallversicherung ein, wer der Krankenkasse untersteht, sollte auch in die Unfallversicherung ausgenommen werden. Aber leider ist das nicht der Fall, der 8 660 enthält nur eine lange Liste, sagt aber nicht viel. Wenn man jene anfzählt, die der Unfallversicherung nicht unterstehen, gibt es eine viel längere Liste. Der Kreis der Versicherten ist nur ganz wenig erweitert worden. Abg. Molkenbuhr (Soz.) schließt sich den Ausfüh rungen des Vorredners an. — Der sozialdemokratische An trag wird abgelehnt und der 8 660 unverändert ange nommen. Die 88 661 bis 669 werden nach kurzer Debatte unver ändert angenommen. Darauf wird die Weiterberatung auf Mittwoch 12 Uhr vertagt. — Schluß s/28 Uhr. ttdy Jeassu. Schon zu Ende Mai deS Vorjahres, als NeguS Menelik das Ende seiner Tage herannahen fühlte, wurde die Thronfolge in Abessinien geregelt und der Enkel des Kaisers, Lidy Jeass», zum Nachfolger proklamiert. Nach der Proklamierung folgte die feierliche Verlobung des ThrsnfolgerS mit Romanie, der damals siebenjährigen Enkelin des Kaisers Johannes, einer Nichte der Kaiserin Taitu, welche immer die Ernennung JeassuS zum Thron erben heftig bekämpfte. Nach der Verlobung ihrer Nichte schien sich jedoch die Kaiserin mit der Wahl JeassuS aus- zusöhnen. ES war Täuschung; mit der fortschreitenden Krankheit MenelikS trat die unversöhnliche Gegnerschaft TaituS wider den jungen Kronprinzen und den Reichs- Verweser bald offen, bald versteckt immer unverkennbarer hervor. Und an diesen ihren Machenschaften gegen die von Menelik eingesetzte Thronfolge und den ihr nicht minder verhaßten Reichsverweser ist schließlich ihre Macht gescheitert. So war also die Nachfolgerschaft gesichert und nichts konnte die Anhänger MenelikS mehr hindern den Thron folger nun auch zum König zu proklamieren. König Lidy Jeaffn ist erst 17 Jahre alt, ein un beschriebenes Blatt. Für sein Alter besitzt er ein sehr reife« Urteil. Er beherrscht, wenn auch nicht vollständig, die deutsche, französische und die englische Sprache und interessiert sich sehr für europäische Verhältnisse. Lidy Jeassu Übernimmt den Thron unter guten Auspizien. Auf seiner Seite stehen die mächtigsten Männer des Reiches, darunter Abda GeorgiS, zugleich Kriegsminister und Minister deS Auswärtigen. Nach den Vizekönigen ist er als Ober befehlshaber aller kaiserlichen Regierungstruppen der mächtigste Beamte im Reiche. Er allein würde mit seiner Macht imstande sein, etwaige Aufstandsgelüste, wenn sie sich bei der Thronbesteigung des jungen Königs bemerkbar machen sollten, zu unterdrücken. Den natürlichsten Bundesgenossen findet der jetzige Herrscher in seinem Vater, dem mächtigen Ras Mikael, hinter dem eine Truppenmacht von 100 000 Mann steht. Die erstgenannten Würdenträger allein haben etwa drei Fünftel des ganzen Landes in der Hand. In dieser Ueber- macht liegt auch die beste Bürgschaft gegen eine sremden- felndliche Bewegung und sie bietet auch die Garantie für die friedliche Entwicklung der künftigen aethiopisch-euro- päischen Beziehungen. Auch Italien, daS da unten zumeist interessierte Land, dürfte den kommenden Ereignissen ruhig entgegensehen, was früher nicht der Fall geweien ist. Das Ende der kwlleckiprozesse. Mit dem Spruch des vierten Zivilsenats des Reickzs- gerichtes haben nach menschlicher Voraussicht die verschie denen Prozesse ihr Ende erreicht, die sich um die Legitimität des jetzt 14 Jahre alten Grasen Joseph Kwilecki drehten. Eingeleitet wurden die gerichtlick>en Verhandlungen be kanntlich im Jahre 1003 vor deni Berliner Schwurgerichte, vor dem sich das Ehepaar Kwilecki wegen Kindesunter- schiebung zu verantworten hatte. Tie Verhandlung war reich an dramatischen Zwischenfällen und warf interessante Streiflichter auf das Milieu und die Lebensgewohnheiten der polnischen Aristokratie. So fragte der beklagte Graf Kwilecki ob der Frage des Vorsitzenden, ob er früher Ver hältnisse mit Frauenspersonen unterhalten habe, ganz ver wundert: Warum soll ich keine Verhältnisse gehabt haben? Sensation erregte es auch, als die Gräfin Kwilecki, die