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Zweites Blatt Sächsische Volkszeitung vom 11. April 1907 Nr. 82 Eine jüdische Lehrerprüfung aus neuerer Zeit. Tie „Frankfurter Zeitung" hatte jüngst einen Artikel gebracht „Eine Lehrerprüfung in der guten alten Zeit". Der Artikel Wldert die Prüfung, die in einem seltsamen Zwiegespräch zwischen einem Superintendenten und einem als Lehrer an zu stellenden Müllergesellen bestand. In der edlen Absicht, der christlichen Volksschule eins anzuhängen, hat natürlich die sozialdemokratische Presse (vergl. „Düssel dorfer Volksztg." Nr. 7t vom 27. März 1907) dieses Fllnd- lein sich nicht entgehen lassen. Es wird den Herren gewiß Freude machen, wenn wir da erinnern an die Prüfungsausgaben, welche die Kandi daten des jüdischen Seminars zu Breslau im Jahre 1862 zu beantworten lxstten. Tie Fragen in ihrem wunderbaren Deutsch lauteten.- „l. Wenn ein Vogel geschlachtet, dann von ihnr ein Viertel Fett mit znxliizig Vierteln eines anderen Vogels vermischt worden, ebenso ein olivengroßer Teil seines Flei- 'chs unter zioanzig anderen gleich großen Teilen, diese ein- nndzivanzig Viertel aber wieder unter hundert andere Viertel, ebenso die einilndzivanzig Fleisckiolivcn unter hun dert andere Oliven kamen, sich dann aber an dem Adern- gekleckste des Vogels eine Wunde findet: Was ist über das Fett, was über das Fleisch zu bestimmen? Wenn auch der Magen unter hundert andere Magen gemischt worden, wie i'l über diese zu vestinimen? — 2. Wenn die Lunge an die Seite des Vieles angcivachsen ist und mit einem ihrer Lappen und mit ihren: Hauptteile, zumeist aber mit dem Laopeii. die Lunge aber ist mager, wird dann gebraten, oder ovne Brühe getollt zusammen mit einer fehlerfreien fetten Lunge, was ist über diese zu bestimmen? Wenn die fehler freie Lunge auch mager, aber einige Brühe im Topfe ist, wie dann? — 3. Wenn ein Fisch gesalzen worden, so daß das Blut ilnn bereits entzogen ist. er dann aber zu einem Vogel gelegt wird, der jetzt gesalzen wird, und dort einige Zeit liegen bleibt: stxis ist über ihn zu bestimmen? — 4. Wenn ein Sch'idebrief vor uns kommt, in welch»!'der Mann be zeichnet wird als Rüben, welcher genannt wird Abraham, dann kommen zwei Zeugen, welch behaupten, es müsse um gekehrt beißen: Abralzam, welcher genannt wird Nuben, dann treten wieder zu>ei Zeugen mit der Behauptung auf, der Schi debrief sei ganz richtig geschieben, der Mann beiße: Nuben. welche genannt wird Abraham: darf die Frau auf diesen Schidebrief hin sich wieder verchiraten? Sollte dies nicht gestattet sein, wie ist zu verfahren, wenn sie sich bereits wieder verheiratet hat? — 5. Darf in den Schidebrief eine Bedingung gesetzt werden, und wann mag dies geschhen? Muß die Bedingung dann in doppelter Form an?gedrückt werden, wenn die Scheidung als vom Augenblick an gültig liainit bezeichnet werden soll?" (Vergl. Lagarde, Deutsch Schriften, 4. Ausl., Köttingen 1003. S. 253.) So was stammt also nicht aus der guten alten Zeit auch kein kasuistischer Moraltheologe des 17. und 18. Jahr- vnnderts, Ux'lch sonst als Beweisstücke einer rückständigen Unwissenschaftlichkeit vorgeführt werden, hat dieses der- saßt, sondern aus einem Rabbinerseminar des 19. Jahr hunderts entstammt dieses. Man wird geltend mach», Dinge und Knlturzuständc der Vergangenheit dürfe inan nicht mit dein Maßstab Ser- Gegenwart messen. Das ist sehr richtig. Warum vergessen die Herren nur immer diesen Grundsatz, wenn es gegen andere geht? Pslttische Rxrrdscha«« (Fortsetzung aus dem Hauptblatt.) — Neues und Altes aus Südwestasrika. Die englisch Gesellschaft South West Afrika Company hat wieder einen feinen