Volltext Seite (XML)
Nr. Lütt — V. Jahrgui'g 4»<it1w»ch de» LS. November IVIE» olkszeitu ürsch^ae täglich nach«, mu NuSmchme der Sonn- »nd AesUage. >«äM»e 1-! MU .Die Zeit in Wort und Bild- dtcrteljLhrliiH L.»a ^ In Dresden durch Boten L.-io In ,LN» D«ttsch,ar>d trei Hau» « S» Un^ubc Ohne tllullrterte Betlage dtertel> l.8v 2«. I» den d. Boten »,1V In ganz Deutschland stet Hau» — Nnzel-Nr. lv 4 — LettungrprelSl. Nr. «8L8. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht nnd Freiheit Inserate werden die «gespaltene Pctitzeile oder deren Baum «U IL Reklame» mlt 8V 4 die geile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt Uuchdrnckeret, Redaktion und Geschäftsstelle, Dresden, Pillnttzer Strohe 4». — Fernsprecher 1LS« 8ür Rückgabe underlauat. Schriftstücke keine Verbindlichkeit Redaktion»-Sprechstunde: l 112 Uhr, Die Nutzanwendung bei kaiserreden. Dresden, den 23 November 1910. Der Streit um den Kaiser ist seit seiner Rede in Deuron von neuem entbrannt. Auf liberaler Seite hat sie heftigen Widerspruch, auf katholischer Seite oft viel zu übereifrige Zustimmung gefunden. Wir betonen das letztere mit einem Anflug von Tadel, weil man nicht nur Folge rungen für das christliche Moment, sondern auch für das katholische daran zu knüpfen suchte. Wenn wir uns auch über das christliche Geständnis des Kaisers freuen, so darf man nicht vergessen, daß man aus einer Kaiserrede noch keinen Staatsakt machen darf: es ist ein rein persönliches Bekenntnis. Wir wollen dem Kaiser gewiß nicht die Rede freiheit beschränken. Wir fordern nur, daß er sich nicht in den Streit der Parteien mische, denn er muß über den Par teien stehen. Wir wollen keinen Zentrumskaiser, aber auch keinen nationalliberalen oder freisinnigen Monarchen. So lange die Reden Worte bleiben, ohne daß die Regierung in der gleichen Richtung geht, kann man die Zurückhaltung um so leichter üben. Man knüpft an Kaiserreden gewöhnlich Hoffnungen, daß sie Friedenstauben sind, welche eine Aenderung in der bisherigen Politik ankündigen. Leider hat man sich mit solchem Vorhersagen getäuscht. Noch immer waren ^ :s kaiserlichen Worte — persönliche Bekenntnisse und ke >e Staatsakte. Aus der Vergangenheit kann man dies auf die Zukunft schließen. Wie oft hat der Kaiser schon die Not wendigkeit des Einflusses der Religion auf das öffentliche Leben betont — und doch dürfen die Minister den entgegen gesetzten Weg wandeln. Der preußische Kultusminister nimmt ruhig die Massenbesetzung preußischer Ortsschul inspektoren vor: der Minister des Innern arbeitet einen Gesetzentwurf über die Zulassung der Feuerbestattung aus: im preußischen Gesamtministerium ist man gegen den Re ligionsunterricht in den Fortbildungsschulen. Diese Taten gegen den religiösen Einfluß wiegen schwerer als alle Kaiserreden, wobei wir das moralische Gewicht derselben ge wiß nicht verkleinern wollen. Man halte sich daher in den Erörterungen über solche Fragen nicht an die staatsrecht lich nicht verantwortliche Majestät, sondern an die Minister. Was nützt es denn am letzten Ende, wenn wir den Kaiser in seinen Reden auf unserer Seite und die Minister in ihren Taten gegen uns haben? Da kommt unsere Idee zu kurz. Also schon darum mehr Zurückhaltung! Man mag seine Freude an dieser Kundgebung haben, aber es ist politisch nicht klug, dieses mit Orgelklang und Glockenton in alle Welt zu rufen, wie es jetzt wieder in allzu reicher Weise geschehen ist. Die Folge ist, daß der Zentrumshaß daraus neue Nahrung schöpft. Es ist das Resultat über die Wir kungen der Beuroner Kaiserrede keineswegs erfreulich für uns. Nicht nur die liberale, sondern auch die konservative Presse nützte sie zur Vertiefung des konfessionellen Zwistes auS. Das Lob, das der Kaiser den Orden gespendet, wurde sofort paralisiert durch Beschimpfung des katholischen Ordenswesens. Und als die „Germania" die leise Hoff nung durchschauen ließ, daß endlich das ganze Jssuitengesetz aufgehoben werden möge, da hatte die hochkonservative „Kreuzzeitung" die ganz bestimmte Erklärung: „An eine Aufhebung des Jesuitengesetzes denkt die konservative Par tei nicht." — Also eine glatte Absage zu einem geäußerten Herzenswunsch der deutschen Katholiken — trotz der aner kennenden Worte des Kaisers zu den Orden. Gerade diese Stellung entfacht die Wut der liberalen Presse: so liest man: „Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Christentum in diesem Kampfe ein starker Bundesgenosse ist. Aber nicht jenes Christentum, das Klöster baut, Nonnen einkleidet und Bettelmönche durch das Land schickt: nicht das Christen tum, das sich den Formeln und dem Zwange von Beuron fügt, das in Springprozessionen nach Echternach zieht, das seine Gebresten im heiligen Wasser von Lourdes zu heilen versucht. Mit Klöstern und Klostergedanken werden keine die Menschheit bewegenden Ideen, wie sie doch auch im Sozialismus ruhen, erdrückt und keine geistigen und wirtschaftlichen Probleme gelöst." So falsch diese Darstellungen sind, sie finden doch die Zustimmung der Katholikenfeinde. Heute zeigt uns ein Blick in die «katholische Presse, daß nahezu jede Nummer voll ist von Gift und Haß gegen die Orden — auch eine Frucht der Rede zu Beuron nnd ihrer parteipolitischen Aus nutzung. Wir sagen gewiß nicht, daß dies zu recht geschehe, aber es ist zum Teil ein Echo der Lobsprüche von unserer Seite. Ganz perfide gehen freilich jene liberalen Blätter vor, die den Kaiser persönlich einschüchtern wollen und ihm sagen, daß die Verbindung von Thron und Altar dem Throne schade. Es sind liberale Blätter, die aus der Welt geschichte dartun wollen, daß der Thron gelitten habe, wenn er auf religiösem Fundamente beruhe. Selbstverständlich kommt man zu solchem Schlüsse nur durch grobe Ge schichtsfälschungen. Bei anderen Gelegenheiten rühmt sich dieselbe Presse, daß es nur der antireligiöse Geist ist, der Revolution schafft. Nehmen wir nur einen Haupt- rnfer im Streit, das „Berliner Tageblatt". Heute redet es von „Purpurmantel und Mönchskutte" und tadelt deren Verbindung: erst am 10. Oktober 1910 hatte es geschrieben: „Die brasilianische Revolution war antiklerikal, von den Freimaurerlogen organisiert und führte zur Trennung von Kirche und Staat. Die neue portugiesische Regierung weist genau die gleichen Züge auf und ist von antiklerikalen Freimaurern, Vorkämpfern der freien Volksschule und Jüngern Anglist Combes gemacht . . . Während in Deutschland das Freimaurertum friedlich und zahm sich in die Händel dieser Welt nicht mischt, ist es dort unten eine machtvolle Kampfgenossenschaft, und es hat in Paris und in Rio de Janeiro, in Madrid und Lissabon mitgewirkt und in Saloniki die Verfassung redigiert. In Portugal hat der Laienlehrer einstweilen den Mönch be siegt und noch eine mit Weihwasser besprengte Krone ist in den Staub gerollt. Abwartend zieht die im Süden und Westen bedrängte Orthodoxie sich weiter nach Norden zu rück. Bei all den jetzigen Revolutionen war die Armee das ausfiihrende Instrument, und auch die Revolutionen, die in Griechenland und anderswo noch drohen, werden nur durch die militärische Mitwirkung möglich sein." Eine Reihe ähnlicher Auslassungen liberaler Blätter steht uns zur Verfügung: aber das genügt. Da kommt die Löahrheit zum Ausdruck, und sie entlarvt das heuchlerische Spiel der Radikalen und Liberalen, die den Kaiser ein schüchtern wollen. Wenn wir die gesamten Presseauslassungen der letzten Woche überblicken, so kommen wir zu dem Schlußresultat, daß mehr Zurückhaltung in der Besprechung der Kund gebungen des Kaisers das beste ist: man dient dem Kaiser, der monarchischen Idee, dem Reiche und seinen Faktoren. Das Parteilebcn wird dann nicht verschärft durch Be rufungen auf den Kaiser oder Angriffe gegen denselben. Tenn gerade bei der impulsiven Art des Kaisers ist keine Partei davor gesichert, daß sich das Kaiserwort auch sehr be stimmt gegen sie richten kann. Das Zentrum wenigstens hat es schon wiederholt erlebt, und wir haben doch allesamt den 13. November 1906 noch nicht vergessen. Unsere Zeit lebt wohl sehr rasch, aber