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-rr. 15L — v. Jahrgang Ettwoch den 6. Juli MMjHkNolksMn Drichcint tSglich nach«, mit «nSnahme der Sonn- und Festtage. XuSaabe t. i Mit .Die Zeit In Wort und Bild" viertcljühriich- 2,1« I» Dresden durch Boten 2,4« In ganj Deutschland frei Haus 2,82 Au-aabe 0.! Ohne Illustrierte Beilage Viertels. 1,8« I« Dresden d. Boten 2,1« ^k. In ganz Deutschland frei Hau» 2.22 - Sinzel-Nr. 1« 4 - ZettuiigSprciSl. Nr. «888. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die «gespaltene Petitzeile oder deren Raum mit 18 4, Reklame» mit 8V 4 die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt vnchdrnckerel, Redaktion »nd WetchastSftelle, Dresden, Ptllnitzer Strafte 4S. — Fernsprecher INS« Für Rückgabe unverlangt. Schriftstücke keine Verbindlichkeit RcdakttonS-Sprechstunde: tt-12 Uhr. ^pfpisetienc! imcl iLbsnc! Oi'sclo- ^isdesi'eki pfunck 18 pfsliniUS. lZek'Ükig 8< I^0c:><5tt'0>i, Druden. bllscssrlsk^i In s»sn Ltsclttsllsn. Nlk Auf Irrwegen. Dresden, den 5 Juli 1910. Der Allensteiner Prozeß gegen Frau v. Schönebeck- Weber ist eingestellt, naclstunn die Angeklagte nach den ärztlichen Gutachten dem Irrsinn verfallen ist. Zu Beginn der Gerichtsverhandlungen brachten wir kurze Skizzen. Als aber das gesamte sexuelle Leben nicht nur der Angeklagten, sondern auch des Mörders, v. Goeben, ja sogar auch des ermordeten Majors v. Schönebeck in breitspuriger Weise im Gcrichtssaale zur Erörterung kam, und trotz des osten Ans- schlusses der Oeffentlichkcit von der Presse in spaltenlangen Berichten detailliert der Oeffentlichkcit vorgesetzt wurde, da verzichteten wir aus Hochschätzung fiir unseren Leserkreis auf die weitere Wiedergabe und hätten gewünscht, daß üb r- Haupt das deutsche Volk von der gesamten bürgerlicl > n Presse die gleiche Rücksichtnahme erfahren hätte. Wir sprachen wiederholt unsere Entrüstung darüber aus, daß der üble Geruch aus dem sittlichen Schlamme sich in alle Familien verbreiten konnte, ohne daß das Gericht Anstalten getroffen hat, um eine gesetzlich zulässige Desinfektion vorzu- nehmen. Zu allem Ueberflusse teilt ein Berliner Blatt noch mit, daß die Verteidiger der Angeklagten ihre nicht ge- halteneu Verteidigungsreden auch noch in Buchform er scheinen lassen wollen. Wozu? Um die Angeklagte zu rehabilitieren? Die große Oeffentlichkcit hat daran kein Interesse. Im Gegenteil, das deutsche Volk muß es sich allen Ernstes verbitten, daß die Schlammfluten durch eine neue Broschüre abermals umgerllhrt werden, wodurch Hunderte und abermals Hunderte unschuldig vergiftet wür den. Die Rechtsanwälte bekommen ihr schönes Honorar und sind auf solche Nebeneinnahmen nicht angewiesen. Wir erwarten vielmehr, daß die Rechtsanwaltskammer mit aller Entschiedenheit cingreift, um das Aergernis, das auch ihren Stand treffen würde, zu verhüten. Auch die Staats anwaltschaft könnte mit der Konfiskation einschreiten, denn eine solche Broschüre wäre durch ihre Unsittlichkeit, die aus dem Leben genommen ist, gefährlicher als Phantasieromane. Ob der jetzige Ehemann der Frau v. Schönebeck-Weber ein Interesse an der Herausgabe dieser Reden hat, lassen wir dahingestellt. Es berührt mindestens sehr eigenartig, daß in Buchhändler-Reklamen dessen Werke mit dem Bemerken angepriesen werden, der Verfasser sei der Ehegatte der An geklagten im Allensteiner Prozeß. Diese „Satire" hat den eigenartigen Geschmack, daß er das Berliner Theater publikum bei seiner mehr als saftigen Passenpremidre zu derselben Zeit belustigte, in der die Lachkrämpfe seiner Frau durch den Allensteiner Gerichtssaal gellten. Im Interesse der Gesundheit unseres deutschen Volkes und der Heran wachsenden Jugend protestieren wir mit allem Nachdruck gegen jedwede literarische Bearbeitung des Allensteiner Dramas. Doch nicht die Nachricht von der Veröffentlichung der Plaidoyers ist Veranlassung unseres Artikels, sondern die Beobachtung, daß die deutsche Justiz in den letzten Prozessen Wer hat die