Streich vor; sie läßt verbreiten, daß sie den Ent schluß gefaßt habe, auf e'gene Kosten eine Eisenbahn von Otawi nach Grotfontein in einer Länge von 100 Kilometer zu bauen. Durch ein derartig großzügiges wirtchaftliches Unternehmen, so schreibt zum Beispiel die „Köln. Zeitg.". werde die Company ihren vielen Gegnern und überlzaupt den Gegnern der großen Kolonialgesellschaften am besten entgegentreten. Schde nur, daß sich das gemeinnützige Unternehmen der Landgesellschaft bei Licht besehen als eine Spekulation schlimmster Art darstellt. Führt doch die „Köln. Zeitg." fort: „Mit Fug und Recht wird allerdings die Gesellschaft der Ansicht sein können, daß ihr nicht zu- gemutet iverden könne, in einem Gebiete, dessen Erschlie ßung durch Eisenbahnen, wie in absehbarer Zeit beabsich tigt, in großem Umfange Land zum Farmbetriebe abzu geben, da sonst nicht die Erbauer der Eisenbahn, sondern an dieser wirtschaftlillM Erschießung des Landes ganz Unbeteiligte den Vorteil der Werterhöhnng des durch die Eisenbahn berührten Farmgebietes genießen würden." Die ganze Route der Bahn liegt im Terrain der Sonth-West- Afrika-Company. Sie hofft das Gebiet, das sie seinerzeit für einen lächerlichen Preis erworben, nun vorteilhaft an Farmer verkaufen könne, und die offiziöse „Köln. Zeitg." findet es ganz in der Ordnung, daß die Terrainspekulanten der EoniWiy mit dem Verkauf der Farmen so lange war ten, bis sie einen möglichst hohen Preis herausschlagen können. Tie Negierung ihrerseits wird durch die Statio nierung von Truppen dafür sorgen, daß den sich dort an siedelnden Farmern auch die nötige Absatzgelegenheit für ihre Erzeugnisse geboten wird. Tie Kosten für die ganze Spekulation trägt dergestalt schließlich der deutsche Steuer zahler. Eine hübsche Kolonialpolitik. Daß wir mit unse rer Auffassung nicht allein stehen, beweist ein Artikel des Generalmajors von Francois, der früher selbst jahrelang in Südwestasrika lebte und der nun im „Tag" seine An sichten niederlegte. Der Verfasser gesteht ein, daß seit drei Jahren die südwestasritänische weiße Bevölkerung eigent lich nur vom Kriege gelebt hat. Tie Verminderung der Trnpven werde deshalb zweifellos für die weiße Bevölke rung zunächst eine Krise heraufbeschwören. Sie treffe hauptsächlich die etwa 3000 Kansleute, Gastwirte, Hand Werker und Arbeiter. Würde man die Schutztruppe so ver mindern, wie es ohne jede Gefahr geschehen kann, so wäre die ganze Kolonie bankerott, wie sie es unmittelbar vor dem Aufstande auch ivar. Aber die 40 bis 50 Mllionen. die Teutfchaiid lährlich für die Truppe ausgibt, sollen gleichzeitig den finanziellen Rückhalt des kolonialen Wirt- schaftsbetriebes bilden. Mit anderen Worten: Südwest- afrika ist im Grunde nichts anderes als ein einziges Mar tetenderlager, das von der „milllvmden äi-uh", der Schutz- truppe lebt. Aber wenn eine starke Schutztruppe znrückbleibt. steht cs um die Farmer außerordentlich scksteckst. Diese tönnen znvrr Land genug zum Preise von 30 bis 100 Pfennig das Hektar kaufen, aber um die landwirtschaftliche Produktion steht es um so Wächter: „Produzenten werden sie trotzdem nW. Feldbau können sie bekanntlich nicht treiben, Gartenbau lohnt nur da, wo nal>e Absatzgelegenheit ist: die Produktionskosten sind höher, als die Preise für eingesührte Körnerfrüchte." Aber auch um die Produktion von Vieh steht es außerordentlich schlecht. Francois sllxitzt nach Dnrchsickst alles öffentlichen Materiales den gesamten Bestand des Schutzgebietes an Muttervieh auf etwa 5000 Kühe und 50 000 Mutterschafe und Ziegen. Um aber den Milch und Fleischbedarf einer Bevölkerung von 6000 Weißen, 4000 Mann Truppen und 40 000 