nur keine falsche Vertrauens seligkeit! Politische Rundschau. Drr? den. den 22 November 1'>>10 — Der Reichstag ist heute Dienstag nach halbjähriger Sommerpause zu einer neuen Tagung, voraussichtlich der letzten vor den Neuwahlen, zusammengetreten. Ein ge waltiges Arbeitsmaterial harrt seiner Erledigung. Neben dem Etat liegt folgendes vor: Versicherungsordnung, Straf- prozeßordnung, Arbeitskammergeseh Novelle zur Gewerbe ordnung und zum Strafgesetzbuche, Zuwachssteuergesetz. Milttärvorlage Schisfahrtsabgabengesetz, Fernsprechgebühren- ordnunz, Gesetz über den Kolonialgerichtshof. Ob das Gesetz über die Privatbeamtenversicherung schon eingebracht ist, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Von wichtigen Entwürfen steht noch die Verfassung Elsaß-Lothringens nnd ein Hilfskassengesctz als Ergänzung der ReichsverstcherungS- ordnung zu erwarten. Bei der Fülle des Stoffes wäre e» gar nicht möglich, ihn allein in den Sitzungen der Reichstages durchzunehmen, wenn nicht die Kommissionen den Sommer über die Hauptarbeit bereits bewältigt hätten. — Ein „Bombengeschäft" soll die Stadt Berlin mit dem Scheunenviertel gemacht haben. Nach einer Meldung des .B. T." ist nämlich das Unglücksviertel für 6'/, Mill. Mk. an eine Terraingesellschaft verkauft worden, nachdem der Magistrat mit dem Verkauf aus eigener Hand verunglückt war. Die Stadt Berlin hat für den Ankauf des Schcunen- viertelS 16^ Mill. Mk., für die Durchlegung und Pflaste rung der Kaiser - Wilhelm - Straße und ähnliche Zwecke weitere 3,2 Mill. Mk. und seit einigen Jahren täglich 1000 Mk. Zinsen bezahlt, in Sumnia über 20 Mill. Mk. Dafür erhält sie jetzt 6^ Millionen Mark, hat also einen Ver lust von 14 Millionen Mark zu buchen. ES soll nicht verschwiegen werden, daß die Stadt Berlin mit dem Abriß des ScheunenvieitelS eine sogen. Kulturtat vollführt hat. die mit ein paar Millionen Mark wohl bewertet werden kann; allein 14 Mill. Mk. sind zu viel. Die Berliner Steuer zahler werden erschreckt aufsehen; sie haben aber zum Aus gleich die freudige Genugtuung, daß wenigstens das Tempel- Hofer Feld der Berliner Verwaltung entgangen ist. Bei j diesem Objekt wären nach dem Beispiel des Scheunen- ^ Viertels wahrscheinlich solche Verlustzahlen aufmarschiert. > daß den Bürgern Hören und Sehen vergangen wäre. Leo Tolstoi. Von Anton Haidorfer, Leipzig. Als im Jahre 1853 Sebastopol von den verbündeten Engländern und Franzosen beim siebenten Sturm einge nommen worden war, legte ein junger, russischer Garde offizier seinen Degen in die Hände des Kaisers zurück. Dieser Offizier war der Graf Leo Tolstoi, der zwar während der ganzen Belagerung wie ein Löwe gekämpft hatte, aber von der Macht der auf ihn einwirkenden Bilder und Schlachtenszenen so eingenommen war, daß er beschloß, sofort nach Beendigung des Krieges den Degen mit der Feder zu vertauschen und diese in der Hauptsache als Kampf mittel gegen den Degen, der das Faustrecht repräsentiert, zu verwenden. Es müssen traurige Bilder gewesen sein, die aus dem hoffnungsfrohen, 27jährigen Grafen einen hoffnungslosen Einsiedler gemacht haben. Wahrscheinlich aber waren es nicht nur die Schlachtenbilder gewesen, die in ihm den Ent schluß, Len Freuden des gesellschaftlichen Lebens zu ent sagen, zur Reife gebracht hatten. Leo Tolstoi hatte als junger, gefeierter Gardeleutnant in der Hauptstadt ge nügend Gelegenheit gehabt, die gesellschaftliche Lüge, Ver worfenheit und Fäulnis jener Kreise kennen zu lernen, die sich selbst für die Elite des russischen Volkes hielten. Es er faßte ihn ein wahrer Ekel vor dieser „Elite", die faul war bis in die Knochen und die keine andere Gesetze kannte als diejenigen des eigenen Interesses. Das feindselige Gefühl gegen die russische Gesellschaft wurde in Leo Tolstoi dadurch verstärkt, daß er auch die Schattenseiten der russischen Cliquenherrschaft, Polizeiwill kür und Sittenlosigkeit kennen lernte. Tolstoi weiß nicht nur Bescheid auf dem spiegelglatten Parkett deS Fürsten Orchidow, sondern auch in dem Staatsgefängnis, das