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-tr. LL7 — LO. Jahrgang Sonnabend de» LS. September irm Erscheint »glich «ach«, mit «uSnahme der Sonn- und Festtage. A««aad» 1 mit .Dt« Zeit in Wort und Bild' vierteljährlich 11,10 In Dresden durch Boten 3,40 U». In ganz Deutschland ftcei Hau» L,8L in Oesterreich 4 43 L >»*>»»« » ohne illustrierte Beilage vierteljährlich 1,80 2». In DreSd», durch Boten »,I0 ^ In ganz Deutschland srei Hau« »,S« 2»; in Oesterreich 4,07 L — «inzel-Rr. 10 ^ Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die «gespaltene Pctitzeile oder deren Raum mU 18 j, Rcllamen mit 80 ^ die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt, Buchdttnikerei, Stedaktton «u» Geschäftsstelle: Dresden, Pillnttzer Strafte 43. — Fernsprecher ISO» Jitr RSSgabe unverlangt. Schrtststüikekrineiverdtudlichlei« Redaktions-Sprechstunde: II biS 1!k Uhr, Für va» 4. Quartal 1SLL abonniert man aus die „Sächsische Bolks- zeitung" mit der täglichen Ronianbeilage sowie der wöchentlich erscheinenden Beilage „Feierabend" zum Preise von 1.80 Mk. (ohne Bestellgeld), durch den Boten ins Haus L.1V Mk. Der Bezugspreis auf die Ausgabe ^ mit der illustrierten Unter» Haltungsbeilage „Die Zeit in Wort und Bild" erhöht sich monatlich um 10 Pfennig. »Fortschritte im kirchlichen Leben-? Dresden» den 22 September 1211. Die Schaustellungen, die der Protestantismus in letz ter Zeit der Welt gegeben, sind nicht erbaulich. Verirrung und Verwirrung, Zersplitterung und Zersetzung! Einst r ä u m t e m a n m i t d e in L u t h c r i? ch e n, j e tz t mit dem Christlichen ans, „nnd niemand erschrickt dar über" Es geht reißend bergab. Wer will halten und warnen? Ten Orthodoxen erstirbt, wenn sie ehrlich sind, das Wort ans den Lippen. „Freiheit" ist auch ihr Grundsatz. Das ist das Tragische und Verhängnisvolle: Die Nach kommen der Reformatoren gehen zugrunde durch Ge horsam, nicht durch Ungehorsam. Auch die katholische Kirche hat Gefallene, Verirrte und Verlorene — durch U u- gehorsam, nicht durch Gehorsam. „Ihre Hände sind rein vom Blute ihrer Kinder." Wenn man sich drüben ent schlösse, den individualistischen Prinzipien Valet zu sagen — — aber wer denkt daran! „ N o ch m e h r F- r e i h e i t, noch mehr Individualität!" lautet die Losung. — Adler rufen sie, Geier werden kommen! In einem Artikel der „Lcipz. N. Nachr." (Nr. 268, S. 11): „Fortschritte im kirchlichen Leben" heißt es: „. . . Und dennoch, trotz aller Rückfälle und Jrr- tümer hat sich der evangelisch-kirchliche Gedanke immer sieghafter betätigt. . . . Das Kirchliche, darauf kommt schließlich fast alles an, muß eine würdige und wohler wogene Stellung zur Zeitkultur zu finden und zu be haupten wissen. Es ist bezeichnend, daß gerade einer unserer bedeutendsten Kirchenhistoriker, Karl Sell, dis moderne Kultur als einen Inbegriff von Grundsätzen und Methoden intellektueller, technischer, sittlicher Arbeit nnd Weltbehandlnng charakterisiert, der an sich ganz gut vereinbar sei mit jeder Form christlicher Wellanschaunng, wenn diese sich auf ihr eigenstes Gebiet beschränkt." Das ist kein „Fels" mehr. Auf Wellen, Meinungen und Stimmungen wird gebaut nnd vertraut. Dem Zeitgeist wer den Schmeicheleien gesagt, Verbeugungen und Komplimente gemacht, wen»man's gleich nicht eingcstehcn will. Vergessen ist die große Wahrheit, daß Religion die höchste Kultur ist. Und das nennt sich „Fortschritt"! Wenn wir heute an leitender Stelle anssprechen, lvos wir fühlen, so hat uns die Rede des Herrn Kultusministers Dr. Beck dazu veranlaßt, die er gestern bei Eröffnung der Landessynode sprach. Das waren mutige Worte eines gläubigen Mannes, in denen ernste Mahnungen an die versammelten Synodalen enthalten sind. Der Herr Minister verschließt die Augen nicht vor der Gefahr, in der das