Farbigen zu decken, der jährlich rund 20 000 'Ochsen und 286 000 Kleinvieh betrage, seien nötig 80 000 Kühe und eine Million Kleinvieh-Muttertiere. Ohne einen sol chen Viehbestand werde in Südwestafrika chronisch' Hirn- gersnot herrsch». Unter Zugrundelegung einer Berech nung des gewiß an Phantasie nicht leidenden Farmers Schlettwein stvrde sich der vorhandene Viehbestand in zirka 15 Jahren bis zu der zur Fleisllwersorgung der sch» heute in der Kolonie benndlichn Bevölkerung von 50 000 Köpfen vermehrt haben, dabei seien aber die Gefahr der Ver seuchung und andere Unsicherheiten des Betriebes nicht ein mal in Betracht gezogen. Francois macht deshalb den Vorschlag, sofort eine größere Summe, etua acht Millionen staatlicher Subventionen für Viehantäuf zu verwenden. Geschehe das, so würde schn nach zehn Jahren ein Vieh- bestand von 50 000 Kühen und 800 000 Kleinviehmüttern in der Kolonie vorhanden sein können. Ans diesen Dar legungen siebt man, daß Südwestasrika eben nur durch „künstlillie Ernährung" gehalten werden kann. Wenn das Reich nicht seine riesigen Zuschüsse geben würde, wäre das Land bankerolt. Um gewisse Redner nickst zu blamieren, scheint man mit dieser unvernünftigen Politik fortfahren zu wollen. Erst stellt die Negierung Vieh gratis, daun er kält jeder Farmer 6000 Mark zinslose Anleihen und sonstige Wohltaten, dann kommen Heuschrecken und er for dert „Entsckädigung", dann Trockenheit und er ruft nach Entschädigung, dann die Rinderpest und wieder tönt der Ruf nach Entschädigung. Eine herrliche Politik, die am Marke des deutschen Volkes zehrt. Wir sind tatsächlich be gierig, wie sich der Reichstag hierzu stellt. — Tie Beamten und die Parlamente. Nach Artikel 32 der preußischen Verfassung ist allen Preußen das Petitions- rellst gewährleistet, und demnach auch, wie der Minister des Innern soeben in einem Erlaß anerkennt, jedem Beamten gestattet, sich mit etwaigen Petitionen an das Hans der Ab- — 24 — Kühnappel tat es und bald kannte Gregor die ganze Naubnwrdgeschichte von A bis Z. Dann kam der Bericht von der Flucht an die Reihe und mit gespannter Aufmerksamkeit hörte Gregor ihn an. „Durch den Sprung von der Veranda in den Kanal habe ich mich ge rettet," schloß er. „und ein Glück war es. daß ich an jener Stelle eine User treppe erwischte, denn in meinem total abgehetzten Zustande hätte ich mich nicht allzulange überm Wasser halten können und hätte ohne die Treppe in dem kalten, schmutzigen Element ersaufen müssen wie eine blinde Katze." Gregor blickte finster vor sich hin. „Daß du di'» Bischof erschlagen hast," begann er nach längerem Schwei gen, „ist eine Wimme Geschichte: denn die Behörde wird scharf hinter dir her sein —" „Bei dir aus der Insel drüben wird mich niemand vermuten," fiel Külm- e.ppel ein. „Ich diene bei dir unter einem fremden Namen als Netzgeselle und —" „Aber ich werde dich behördlich anmeldeni müssen, und wenn man deine Papiere verlangt, dann —" „Dann iverde ich sie vorlegen," rief Kühnappel, indem er auf seine Brust- Küche schlug. „Hier habe ich die schönsten Atteste, mit denen ich durch die ganze Welt ziehen kann." „Na, dann mag's gehen. Ich Nwrde dich übrigens als meinen Neffen misgeben — aus der Königsberger Gegend ein Schwestersohn. Punktum!" Beide sprachen noch gehörig der Branntweinflasche zu, dann wurde das Segel aufgesetzt und man fuhr mit gutem Winde übr das frische Haff, und landete nach einer halben Stunde etwa an der langgestreckten Sanddüne, „irische Nehrung" genannt, die das Haff von der Ostsee trennt. 