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„In Glaubenssachen entscheiden nicht Majoritäten." Ter Berliner Oberhofprediger Dr. Dryander hielt die Festpredigt bei der Einweihung der Protestationskirche in Speyer; diese war von einem versöhnlichen Geiste getragen. Sie beschäftigte sich mit der Aufgabe der protestantischen Kirche in der Gegenwart und enthielt mit „tiefstem Ernste und voller Aufrichtigkeit" die Versicherung, „daß wir mit unseren katholischen Brüdern in Frieden leben wollen, ohne Haß und ohne Groll". Wir nehmen mit Freuden von dieser Zusicherung Notiz und warten nur auf die entsprechenden Taten; der seitherige Verlauf der Feier in Speyer stimmt mit diesen Worten nicht ganz überein. Wichtiger aber noch erscheint uns ein anderer Satz aus der Festpredigt des Herrn Dr. Dryander: er lautet: Die Bedeutung des Tages von Speyer liegt darin, daß zum ersten Male ausgesprochen wurde: „In Glaubenssachen entscheiden nicht Majoritäten: es gibt über allen geschriebenen Rechten ein höheres Recht, das Gewissen, und es muß jedem beistehen, von dem ge schriebenen Recht an die höhere Macht, an Gott zu appellie ren." Es war im Jahre 1529, als dieser Satz von der pro testantischen Minorität aufgestellt wurde, und durch die Ge schichte des ganzen Deutschen Reiches hindurch behielt er seine Giltigkeit, bis im Jahre 1806 dasselbe sich auflöste. . Die Protestanten auf dem deutschen Reichstage weiger- ten sich stets, an Verhandlungen teilzunehmen, die sich mit konfessionellen Sachen befaßten; sie bildeten einen eigenen „eoi-pun l-v.injrt>Iil'orum", der gar alle Wünsche und Be schwerden der Protestanten des Reiches sammelte und sie am kaiserlichen Hofe vertrat. Dieser „evangelische Körper" hat sehr intensiv gearbeitet; in drei Riesenbänden sind seine Beschlüsse und Akten aufgestapelt und er hat sofort gewalti gen Lärm geschlagen, wenn ihm bekannt wurde, daß hier oder dort irgend ein Protestant benachteiligt worden ist. So nahm er sich selbst der durch eine katholische Dienstmagd verjagten Hühner eines protestantischen Pastors in der schö nen Pfalz an und wechselte mehrere Schriftstücke darüber. Ten Vorsitz in dieser in Glaubenssachen souveränen pro- testantisck)en Abteilung führte der Kurfürst von Sachsen; die treibende Macht aber war Brandenburg resp. Preußen. Der Vorsitz blieb auch bei Sachsen, als dessen Herrscherhaus wieder zur katholischen Kirche zurückkehrte. Jeder Geschichts schreiber des „evangelischen Körpers" muß diesem eines zu gestehen, daß er mit sehr großer Entschiedenheit seine Auf gabe führte, leider fehlt bis jetzt eine von katholischer Seite verfaßte Darstellung dieser politisch protestantischen Organi sation. Die katholischen Reichsstände schlossen sich nach dem pro testantischen Vorbilde auch in einen, aber höchst losen „katho lischen Körper" zusammen, der nur sehr selten zusammen trat. Erst als die Bestrebungen für die Säkularisation der Kirchengüter entschiedener auftraten, suchte man dieses Band enger zu knüpfen, allein es gelang nicht. Eins steht als historische Tatsache fest: Solange die Katholiken im Deutschen Reiche die Mehrheit hatten, galt der Satz: „In Glaubenssachen entscheiden nicht Majoritäten." Wurde aber diese Schutzwehr für die religiöse Minderheit in Derrtschland auch dann noch publiziert, als durch die Napole- onschen Umwälzungen die Protestanten im deutschen Bunde und seit 1871 im deutschen Reiche die Mehrheit erhielten? Leider nicht, und diese Tatsache ist ein recht schwarzes und trübes Blatt in der Geschichte des Protestantismus! Kaum war die Säkularisation durchgeführt, als nun sofort die protestantischen Herrscher katholischer Untertanen rauh in Glaubenssachen eingriffen; wir erinnern nur an die Dekrete über die Kindererziehung in Mischehen, an die staatlichen Verordnungen, die sich bis auf die Kanzel und den Altar er streckten. So wurden nicht nur Gottesdienste, Gebete, Pre- digtterte für den katholischen Kultus von Protestant sä» r staatlicher Seite bestimmt, sondern in engherzigster lächer licher Knickrigkeit festgesetzt, was jährlich für Hostien, Meß weinen, Weihrauch