positive Christentum in der Landeskirche schwebt. Ter Minister sprach: „Neue Theorien suchen sich dnrchznringen, die den festen Boden des Christentums zu erschüttern trachten und unserem Volke die bisherigen Grundlagen seines inneren zeitlichen und ewigen Glückes zu rauben drohen. In immer wachsender Feindschaft sucht man der Kirche ihre Glieder zu entfremden und unserem Volke das Trug bild eines glücklichen Zeitalters lediglich deS Diesseits vorzuhalten, in dem für die HcilSgüter kein Platz mehr sei. Und auch da, wo man sich noch vor dn-sen letzten Fol gen scheut, entkleidet man es seines geoffen- barten und gut beglaubigten göttlichen Inhaltes und w e i st ihm eine in Bezug ans menschliche Begründung wie inneres Wesen allen anderen Weiltreligionen gleiche Stellung an." Wohin soll cs führen, wenn dieser „Fortschritt" den letzten Rest deS gläubigen Volkes erreicht, das in seiner Art konsequenter ist als alle Denker? Wie hat der Jrr- und Unglaube der Universitäten den Idealismus der Menge untergraben und der Sozialdemokratie die Wege gebahnt! — „Ich huldigte dieser Lehre, so lange sie im Salon ausgesprochen wurde; als sie mir aber die Arbeiter aus der Schule Weitlings mit ihren rohen Fäusten vor demonstrierten, ekelte mir davor." (Heinrich Heine.) Man will das Christentum weiter verdünnen und ver drängen; deshalb kämpft eine liberale Lehrerschaft Sachsens für die Beseitigung nicht nur der konfessionellen Schule, sondern jedes konfessionellen Religionsunterrichtes in der Schule, für die Abschaffung eines jeglichen kirchlichen Ober aufsichtsrechtes über den Religionsunterricht durch den Lehrer. Man versucht bereits, in der Schule der Heran wachsenden Generation unseres Volkes das Christentum „seines geoffenbarten und gut beglaubigten göttlichen In haltes zu entkleiden". So wird dem Volke die Religion wahrhaftig nicht erhalten! Dis Frage um die es sich handelt, ist tief ernst nicht nur für das C h ristent n m , sonder n a n ch f ü r das Vater land, das liegt in den Worten des Ministers. Zwar weist der Minister in seiner Rede auch ans Helle Lichtpunkte hin, vor allem auf das immer mehr zutage tre tende „Dürsten nnd Sehnen weiter Kreise nach einem über das Diesseits hinausragende ewige Gute, nach einer Ver tiefung und Verinnerlichung des Glaubenslebens, nach einer sittlich-religiösen Erneuerung". Als einen solchen Lichtblick glaubt er auch die „noch in frischer Erinnerung stehende elementare Abwehr gegen jene Versuche" anzn- sehen, das, was dem sächsischen Volke hoch und heilig sei. „herabzusctzcn". — Diese Anspielung auf die Vorromäus- Enzyklika ist von seinem Standpunkte aus sehr wohl be greiflich, aber hier nicht angebracht. Nicht die gläubigen Elemente in der Landeskirche schürten über Gebühr die Pro testbewegung. sonder» gerade jene liberale Richtung, gegen deren verderblichen Einfluß auf die Landeskirche er so mahnende Worte gesprochen hat. In allen Protestversamm lungen herrschte ein liberaler Geist, derselbe, der den „Evan gelischen Bund" gegen die katholische Kirche beseelt, der aber keinen Finger rührt, heißt es, die „Heilsgüter des Christentums", den „geoffenbarten und gut beglaubigten göttliche» Inhalt" desselben zu verteidigen. Darin liegt noch lange keine „hohe Wertschätzung der evangelisch-lutherischen Kirche nnd der großen Männer, die sie gegründet", denn die Personen, die die Proteste arran gierten. teilen zum größten Teile die positive Ueberzeugung des Ministers nicht. Und das ist doch keine Wertschätzung eines Luthers, der Christus als unseren Gott festhielt, wenn der moderne Protestantismus darin in Gegensatz zu seinem Gründer tritt und in Christus nur einen höchst weisen Rabbi, einen Mann von echter Gottes- und Men schenliebe, ein Ideal sittlich-vollkommenen Lebens sieht. Wie Luther