5. Kapitel. Weltverlorene Seelen. Eine einsame, waldumrauschte Hütte ist es, dahin der Faden der Er zählung uns nun leitet. Mch lster in der Nxsttverlorenen Abgeschiedenheit wird Silvester ge feiert, iu stiller Andacht und Einkehr in sich sebst wird der Vergangenheit und Zukunft gedacht, und Danksagung und Bitte erhebt sich aus ztvei edlen Frauenherzen zum Herrn der Welten, der allein ist der Erhalter unseres Lebens und der Spender jeder guten Gabe. — „Das Jahr will wieder scheiden, Mein Jesus bleibt bei mir. Das rühme ich mit Freuden Bei allem Wechsel hier. Das Jrd'sche muß vergehen Wie Spreu m: Windeswehen. Wer ihm und seinem Worte traut, Der hat auf sicherm Fels gebaut." Mit dieser geistlichen Liedstrophe schloß die fromme Betrachtung zürn Jahreswechsel, die die jüngere der beiden Frauen mit klarer, wohlklingender Stimme aus der Hauspostille vorgÄesen hatte. — 21 - Die Verfolger sahen ihn in der Lnle verschwinden: da sie aber ihr Leben nickst mit derselben verzweifelten Leichtfertigkeit aufs Spiel setzen wollten, wie Kiilmappel es getan, so mußten sie erst durch Entfernung der glatten Dachziegel sich eine sichere Stufenleiter sckzaffen, nm gefahrlos zu der genannten Dachluke gelangen zn können. Dadurch ging piek kostbare Zeit perloren, und der Flüchtling konnte wiederum einen bedeutenden Vorsprung gewinnen. Külmappes sroblockte. Im Innern nxir er an den Dachsparren her- untergeklettert und hatte den Bodenraum gewonnen. Hier herrschte eine liclstlose Finsternis, die ihn Pon der Umgebung nicht das »lindeste erkennen ließ. Ta sein Scharfblick ihm hier nichts nützen konnte, so mußte er sich auf seinen Tastsinn verlassen. Mt wert vorgestreckten Händen Witt er, bedächtig anskretend, dahin, und kam schließlich zn einer Bretterwand, und gelangte, air dieser sich fort- tastend, zu einer Tür. Mld ivar auch der Drücker gesunden, doch als er diesen niedert'liiikte, da zeigte es sich, daß die Tür M'r schlossen war. Diese Wahrnehmung fuhr ihm wie ein Gestüt Erschlag durch Mark und Dein, der Schweiß brach ihm ans allen Poren hervor. „Gefangen — wie eine MauS in der Falle!" mnrnrelte er. Ungestüm schlugen seine Pulse, als er jetzt lauschend dastand. Er hörte, wie seine Verfolger Stufe nur Stufe sich der Luke näherten: sie sgßeir ilmr glso hart ans der Spur, sie stmßten, wo er geblieben ivar, und er konnte ilmen nicht entrinnen. Er rüttelte an der Türe, vorsichtig nur: denn er durfte die Haus bewohner, von denen er keine Förderung seiner Flucht zn erwarten lxitte, nicht alarmieren. „So, hier ist das Mauseloch, und da unten steckt der Kujon!" hörte Kühnappel eine Stimme an der Dachluke. Er knirschte mit den Zähnen, schlug sich mit den geballten Fäusten gegen die Stirn. „Znm Teufel auch — es stxire gm Ende besser gestx'sen, ich hätte bei meiner Niitsckrpartie vom Dache herab lieber in der Einigkeit als hier ge landet!" Oben ließ sich ein knarrendes Geräusch vernehmen, Kühnappel blickte aufwärts und sah, wie einer der Verfolger Wm durch die Dachluke zn schlüpfen begann. Die Wut der Verzstxüfluiig verdoppelte, seine Kräfte, er erfaßte wieder den Drücker und stemmte mit aller Gewalt die Schulter gegen die Tür, diese gab jetzt dem Truck nach und ging ans. „Viktoria!" stieß der Flüchtling tilymphierend hervor. In einiger Entfernung zeigte sich ihm ein Lichtschimmer und hastig rannte er darauf zu. Er stand vor einer abwärts führenden Treppe und lauschte. Doch nun galt es kein langes Besinnen; denn schon schlug -er Schall der Tritte seiner Verfolger ihm ans Ohr. Er stürmte die niedrige Holztrepfv hinunter, dann eine zweite und dritte, bis er in einem weiten Korridor sich abermals ge fangen sah. Er sah drei geschlossene Türen, stürzte zn der rechter Hanb hin und vor- «DaS Steinkreuz am Ostseestranbe." s