Kirche gegründet? Kurz und bündig antwortet auf diese Frage der Ka tholik: der göttliche Heiland. Und er hat für seine Antwort auf seiner Seite das ganze Nene Testament von den Evan gelien bis zur Geheimen Offenbarung, so daß der heute ob feiner großen Bequemlichkeit sehr beliebte Ausweg, ein zelne unbequeme Schriftstellen als „unecht" beiseite zu schieben, angesickits der Wolke von Zeugen ganz ungang bar ist. Auf keinem Gebiete der Kirchengeschichte stehen sich die Gegensätze so scharf gegenüber als dem des Urchristentums und der Frage nach dessen Kirchenverfassung. Und daß es rein wissenschaftliche Gründe wären, die eine Verständigung nicht zulassen, wird kein Kenner der Dinge behaupten wollen. Es sind ganz andere Gründe maßgebend. Wenn zum Beispiel der Berliner Professor Harnack dem Leipziger protestantisch-orthodoxen Kirchenreck,tslehrer Sohm zum Vorwurfe macht, daß er in seinen Aufstellungen unter der unwillkürlichen Beeinflussung durch den Kirchenbegriff Luthers stehe, so kann gegen ihn und Sohm der Vorwurf er- hoben werden, daß sie beide durch ihre antikatholische oder milder ausgedrückt, alles Katholische von vornherein ab lehnende Stellungnahme beeinflußt seien. Wie springt eine Wissensckiaft, die sich sonst ihrer Vor aussetzungslosigkeit rühmt, mit Schriftstellen um, die sich nicht fügen wollen! Da sagt der eine (Holtzmann), wenn die Stelle Matth. 16. 17 „Du bist Petrus usw." echt wäre, dann hätte der'Katholizismus „dreifach recht" mit seinein Kirchenbegriffe. Weil aber dieser nicht recht haben darf, eigentümliche Wege einschlägt, welchen ein falsches Syste m zugrunde liegt. Daher messen wir auch nicht den einzelnen Personen die Schuld bei. Betrachten wir den Eulenburg-Prozeß. Auch in diesem hat wie lm Allensteiner Prozeß die Prozeßleitung vollständig versagt. In Berlin sollte festgestellt werden, ob der Angeklagte einen Meineid geleistet hat. Belastungszeugen waren vorhanden. Binnen vier Tagen konnten die Fragen erledigt sein. Aber für den Beweis, ob die Zeugen glaubwürdig seien, wurde eine Menge andere Zeugen aufgeboten, so daß die wochenlangen Ver- Handlungen schließlich wegen Erkrankung des Angeklagten abgebrochen werden mußten. Die Anklage gegen Frau v. Schönebeck-Weber wegen Anstiftung zum Morde war allerdings komplizierter, nachdem der Hauptzenge nicht mehr am Leben war. Aber auch hier hätte ein geschickter Vorsitzender den Prozeß im gleichen Zeiträume zu Ende führen können. Wer die Berichte gelesen hat, bekam die Ueberzeugung, daß die Leitung der allerdings schweren Auf gabe nicht gewachsen war. In beiden Prozessen scheiterte die völlige Austragung an dem schlechten Gesundheits zustand der Angeklagten: daher mußte aber auch in beiden Fällen darauf Rücksicht genommen und nur die notwendige Erörterung zugelassen werden. Im Gerichtssaale sind vor allem die kriminalistischen Tatsachen festzustellen. Erst in zweiter Linie kommen die Gutachten der Sachverständigen in Frage. Bei diesen Prozessen ist es umgekehrt gegangen. Der Geisteszustand des Mörders wurde durch vier Wochen mit dem Seziermesser erbarmungslos behandelt. Und doch hatte man nicht mehr über ihn, sondern über die Ange klagte das Urteil zu fällen. Wenn das Gericht alle Straf taten psychologisch analysieren will, so macht es den Ge richtssaal zur Irrenanstalt oder zum Sanatorium, irrt vom Wege des Rechtes ab und begibt sich auf die Wege des Arztes. Die Motive, warum eine Straftat begangen wurde, können mildernde Umstände herbeiführen, oder strafverschärfend wirken, aber nicht das Ziel des Gerichtes, der strafende Rächer für das Verbrechen zu sein, erfüllen. Der Weg, den die deutsche Justiz hier eingeschlagen hat, führt zur praktischen Anerkennung der Theorie des Lom - bros o. Er erklärt das Verbrechen als das notwendige Ergebnis aus der physiologisch-psychologischen Eigenart des Täters und erblickt im Verbrecher einen anormal Ent wickelten oder einen auf frühere Entwickelungsstufen Zu rückgefallenen (Atavismus). Viele sind, so behauptet er, „geborene Verbrecher" und als solche an der Schädel- und Hirnbildung usw. erkennbar. Wenn solche Theorien in unserer Justiz Platz greifen, dann kämen wir auf den Ab weg der französischen und amerikanischen Rechtspflege: der betrogene Mörder seiner Ehegattin würde freigesprochen, der Kindesmord als ein Akt der Selbsterhaltung erklärt, die Zuchthäuser würden sich leeren und Irrenhäuser erbaut werden. Man würde den Verbrecher als Kranken behandeln und ihn mit dem ihm gebührenden Mitleid betrachten. Wenn aber die Freiheit des menschlichen Willens geleugnet wird, so hört olle Rechtspflege auf und die menschliche Ge sellschaft ist in ihrem Fundamente erschüttert. Ob Frau v. Schönebeck schuldig oder nicht schuldig ist, haben nicht wir zu beurteilen: es ist das Resultat der Verhandlungen und das Resultat ihrer Verteidigung. Wie konnte aber, sagt Justizrat Tr. M a m r o t h - Breslau im „Berl. Tagebl.", die Verhandlung mit einer geisteskranken Person über eine Anklage festgesetzt werden, auf welcher Todesstrafe steht, wenn sie nur „verhandlungsfähig" war? Angesichts des medizinischen Gutachtens und der Erklärung Goebens: „den Entschluß zur Tat habe ich selbst gefaßt". so muß die Stelle unecht sein! Und ein anderer (Pfleide- rcr) gesteht, die Stelle ist unstreitig katholisierend und dke katholisch« Kirche beruft sich mit Recht daraus: aber des halb müsse halt das Evangelium sehr viel später geschrieben worden sein. Andere sind dem Evangelisten Matthäus recht böse ob seiner katholisierenden Richtung und nennen ihn in ihrer Griesgrämigkeit den „katholischen Kirchenmann". N omit wir ganz einverstanden sein können. Auch der Evan gelist selbst wird darob nicht grollen! Indes, die Kirche ist nun einmal da, und sie ist da seit den Tagen des Urchristentums, und wenn Christus sie nicht gegründet hat, wer dann? Wie hypnotisierend hat auf viele nickst eben sonderlich über das Urchristentum orticntierte Köpfe gewirkt das Zau berwort, das Harnack in seinem „Wesen des Christentums" auf diese Frage als Antwort gesprochen. Im un-ckioerilö konckn I'autariick. Die Mittelmäßigkeit des Durchschnitts menschen mackste eine Autorität notwendig. Die Herden menschen brauchen sie, darum kam sie. Die reifen und freien Geister brauchen sie nickst! Gesetzt einmal, dem wäry so. Jener Geisteszustand, den das Wort „Herdenmensch" bezeichnet, mache eine Auto rität notwendig. Wir fragen: welche Menschen gehören nicht zu den Herdenmenschen? sind nickst der Autorität bedürftig? Vielleicht jene, die sich heute „freie Geister" nennen? Nun, dann antworten wir: Diese Autoritätsflückstigen von heute sind antoritätssllchtig bis zum, Exzeß. Die Autorität in religiösen Fragen verwerfen sie, dafür knien sie vor selbst- erwählten Autoritäten: der eine schwört auf Hackel, der an dere auf Marx, der dritte auf sein Freidenkerkäseblatt und scheint überhaupt die Eröffnung des Hanptverfahrens. wegen „Anstiftung zum Morde" nicht genügend motiviert. Und die „Köln. Ztg." meint, das Urteil über die Frau v. Schönebeck-Weber habe sich während des Prozesses zu ihren Gunsten verschoben. Bewiesen sei bisher nur die Binsenwahrheit, daß eine verfehlte Erziehung und eine ver fehlte Gedankenrichtnng bei krankhafter Anlage den Träger und seine Umgebung zu vernichten geeignet seien, nicht sei bewiesen, daß die krankhafte Anlage der Frau v. Schöne beck allein die Ursache des Verderbens gewesen sei. Moralisch gerichtet erscheint, urteilt die „Ger mania", die Angeklagte auf jeden Fall, aber sie nickst allein, auch nicht allein in Verbindung mit dem Hauptmann v. Goeben, der die Laune des sittlich-verkommenen Weibes als Liebe ansah und in seinem Liebeswahn namenloses Elend und Sckstinde über seine eigene Familie und über das Haus Schönebeck herbeiführte. Das Leben und Treiben der Frau v. Schönebeck mußte wegen der nickst unbeträcht lichen Anzahl ihrer Liebhaber in Allenstein stadtbekannt sei». Wenn das wahr ist, so