usw. ausgegeben werden durste. Den Satz, den der Protestantismus fast 300 Jahre hindurch auf recht erhalten: „In Glaubenssachen entscheiden nicht Majo ritäten", warf er im ersten Vierteljahr seiner Vorherrschaft in Deutschland in die historische Rumpelkammer und dik tierte in das innerste Heiligtum der katholischen Kirche hinein. Aber so sprach er nicht nur in den Zeiten des Staats- kirchcntums und Staatsabsolutismus seiner ganzen Ge schichte Hohn, sondern auch im neugegründeten deutschen Reiche widersetzte er sich der praktischen Anwendung dieser Fundamentalbestimmung für Sicherung des konfessionellen Friedens. Schon als Bisäxst von Ketteler wünschte, daß die Freiheit der Kirche in der Verfassung des deutschen Reiches garantiert werden sollte, erfuhr diese berechtigte Forderung eine schroffe Ablehnung. Ter gesamte Kulturkampf war die schnöde Mißachtung dieses einstens vom Protestantismus so hoch gehaltenen Satzes,; das Jesnitengesetz, durch die pro testantische Mehrheit beschlossen, schlägt demselben stark ins Gesicht. Und all die kleinen und kleinlichen Bestimmungen, die gegenüber den Katholiken in Mecklenburg, Braunschweig, Sachsen, den thüringischen Staaten usw. bestehen, stehen in dem denkbar schroffsten Gegensatz zu diesem fast 300 jähri gen Palladium des Protestantismus. Muß angesichts dieser Tatsachen nicht die Ansicht bei den deutschen Katholiken sich festschen, daß der Protestantismus nur so lange diese Schutz wehr gegen etwaige Uebergriffe der Majorität gelten lassen will, als er in der Minderheit sich befand? Nun in Speyer in festlicher Weise daran erinnert wird, und gerade auch Vertreter aus den thüringischen Herrscher häusern diese Worte vernommen haben, könnte man ja an eine Besserung glauben, an die Zurückerinnerung an jene Zeiten, wo man den Schutz dieses Satzes genoß. Wir be grüßen diese historische Erinnerung besonders angesichts des Toleranzantrags der Zentrumsfraktion und hoffen, daß nun mindestens Oberhofprediger Tr. Dryander an unserer Seite für denselben kämpfen wird. Der Kern des Tolcranzan- träges ist nichts anderes, als die praktische Durchführung des Satzes: ,.Jn Glaubenssachen entscheiden nicht die Majo ritäten." > Deshalb bringt er seine Bestimmungen über die gegenseitige Religionsfreiheit und die Freiheit der Neli- gionsgesellschaften; die brutalen Entscheidungen der sächsi schen, mecklenburgischen, braunschweigischen und anderen protestantischen Majoritäten in Glaubenssachen gegen die Katholiken dieser Länder sollen fallen und dafür mehr Frei heit eintrcten. So will es der Tolcranzantrag des Zen trums. Daß in Speyer in indirekter Weise an denselben er innert worden ist. freut uns recht. Dadurch wird die Pro testationskirche auch ein Protest gegen die Einmischung der protestantischen Majoritäten in katholische Angelegen heiten. Wir bekennen uns frei und offen zu diesem Satze, daß im modernen Staate, im 20. Jahrhundert nicht die Majoritäten entscheiden dürfen, daß deshalb für die Minori- täten einzelner deutscher Staaten eine Schutzwehr errichtet werden muß, um die Uebergriffe machtlüsterner Majori- täten zurückzuwerfen, mit einem Worte, daß der Toleranzan- trag des Zentrums Gesetz werden muß. Politische Rundschau. Deutschland. — Der Kaiser traf am Sonntag um 6^ Uhr nach- mittags auf dem Bahnhof Altona ein. Zum Empfang war Prinz Friedrich Leopold anwesend. Die Majestäten be gaben sich durch die Feststraßen zum Liegeplatz der „Hohenzollern" bei Neumühlen. Die Truppen bildeten Spalier, die Glocken läuteten, eine ungeheure Menschen menge begrüßte die Majestäten mit jubelnden Zurufen. Die Majestäten nahmen auf der „Hohenzollern" Wohnung. — Die Verlobung Seiner Kaiserlichen Hoheit de- Deutscheu Kronprinzen mit Ihrer Hoheit der Herzogin (Läcilie zu Mecklenburg ist am Sonntag nachmittag offiziell bekannt gegeben worden. — Herzogin Cäcilie Auguste Marie zu Mecklenburg.Schwerin ist am 20. September 1886 in Schwerin als Tochter des verstorbenen GroßherzogS Friedrich Franz III. und der Großherzogin Anastasia Michai- lowna, einer Tochter des noch lebenden Großfürsten Michael Nikolajcwitsch. geboren; die