über Nom herfiel, so fallen die liberalen Pro testanten über Luther her, den sie nur noch eine historische, aber keine reformntorische Bedeutung mehr beilegen. Er hat den Ruf der Freiheit erneuert, der seit Beginn der Menschengeschichte in inam ichfachcn Variationen erschallte; aber man hat seine Person mißbraucht, denn selbst der Sozialdemokrat feiert Lut! er als Bahnbrecher einer neuen Zeit. Das ist keine „Wertschätzung" im Sinne der positiv gerichteten evangelisch-lutherischen Landeskirche! Für diese war die Protestbewegung regen die Borromäiis-Enzyklika kein Lichtblick, Wohl aber ein Nutzen für den liberalen Pro testantismus. Der oben erwäh-le Aufsatz der „Leipz. N. Nachr." zitiert folgenden Anssprina von 1>. Henrici: „Die ReformationSl rche ist die Kirche, die da dar legt, daß das Wort Gottes lebendig und kräftig ist. Sie gründet sich nicht auf Rückstände des Mittelalters, . . . sie gestattet sich keine kirchliche Zwangskultur, . . . sie stützt sich nicht auf Aberglauben, sie stützt sich nicht auf Sakramentszauber. sie hascht nicht »ach ästhetischer Be schwichtigungen, sie führt vielmehr zur Heilsgewißheit durch den Glauben an die sündenvergebende Liebe Gottes, die Jesus Christus uns darbietet." Es ist bemerkenswert; wie Her offenkundige Rück schritt christlichen Lebens, die unanshaltsame Zersplitterung nnd Zersetzung innerhalb der Kirche Luthers dem wcit- uud ticfgläubigen Mittelalter gegenüber als Fort schritt ausgegeben wird.*) Spielt hier der Fuchs eine Nolle, dem die Trauben zu hoch hängen, oder Verblendung und Unwissenheit in den geschichtlichen Tatsachen aus Ver gangenheit nnd Gegenwart? Wir empfehlen dem Leipziger Gelehrten zur Betrachtung Ludwig Feuerbachs bekanntes Distichon: „Sonst war die Religion, ich gesteh's, die Stütze des Staates; Aber jetzt ist der Staat Stütze der Re ligio n." Ja, fürwahr, der Kultusminister Dr. Beck sprach seine Worte in der Ueberzeugung, daß dieser Satz in der evan- geliscks-lutherischen Landeskirche Wahrheit ist. Wäre es an- ders, dann sähe es in ihr traurig aus. Und er gab daher die ernste Versicherung: „Wir aber, die Träger der landesherrlichen Kirchen gewalt, werden in unserer innersten Gewißheit, daß nie- mand einen anderen Grund legen kann außer dem, der gslegt ist, Jesus Christus, die Landessynode mit allen Kräften darin unterstützen, daß die ewigen Hcilswahr- heiten des Christentums nicht verkümmert werden, und daß unserem Volke die Religion und das kostbare Gut *) Bergl. Leopold v. Ranke. Weltgeschichte VII11 ff. Bei tbm. »dem größten Historiker der deutschen Nation', kann man sich orientieren, »wie es eigentlich gewesen'. seines konfessionellen Friedens wie bisher erhalten werde." Hier liegt noch ein fester Rückhalt des Positivismus. Die liberale Theologie ist nicht verlegen, wenn sie ihren Auflösungsprozeß wissenschaftlich erklären soll. „Ent wickelung, Fortschritt " i st alle s. Das klingt' so natürlich nnd probat, ist zeit- und kulturgemäß, sowie ein wirksames Beruhigungsmittel für Pessimisten und jene Gemüter, denen die „großartige religiöse Weitherzigkeit" über die Hutschnur geht. Es ist bittere Ironie, wenn der Protestantismus in dieser für ihn so bedenklichen Zeit von „unverkenn barem Fortschritte" spricht. Solche Worte wehen einen eisig an, fast wie die Freude jener Kranken, die sich um so Wähler fühlen, je mehr es zu Ende geht. Im Ver eins- und Gemeindeweseu mögen Erfolge zu verzeichnen sein, „weite Kreise dürsten nnd sehnen sich nach einem über das Diesseits hinausrageuden ewigen Gute, nach einer Vertiefung und Verinnerlichung", — aber was will das sagen im Hinblick auf die Fälle, wo des Glaubens Vertreter Verräter an dem „geoffenbarten und gut beglaubigten göttlichen Inhalte des Christentums" werden! Die Zukunft liegt gewitterschwer