damals 67 Jahre alt war, mit dem sechsjährigen jungen Grafen auf dem Arm vor den Geschworenen erschien, um durch die Aehnlichkeit zwischen Mutter und Kind zu doku mentieren. daß das Kind von ihr geboren und kein unter schobenes sei. Das Urteil des Schwurgerichtes lautete denn auch auf Freisprechung, obwohl die Bahnwärtersfrau Eäcilie Meyer geb. Partza aus Bodenwald in Mähren be schworen hatte, daß der vorgeblich? junge Graf in Wahrheit ihr unehelicher Sohn sei und andere Zeugenaussagen da hin gingen, daß die Gräfin Kwilecki in ihrer Wohnung mit Hilfe einer ergebenen Dienerin eine Gebnrtskomödie gespielt habe. Bei dem Urteil des Schwurgerichtes be ruhigten sich aber die Agnaten des gräflichen Hauses nicht, denen, falls dem spätaeborenen Sohne des Grafen Kwileckt die Legitimität abgesprochen worden wäre, das 16 000 Mor gen große Majorat Wroblewo zufallen mußte, das einen jährlichen Reinertrag von 60 000 Mark abwirft. Sie fochten auf zivilrechtlichem Wege durch verschiedene Instanzen die Rechte des jungen Grafen an und erzielten es schließlich auch, daß das Oberlandesgericht Polen den Grafensohn seiner gräflichen Würde entkleidet und ihn als unehelichen Sohn der Bahnwärtersfran Eäcilie Meyer bezeichnete. Gegen dieses Urteil legte der jetzt 71 Jahre alte Graf Kwilecki Berufung beim Reichsgericht ein, die unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten Freih. v. Seckendorfs zur Verhandlung kam. Ter Gerichtssaal war lange vor Beginn der Sitzung namentlich mit Damen der guten Gesellschaft gut gefüllt. Der Bernfunqskläger Graf Kwilecki, eine hohe weißhaarige Greisengestalt, war persönlich erschienen. Er hatte drei Rechtsanwälte als juristische Beiräte mitgebracht. Die Be rufungsbeklagte. die Bahnwärtersfran Meyer, welche von den Agnaten in den verschiedenen Prozessen als Klägerin vorgeschickt worden war, war nicht persönlich erschienen. Dagegen ließrn sich die Agnaten durch zwei Rechtsanwälte aus Posen vertreten. In längeren Ausführungen bean tragte zunächst der Rechtsbeistand der Berufungsbeklagten unter Hinweis auf das Ergebnis der früheren Prozeßver- Handlungen, die Verwerfung der Revision. Als neues Moment führte er die Aussage eines Dr. v. Rosinsky an, der einmal mit der inzwischen verstorbenen Gräfin Kwilecki — 60 — Gleichgültigen, und Janohme merkte nichts. Noch öfter bestellte er mich in die Heide, ein täuschend nacligeohmter Käuzchenruf war das Zeichen, und Janohme glaubte, ich streife mit Hektor planlos durch die Heide, während ich zn ihm ging. Immer wußte er meine Bedenken zu beschwichtigen. Nie habe ich Männer gekannt, und glaubte jedes seiner Worte. Bis neulich Franz kam und die Wahrheit an den Tag brachte: in der Stube hörte ich seine Erzählung und meine Schmach. Betrogen, schändlich betrogen! . . ." Aechzend verbirgt sie das Gesicht in den Händen. Ein großes Erbarmen mit dem betörten Kinde füllt Lisas Herz, und den Arm um dessen Schultern legend, will sie linden Trost in die Wunde gießen: „Er ist deiner nicht wert! Vergiß ihn und trauere nicht um den schlechten Menschen!" „Er soll keine zweite unglücklich machen!" schreit Mitz aus. — „Als der Franz an jenem Abend heimging, war der Holländer in der Heide und schlich ihm nach. Bei Mutter Anna kam es zum Wortwechsel und Kampf. Franz warf ihn nieder und ging von dannen. Dann trat ich hervor und stellte den Verräter zur Rede; mit frechem Gesicht leugnete er. Und als ich ihn über führte, stieß er erst Drohungen aus, um mich dann wieder »nt süßer Rede be tören zu wollen. Er umschlang mich plötzlich und versuchte mich an sich zn ziehen. In dem Augenblick wurde es mir dunkel vor den Augen, ein wildes Tier sah ich vor mir mit glühendem Atem, ich griff in die Tasche nach JanohmeS Messer, das ich zum Heidekrautschneiden häufig mitnehme, und stieß es ihm ins falsche Herz." Ein Schauder fliegt durch ihre Gestalt, als sie fortfährt: „Wie das Blut über meine Hand floß, warf ich das Messer fort und floh entsetzt davon. An dem Tümpel dort wusch ich die Hand und ging heim. Mörderin! gellte es in meinem Ohr die