Herzogin ist nach ihrer Groß- mutter mütterlicherseits genannt, der 1891 gestorbenen Großfürstin Olga Feodorowna, geborenen Prinzessin Cäcilie von Baden. Die ältere Schwester des Großherzogs und der Herzogin. Herzogin Alexandrine Auguste, ist seit 26. April 1898 mit dem Prinzen Christian von Dänemark vermählt, dem ältesten Sohne des dänischen Kronprinzen Friedrich und späteren Königs von Dänemark. Herzogin Cäcilie ist eine hochgewachsene, schlanke Erscheinung von anmutigem Aeußercn. — Herbert Bismarck ist an einem inneren Leiden schwer erkrankt. Sein Zustand ist besorgniserregend. — Adresse der Zentrumsfraktisu an den Reichstags- Präsidenten. Aus Anlaß des 70. Geburtstages des Grafen Vallestrem ist von der Zentrumsfraktion demselben fol gende Adresse durch den Abgeordneten Dr. Spahn am heutigen Montag überreicht worden: Exzellenz! Hochgeehrter Herr NeichstagSpräsident! An der heutigen Feier Ihres siebzigsten Geburtstags nimmt neben der Gräfliche» Familie mit besonderer Freude und berechtigtem Stolze die Zentrumüpartei im Reiche, der Sie angehören, und die Zentrumsfraktion im Reichstage, die Sic Jahre hindurch als Bor- sitzender geleitet haben, den innigsten Anteil. Durch einen Unfall von den Schlachtfeldern Frankreichs abbcrufen. auf denen Sie in blutigem Ringen dem deutschen Volke des neuen Reiches Herrlichkeit mit erstritten haben, sind Sie in schwerer Zeit inneren Haders in die Reihen des Zentrums eingetreten, um unter seinem Banner mit der gleichen Begeisterung wie draußen für die Ehre und Größe des Vaterlandes so im Innern für unseres Volkes Glück und Wohl und für die Freiheit und die Rechte unserer Kirche zu kämpfen, deren Selbständigkeit nach unserer unerschütterlichen Ueberzeugung einen Eckpfeiler der Macht des Deutschen Reiches bildet. In unserer Milte sind Sie, Exzellenz, bei der gemeinsame» Arbeit für die Aufgaben des Reichs und die Verteidigung unserer Kirche durch Ihre edclmännische Gesinnung und Unerschrockenheit, sowie durch Ihren weitschauenden Blick uns im Streite für Wahrheit, Frcihei und Recht zum Vorbilde geworden. Ihr Rat zur Einigkeit in unserem Handeln und zu scharfsinniger Vorsicht bei unseren Ent Me „Vrotestatton" zu Speyer im Aahre 1528. Zu Speyer am Rhein, in der alten Kaiserstadt, wurde ain 31. August die „Protestationskirche" geweiht. Alle „evangelischen" Vereinigungen Deutschlands waren dabet vertreten, um — wie es in dem Einladungsschreiben des Bauausschusses heißt — den Katholiken zu bezeugen: „Wir stehen zur Tat der Väter von 1529, wir protestieren auch heute noch, wir lassen weder Glaubensfreiheit noch Ge wissensfreiheit antasten!" Was war das für eine Tat? Gegen wen und gegen was richtete sich jener Protest? Es war im Jahre 1529. Kaiser Karl V. sah mit gro ßer Bekümmernis den Zwiespalt im Reiche, den fortschrei tenden Zerfall des religiösen Lebens. Ein Reichstag war ausgeschrieben worden. In Speier sollten die Fürsten und Stände beraten, wie dem Unheil der Glaubensspaltung Ein halt getan werden könne. Die Not war groß. Ein gewal tiger Riß klaffte durch die deutschen Lande. Gab es wirklich gar kein Mittel mehr, sie im Glauben wieder zu vereinigen, sie, die so lange Jahrhunderte Gott gedient in der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche? Seit Ausbruch der Wirren waren weite Ländergcbiete dem religiösen Umstürze gewonnen worden, Hunderltausende waren bereits von der Kirche getrennt. In so kurzer Zeit! Wie war das gekommen? In ärgster Zeit war das christliche Volk über die Ziele der „Reformatoren" getäuscht worden. Die Sehnsucht nach Beseitigung so vieler Mißstände im kirchlichen Leben hatte große Massen in das Lager der Neuerer gelockt. An eine Trennung von der Kirche dachten sie keineswegs. Sie er- hofften eine „Reformation", — es kam aber die „Revolu- tion". Ehe sie sich dessen versahen, waren sie von der Ein heit -er Kirche getrennt. — Die Fürsten ihrerseits und die städtischen Magistrate, längst eifersüchtig auf die Gewalt und das Ansehen der Bischöfe und Prälaten, erkannten in der kirchlichen Umwälzung eine gute Gelegenheit, ihre Macht zu vergrößern und