dem Opfer des fürstlichen Wollüstlings Nechedow als Aufenthalt dient. Er kennt die Kaschemmen der russischen Hauptstadt ebenso gut wie das Rendez-vous der „Groß-Verbrecher in Uniform und Beamtenmütze". Kurz, er kennt das russische Leben in seinen Höhen und Tiefen nnd versteht es meister- Haft zu zeichnen. Tolstoi ist viel zu sehr Philosoph, um einem sensations lüsternen Lesepublikum Interesse zu bieten. Seine Ro mane sind nicht spannend und nicht auf Nervenkitzel speku lierend. Aber seine Schreibweise ist angenehm, seine Schilderung lebendig, frei von allem theatralischen Bei werk, packend in seiner überwältigenden Ursprünglichkeit und Offenheit. Sie ist rücksichtslos, wirkt aber nicht auf dringlich, sondern erfrischend für denjenigen, der nicht selbst in der Fäulnis steckt und von Tolstois Schriften bloßgestellt wird. Tolstoi kämpft mit aller Entschiedenheit, aber auch aller Ehrlichkeit für seine Ideale. Völlige Armut, Keusch heit und Bedürfnislosigkeit steht auf seinen Fahnen ge schrieben. Sein Kommunismus führt aber in letzter Konse quenz zum Nihilismus, und daher ist er exkommuniziert und auch von der Staatsregierung recht sorgsam beobachtet worden. Zweifellos schießt ja Tolstoi auch in seinen Forde- rungen weit über das Ziel hinaus, und als er gar währen des russisch-japanischen Krieges eine Philippika gegen die Regierung losließ mit dem Titel: „Ich kann nicht länger schweigen", wurde er selbst von vielen seiner Verehrer nicht mehr ganz ernst genommen. Das Erhabene und das Lächer liche liegt oft recht nahe beisammen und Tolstoi schien in letzter Zeit wirklich manchmal die Grenzen des Erhabenen verlassen zu haben. Die russische Regierung mochte den selben Eindruck gehabt haben, indem sie den greisen Dichter ruhig reden und Probleme besprechen ließ, die sonst kein russischer Staatsangehöriger ungestraft zur Debatte stellen durfte. Verschiedene Fluchtversuche, die Tolstoi während der letzten Jahre mit dem ihm sonst so widerwärtigen theatralischen Aufputz in Szene setzte und die sjets einen recht lächerlichen Ausgang nahmen, haben ihm viele Freunde geraubt und das Heer derjenigen vermehrt, die in ihm lediglich einen Reklamehelden, einen mit raffiniertem Ge schick arbeitenden Geschäftsmann sahen, der seine reiche Phantasie möglichst teuer loszuschlagen suchte. Gewiß, auch uns gefällt nicht alles an Tolstoi, am wenigsten seine ernsthaften oder scherzhaften Fluchtversuche, aber wenn wir ein Urteil fällen sollen, so interessieren wir uns zunächst weniger für seine Person als vielmehr für seine Werke, besonders für jene Werke, die Tolstoi in der Voll kraft seiner Jahre geschrieben hat. Es ist ja leider hier nicht genügend Raum, um auf einzelne Werke näher einzugehen, aber mit weniger Worten sei wenigstens eines Stückes gedacht, das unauslöschlich in unserer Seele bleiben wird. Wir meinen das Schauspiel „Anna Karenina", das kein Auge trocken läßt, so oft das selbe über die Bretter geht. Nicht eine mit Gewaltmitteln auf Effekt arbeitende Stimmungsmache, sondern die zwingende Logik der Ereignisse, die natürliche Folge der Verhältnisse, die das unglückliche, gequälte und verfolgte Weib der Sinne berauben, treiben dasselbe vor die Schienen, die der V-Zug in wenigen Minuten passiert. Und kein Herz bleibt ungerührt, wenn der Treulose mit seiner buhlerischen Dirne in diesem V-Zug über die blutenden Neste der Verratenen fährt. Solche Werke haben einen dauernden, moralischen Wert, indem sie einerseits die besten Vorsätze und edelsten Gefühle im Publikuni auslösen, anderseits das Niveau des Schauspiels um einige Grade bessern. Darüber ist denn auch kein Zweifel, daß Tolstoi für Rußland viel Gutes ge leistet hat und darum sollte man ihn nicht allzusehr ver dammen, wenn er mit seinen 82 Jahren manchmal auf bizarre Einfälle kam. Jedenfalls konnten die Zwischenfalle, die der alte, körperlich und geistig immer mehr zusammen knickende Mann freiwillig oder unfreiwillig schaffte, nichf allzu tragisch genommen werden und vor allem deg Werß