ganze Nacht." Nach einer Pause setzt sie ihre Beichte fort: „Im Hause >var eine kluge Frau, eine Besenbinderi», die mir ein Kraut gab: Gift. Ich gab ihr an, daß ich es für Raubzeug brauche. Es sollte für mich selber sein! An der Bleß habe ich seine Wirkung erprobt." Lisa ist tieferschüttert: „Armes Mädchen, wohin hast du dich verirrt! — Wo hast du das Gift?" Mitz zieht eine Düte aus ihrem Busen und gibt sie der Freundin. „Nun mutzt du zur Ruhe kommen. Kind!" Mitz schüttelt mit dem Kopfe: „Ruhe?" Sie lacht auf, mit einem LaclM, das Lisa zur Vorsicht mahnt. Soll die Unglückliche nicht in den alten Zustand zurückfallcn, so muß klug vorgegangen werden. „Der Franz sitzt im Gefängnis, und ich müßte hinein!" ruft Mitz jetzt aus. „Aber ich will nicht hinein! Der Holländer muß hinein!" Unheimlich funkeln ihre Augen. Im nächsten Augenblick aber kehrt das Widerspiel zurück: „Er soll mich heiraten. Und dann töte ich ihn! —Ich bin verloren!" Machtlos steht Lisa vor dem neuen Ausbruch des Wahnsinns. Mit der Erregten über daü zu verhandeln, was zur Befreiung des Bruders geschehen könne, erscheint ihr zwecklos. Doch will sie wenigstens einen Versuch machen: „Was soll nun mit Franz geschehen?" Lisa schüttelt den Kopf: „Jst's schon so weit mit dir, Aermste?" Seufzend legt sie das Blatt Papier wieder auf den Boden, gerade noch zeitig genug, daß die wiedereintretende Mitz es nicht bemerkt hat Nun zieht sie die .Kranke neben sich auf einen Stuhl nieder: „Du bist dort krank, Mitz" — sie zeigt nach der Herzgegend — „willst du deiner Freundin nicht mal sagen, was dich quält?" Ter sanfte, mütterliche Ton macht auf das Mädchen Eindruck; willen los läßt es sich neben seiner Trösterin nieder. „Nun schütte mal dein Herz aus!" ermuntert Lisa. Aber Mitz schweigt lind nestelt nervös an ihrer Schürze. Auf einen Streich fällt kein Baum, tröstet sich Lisa und verdoppelt ihre Herzlichkeit. Trotzdem ihr selbst in der Sorge um des Bruders Schicksal iveh ums Herz ist, zwingt sie sich zur Heiterkeit und erdenkt alle möglichen Zerstreuungen. Als sie sich gegen Abend verabschiedet und von Janohme bis zur Land straße begleitet wird, verspricht sie, am folgenden Tage das begonnene Werk wrtzusetzen. — Einige Tage später sitzen die beiden Mädchen wieder aus der Birnbaum- bank. Schritt für Schritt hat Lisa im Vertrauen ihrer Anbefohlenen Boden gewonnen: aber die eine Türe, die zur Quelle ihrer Krankheit führt, bleibt ihr verschlossen. Sie plaudern über die Bleß, die sich wieder ziemlich erholt hat, als sie auf dem Heidepfad eine schlanke weibliche Gestalt dem Hause zuschreiten sehen: Lena Hemskerk. Lena ist im.(krankenhauss gewesen, bei Gert van Moolen, der sie mit Vorwürfen ivegen ihres späten Kommers empfangen hat. In ihrer gehei men Mission hat sie bei ihm so gut wie nichts ausgerichtet. Nun muß sie am Schauplatze der Tat ihre Forschungen fortsetzen. Am Brinkmannschen Hause ist sie vorübeegegangen. Mit welchem Rechte konnte sie dort die Schwelle übertreten, nachdem sie selber das Band zerschnitten hat? Als Lena in Gesichtsweite ist, steigt Lisa eine Ahnung: wenn sie Gestalt und Züge mit der Beschreibung des Bruders vergleicht, konnte die Ankom mende niemand anders als Lena Hemskerk sein. Nun steht sie vor ihr, und der ganze Liebreiz des fremdeil Mädchens nimmt Lisa beim ersten Blick gefangen, so daß ihr Herz ihm entgegenfliegt. Dieses Mädchen hatte ihren Bruder nicht betrogen, wenn sie auch das Ver löbnis mit dem Holländer nicht verstand. Lena nennt ihren Namen und sragt nach dem Besitzer des Hauses. Kaum ertönt ihr Name von ihren Lippen, als Mitz mit einein schrillen Aufschrei wie vom Bogen geschnellt ins Haus schießt. Lisa gibt der verwundert Dreinschauenden leise die Aufklärung: „Das arine Ding ist krank, ihr Verstand hat gelitten." Nun nennt sie auch ihren Namen und reicht Lena die Hand, die diese freudig ergreift. Auch Lena fühlt sich zu der Schwester des Geliebten, deren Wesen mit dem ihrigen so sehr übereinstimmt, alsbald hingezogen. Unaus gesprochen schließen die beiden Mädchen Freundscl)aft-