Reichtümer zu gewinnen. Sie scheuten vor keiner Gewalttat zurück. Die reichen Stiftungen wur den eingczogen, die Klöster aufgehoben, ihre Insassen — so weit sie nicht freiwillig gingen, mit Gewalt vertrieben. An vielen Orten halfen rohe Pöbclhanfcn mit zum Gelingen des Werkes. Tie Gotteshäuser wurden gestürmt und ans geplündert, Priester und Ordenslente mißhandelt, die ärgsten Greneltaten verübt. Wer dem Umstürze sich nicht fügen wollte, mußte Hab und Gut veräußern und das Land verlassen. Ein neues Kirchentum wurde eingerichtet, der Gottesdienst umgestaltet. Damit das Volk den Unterschied nicht gewahr werde, wurden einige Aenßcrlichkeiten auf Luthers Anraten beibehalten, besonders in bezug auf die heilige Messe. Wie aber die Fürsten und städtischen Machthaber teil weise mit Gewalt das neue Kirchentum gründeten, so such ten sie cs auch mit Gewalt, mit äußerster Unduldsamkeit zu erhalten. Und gerade hierfür ist die „Speyerer Protesta tion" ein sprechender Beweis. Auf dem Reichstage zu Speyer, im Jahre 1529, neigte die Mehrheit der deutschen Fürsten und Stände noch der ! alten Kirche zu. Es wurde beschlossen: „Der Kaiser solle nochmals ersucht werden, innerhalb Jahresfrist ein allge meines Konzil zu veranlassen, und selbst dabei gegenwärtig zu sein. Bis dahin sollten diejenigen Stände, die seither das Wormser Edikt *) befolgt hätten, auch ferner dabei ver harren und ihre Untertanen dazu anhalten; die anderen Stände aber, in deren Landen die neue Lehre eingeführt sei und ohne Aufruhr, Beschwerde und Gefahr nicht abgcschafft werden möchte, sollten bis zum zukünftigen Konzil alle wei teren Neurungen, so viel nur immer möglich, verhüten. Be sonders aber solle die Lehre, die dem Sakramente des Altars entgegen wäre**), nicht angenommen und nicht öffentlich *) Im Wormser Edikt war über Luther die Acht ausgesprochen worden; zugleich wurden alle Neuerungen in ReligionSsachen aufs strengste untersagt. **) Diese Bestimmung richtete sich vornehmlich gegen die Awinalianer, welch« die wirkliche Gegenwart des Herrn im heiligsten Altarsakramente leugneten. gepredigt, die Messe nicht abgeschafft, und an solchen Orten, wo die ncneLehre überhand genommen, niemanden verwehrt oder verboten werden, Messe zu halten oder zu hören, doch dürfe auch niemand zur Anhörung der Messe gezwungen werde». Ueberdies solle kein geistlicher Stand seiner Ge walt und seiner Einkünfte entsetzt werden dürfen, auch solle keiner des anderen Untertanen des Glaubens halber in besonderen Schutz nehmen." *) AnS diesen Beschlüssen, die durch die Bestätigung des Kaisers Gesetzeskraft erhielten, ersieht man aufs klarste, daß die kntbolischen Reichsstände darauf bedacht waren, den „Evangelischen" volle Duldung zu gewähren, und daß sie nur Gewalttätigkeiten von deren S^ite und weitere Ausbrei tung des durch seine Wirkungen so schlecht beleumundeten „Evangeliums" bis zur Entscheidung des Konzils verhin dern wollten. Tatsächlich war dieser Reichstagsbeschluß ein großes Zugeständnis an die Neuerer. Melanchthon, der treueste Gehilfe Luthers, schrieb damals: „Diese Ar tikel beschweren uns nicht, ja sie schützen ! uns sogar mebr. als der Beschluß des vori gen Reichstages." (Corp. Reform. 1, 1059.) Mau beachte es wohl: ausdrücklich gestattete der Reichs tag den der lutherischen Lehre anhängenden Ständen die Beibehaltung des neuen Kirchenwesens. wenigstens bis zum Konzil. Dafür verlangten die katholischen Fürsten von den „evangelischen" Ständen nichts anderes, als daß auch sic die Katholiken ungestört bei ihrem Glauben, ihrer Religi onsübung und ihrem Besitzstände lassen sollten. Und eben dies war es — die Duldung der Katholiken, wogegen die evangelischen Stände protestierten. Sie spra chen cs offen aus, daß sie cs für eine Verleugnung ihres Glaubens ansähcn, wenn sie die alte katholischeLehre als zulässig anerkennen, wenn sie gar Katholiken in ihren Gebieten dulden und die Feier der Messe gestatten würden. So ließen denn die „evangelischen" Fürsten und Stände dem Kaiser jene berühmte Erklärung überreichen, ") Ren. Geschickte des Reichstages zu Speper im Jahre IbM Hamburg INNO.