wirft die freikonservative „Post" mit Recht die Frage auf: „Hätte der Regimentskommandeur, dem doch all die beschämenden Vorgänge in seinem Regimente nicht ver borgen bleiben konnten, nicht längst eingreifen müssen? Hätte er nicht den ermordeten Gatten warnen und beraten müssen? Auch liegt die Frage nahe, warum leider in Offizierskreisen so manche unglückliche Ehe uns in den letzten Jahren schaudernd an Gcrickstsstätte enthüllt worden ist? Hängt all das Unheil, das sich dort zeigte, nickst zum Teile mit Bestimmungen zusammen, die vielleicht unent behrlich, aber dem Wesen reiner Liebe und reinen Ehe glückes reckst fern liegen?" Es ist ein Zeichen des sittlichen Niederganges, wenn die Gesellschaft so abgrundtief zerrüttet ist, wie der Prozeß dargetan hat. Es genügt aber diese Erkenntnis nicht. Nur die Rückkehr zur strengen Sitte und Ehrenhaftigkeit vermag Besserung zu bringen. Wenn man aber alle Verbrechen auf „Hysterie" usw. und auf eine Beschränkung der Willensfrei heit schiebt, wenn man die Sachverständigen-Gutachten über wuchern läßt, so wirkt ein solches Vorgehen verwüstend auf das sittliche Bewußtsein. Ter Richter muß sich als Richter in erster Linie fühlen. Ausgabe der obersten Justizbehörde muß es sein, zu verhindern, daß die deutsche Justiz Irrwege gehe, die zu französischen Zuständen führen müßten. ^V. Politische Rundschau. Dresden, den Juli 1910. - Tie „Hohenzollcrn" ging am 4. d. M. in Kiel mit dem Kaiser an Bord in See. Tie Flotte feuerte Salut, die Mannschaften paradierten. Tie „Hohenzollern" wird von dem kleinen Kreuzer „Stettin" und dem Depeschenboot „Sleipner" begleitet. — Zur Rcichsvcrsichernngsordnung. Die Reichstags konimission, die augenblicklich den Entwurf der Reichsver sicherungsordnung berät, hat hinsichtlich der Krankenver sicherungspflicht gegenüber dem Entwürfe eine Aenderung insofern vorgenommen, als ihr unterworfen sein sollen Handlungsgehilfen und -lehrlinge, sofern ihr jährliches Arbeitsverdienst 2500 Mark an Entgelt nicht übersteigt, während der Entwurf die Grenze auf 2000 Mark gesetzt hatte. Wenn ja auch anerkannt werden muß, daß dieser Beschluß der Kommission einen Fortschritt bedeutet, so geht er doch nicht weit genug, und kommt den Wünschen der Beteiligten, der Handlungsgehilfen, nicht ganz entgegen, Tausende von liberalen Bildungsphilistern auf ihr libera les Blatt, mag es auch den handgreiflichsten antikatholischen Kohl servieren. Und weiter: wer entscheidet dann über die „mittelmäßigen" und „freien" Geister, die der Kirche nicht bedürfen? Jeder selbst! Ei. das wird lustig werden in einem Zeitalter, wo jeder Laternenanzünder als Prome theus, als Wetterleuchtet sich betrachtet! Aber die Gebil deten dürfen sich doch zu den starken „kirchensreien" Geistern zählen? Wenn man nur nicht wüßte, wie „ungebildet" diese Gebildeten in religiösen Dingen wären! Wenn man nicht erlebt hätte, daß Spezialisten in einer Wissenschaft in Sachen der Religion wahrhaft bedauerlich urteilsunfähig sind! Und weiß man denn gar nicht, daß auch große „freie" Geister, die als leidenschaftliche Ankläger alles Kirchentnms sich gebürdeten, in wahrhaft ergreifenden Worten ihrer Kirchensehnsucht, ja Kircheiiheimweh, Ausdruck verliehen haben. Wohl keiner so ergreifend als Lagarde in seiner Klage: „Ich bin nachts am Meere durch die Dünen gewandelt; im Sande knirschte und fraß die harte, kurze, ebbende Flut: der Seewind seufzte im Ried, aus dem der Schrei des auf- gesckieiichten Seevogels emporfuhr, um sofort jäh in dem weiten Schweigen zu versinken: ich I-abe in gluthellcm Mittagslickste felsiges Hochgebirge durchstreift,, Ivo PanS (der Allnatur) Schlaf die Seele so ängstigte, daß unwillkür lich der Mund liebe Namen rief, um ihr das Gefühl des Verlassenheit zu nehmen: aber was ist solche Einsamkeit des Ozeans und der Alpen gegen die Einsamkeit, die jetzt mitten im Gewühls der Menge alles umfängt, welche Söhne alter versinkender Zeit . . ., mühseligen Trittes und schweigenden