vor uns. DaS Vater land nnd sein Christentum geht bangen Krisen entgegen. Der Herr behüte uns in Gnaden! Thron nnd Altar stehen auf Gottes Kirche, stehen aber fest nur, wenn diese ist und bleibt „eine Säule und Grnndfestc der Wahrheit ". Politische Rrmdscha^ Dresden, den 22. Seplember 121'. — Der Kaiser trifft am 11. November zur Rekruten« Vereidigung in Kiel ein und nimmt am 12. Novcmber an der Einweibung des neuen Kieler Rathauses teil Seine Abreise erfolgt am 12. November abends. — Das Befinden des Prinzrcgcntcn Luitpold hat sich seit einigen Tagen leider wieder verschlimmert, so daß dis Teilnahme des Regenten am Oktoberfeste abgesagt wurde. Der Hofbericht spricht von rheumatischen Beschwerden, dis infolge des plötzlichen Witterungswechsels stärker aufge treten seien. Verschiedene Umstände lassen aber darauf schließen, daß es sich um etwas Ernsteres handelt. — Ter Reichstag wird, wie die „Germania" erfährt, am Dienstag, den 17. Oktober, seine Plenarsitzungen wieder, aufnehmcn. Ter letzte Sessionsabschnitt dürfte etwa bis 10. Dezember dauern. Alsdann soll der Reichstag formell aufgelöst nnd Neuwahlen angeordnet werden, für die der 16. Januar n. I. als Wahltag vorgesehen ist. Den Reichs tag erwarten bei dieser Herbsttagung noch große und zahl reiche Aufgaben. Wichtige Gesetze sollen noch verabschiedet werden. Da ist zunächst das Pcnsionsversicheruugsgesetz für Privatbeamte, dessen Erledigung von den Beteiligten lebhaft gewünscht wird. Ta ist die Strafprozeßreform, bei deren Beratung in der Kommission schon erhebliche grund sätzliche Meinungsverschiedenheiten auftraten. Da ist dis Schiffahrtsabgabenvorlage, die starke Gegensätze zwischen dem Norden nnd dem Süden hcrvorgerufcn hat und sogar vom Auslande her bekämpft wird. Ta ist das Hausarbei tergesetz, bei dem besonders die Frage der Lohnämter Schwierigkeiten begegnet. Die Handelsvorlage mit Eng land muß erledigt werden. Zahlreiche Interpellationen sind bereits angemeldet, wie die über Marokko. Andere Inter pellationen, zum Beispiel über die Teuerung, über eins Neueinteilung der Wahlkreise und über einheitliche Wahl urnen, stehen in sicherer Aussicht. Neue Vorlagen der Re gierung werden diesem Reichstags nicht mehr unterbreitet werden. — Da« Reisekoflrngesrtz für Kolonialbeamte wird so eben im Reichsanzeiger publiziert. Es schließt sich an dis Ordnung der Reisekosten im Reiche an, bestimmt aber für Seereisen: „Bei der Ausreise, bei der Heimreise und bet Versetzungen zwischen Schutzgebieten ist für diejenigen Wegestrecken, die auf Seeschiffen zurückgelegt werden, an Stelle der gesetzlichen Tagegelder und Fuhikosten eine noch näherer Bestimmung des Reichskanzlers festnisctzende. dem durchschnittlichen Aufwand anzupoffende Pauschvergülung zu gewähren." — Zum Wahlergebnis in Düsseldorf. Die sozial demokratische Parteileitung in Düsseldorf beanstandete dig Gültigkeit der für Dr. Breitscheid abgegebenen Wahlzettel, da auf diesen die Angabe des Wohnortes des im Wahlbe zirke Düsseldorf nicht ansässigen Kandidaten fehlt. Nach den bestehenden Bestimmungen ist erforderlich, daß die Persönlichkeit des Kandidaten unzwest'clhaft aus dem Stimmzettel hervorgeht. (Im ? 10 des Reglements zur Ausführung des Wahlgesetzes für den Reichstag heißt es:> „Ungültig sind Stimmzettel. auS welchen die Person des Gewählten nicht unzweifelhaft zu erkennen ist.") Aber es besteht wenig Aussicht, daß die Ungültigkeitserklärung noch vor der Bekanntgabe des amtlichen Wahlergebnisses erfolgt. Es liegt dazu aber kein Grund vor, denn der Kan- didat war sehr genau zu erkennen, da Dr. Breitscheid eins Rarität ist und es nicht zwei Stück dieser Gattung gibt. Würden die für Dr. Breitscheid abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt, so wäre der sozialdemokratische Kandidak