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die Gegenwart war ohnehin unvollkommen genug! Ja, wenn er erst, wie seine Schwägerin es ihn« versprochen, die Kraft znm Gehen zuriickerlangt hatte, ihnen allen gehörig „ans die Finger sehen" konnte, dann sollte ihn die Langeweile nicht mehr plagen. Doch immer von neuem nahm ihn die in klaren Tonwellen hernber- ranschcnde Musik gefangen, halbvergessene Erinnerungen heranfbeschivörend. War es recht getan, jenes Mädchen znm Wiederkommen ansznfordern? Ans welchem Grunde halte sie ilin anfgemcht, trachteten „die dort drüben" nach seinem Gclde? Aber zu dieser Frage schüttelte er selbst den Kopf. Cr war ja damals schon ein wohlhabender Mann gewesen, und „sie" hatte ihn verlassen — sein Geld lockte sie nicht. Das; Ottilie sich, seitdem sie in seiner Nähe weilte, in brennender Rene verzehrte, vernnitete sein stnmpsgewordener Sinn nicht, lind ebensowenig, das; Ilse beabsichtigte, da-:> Unrecht ihrer Mnlter nach Möglichkeit gniznmachen, und hier wie dort Frieden zn stiften. i . „Gnä' Fran haben vergessen, den Gries zur Suppe heranszngeben, auch möchte ich daran erinnern, das; wir eine Büchse Ertrakt brauchen." Ottilie war schon im Begriff, die Küche zn verlassen, nun nahm sie das Schlüsselbund wieder zur Hand. Ihre ^ersnentheit wuchs mit jedem Tage, vorgeblich sann sie ans ein Mittel, um den folternden Regungen ihres Ge wissens zn entfliehen, der Anblick des vereinsamten Kranken dort drüben verwirrte sie grenzenlos, brachte ihr die alte Schuld mit täglich sich erneuern der Anklage vor Angen. Mechanisch gab sie dem Mädchen das Gewünschte heraus. Am Küchenfenster lehnte Ilse, unten die Hühner mit zerdrückten Karlosselstückchen fütternd. Nun schüttete sie hastig die ganze Schale ans, das hungrige Volk kam mit fliegenden Bewegungen herbei, um sich den Genus; streitig zn machen. Ilse aber eilte ihrer Mutter nach. Im Hausflur holte sie sie ein. Licht und freundlich war es hier wie in dem ganzeil Hanse, und mir heimlichem Erschreckeil gewahrte Ilse in dieser scharfen Beleuchtung die liefen Linien in der Stirn ihrer Mnlter. die erst hier, in Erlau entstanden waren. „Mama," flüsterte sie schmeichelnd, „ich war gestern drüben beim alten Herrn Marwih. Er hat mich znm Wiederkommen anfgefordert. erlanb't du, das; ich gehe?" Es war, als stockte Ottilies Atem. Etwas unbeschreibliches mochte in ihr Vorgehen. „Ja. gehe so oft du willst, ich habe nichts dagegen!" Weiter wurde nichts zwischen Mutter und Tochter gesprochen, Ilse fühlte einen Kns;. der «ms einem dankbaren Heizen kam. dann war sie allein. Ottilie brach in ihrem Iiminer in d>e Knie. „Mein Gott, mein Gott, wenn das Kind berufen wäre, ihn, den verlorenen Sohn zn ersehen! Wenn es etwas gäbe, das mich freinmclne von dieser tödlichen Pein!" An die Launen, die abüohende Häs;lichk-nt des Alten dachte sie nicht, sie fühlte, das; sie über kurz oder lang nnammenbrechei: würde unter der Lau der Selbsranklagen, und griff zn ihrer Rettung nach einem Strohhalm. „Du weis;t, das; das nicht sein kann, Helene." lautete die ernste Ent- gegnnng. „ich sagte dir ja, das; ich meinem Baler gelobte, mich vor meinem dreis;igsten Jahr nicht zn binden. Mein Wort mns; ich halten, und dir war es bisher auch recht so." Er begann, ihr dichtes, dunkelblondes Haar eifrig zn streicheln. „Sei doch nicht so töricht und nris;trane mir. Ich werde nicht wortbrüchig, und wenn doch, so mühtest du mich leichten Herzens anfgeben und froh sein, das; die Erkenntnis nicht zn spät kam." „Aber ich null dich nicht verlieren!" ries sie fan leidenschaftlich. Dieser Ton und ihr leuchtendes Auge trafen sein Herz. „So ändere dich!" rief er bittend, „gib diesen Hochmut, deinen Eigen willen ans, - werde so zärtlich und hingebungsvoll, wie ich es von meiner Braut ersehne." BollNändig ernüchtert gab sie ihn frei. „Du hast dich von einer Erzkokelle umstricken lassen, erst befreie dich von den Fesseln der Sirene, dann werden wir uns auch wieder verstehen." Und ohne ihn noch einmal anzm'ehen, eilte sie davon. Mar Borchert folgte ihr nicht. Inzwischen halte Ilse sich verabschiedet, nicht zurück. Aber im letzten Augenblick, Fl io Angel, rief er eS ihr doch noch nach, das halle, wie das Kind am den heiligen Christ: und Leopold Warwih hielt sie stand schon zwischen Tür und Wort, ans das Ilse gewartet „Kommen sie morgen wieder Fräulein!" Sie nickte lächelnd ein Ja, und dann war die weihe Gestalt ent schwunden. und doppelt öde und trostlos erschien dem alten Herrn seine Einsamkeit. Er versank in ein analvolles Grübeln. Wie war es doch gekommen, das; er so ein verbitterter Sonderling wurde? Er hätte es kaum noch an gebe» können. Aber seitdem damals sein Junge tausend, an was rührte er da — um alle Heiligen, nur diese Folteranalen nicht; diesen wahnsinnigen Schmerz heranfbeschwören um ein Etwas, das vielleicht längst in der Erde moderte. Tie dünnen, gekrümmten Finger gerieten in eine zitternde, nervöse Bewegung. Aber die Gedanken, durch Ilses Erscheinen angeregt, liehen sich heule nicht bannen, sie kamen doch wieder. Ja, so war eS gewesen, als auch sie ihn dann verlassen, die Schlange, eine zornige, fast wilde Bewegung erschütterte den Rollstuhl, das; er in allen Fugen krachte da gährte und kochte der Hah in ihm, Haß gegen alle Menschen, und er gönnte keinem etwas, nicht das Sattessen! Er wurde knauserig und hartherzig, gegen andere, wie er meinte, bis er eines Tages entdeckte, das; er auch sich selber nichts gönnte. Tie Erkenntnis lies; ihn anfangs schaudern, und um sich zn trösten, begann er, Säcke voll Gold zn zählen. Tausende und Abertausende! Dabei vergas; er seinen Schmerz um das verfehlte Leben, er vergas; seine Einsam keit das glänzende, klingende Gold lenkte die Sinne so wohltuend ab. ja. es ward ihm ein Tröster.