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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.05.1902
- Erscheinungsdatum
- 1902-05-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190205197
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19020519
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19020519
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-05
- Tag 1902-05-19
-
Monat
1902-05
-
Jahr
1902
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.05.1902
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung x> 60.—, mit Postbeförderung 70.—» Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormUtag» 10 Uhr. Morges-Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richte». Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet vou früh 8 bi« Abend» 7 Uhr. Druck und Verlag von L Polz in Leipzig. 96. Jahrgang. Johann Sebastian Lach und die Tonkunst des 19. Jahrhunderts. ii. Die Wiederbelebung Vach'scher Kunst und Kunstformen hat aber noch zwei weitere wichtige Wirkungen gehabt, auf die wir schließlich noch unser Augenmerk richten müssen: Erstlich hat die Bachausgabe eine bedeutsame Wendung im Berhältniß der neuen Zeit zur alten Tonkunst über haupt herbcigeführt. „Soweit die musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister durch Neuausgabcn wieder zu erwecken, die dem Muster der BachauSgabe genau oder freier folge»." Diese hat den eigentlichen Hauptanstoß gegeben zum Uebergreifen der archäologischen Studien auf das Gebiet der Musik wissenschaft, zu -er internationalen, musika lischen R e n a is s a n c e p ert o d e, die sich bemüht, die Tonschöpfungen der Meister der Vergangenheit als den wahrhaftigsten Ausdruck der Cultur ihrer Zeit auch der Gegenwart wieder mahnend vor die Seele zu führen. Nach Friedrich Chrysander's Vorgehen äußerlich und innerlich sicher gestellt und auf dem Grundsatz der Arbcitstheilung nach nationalem Princip ausgebaut, sehen wir in deutschen Sammelwerken, in den „D enk - mälern deutscher Tonkunst", diesem großartigen Seitenstück zu den „Ilonnmsnka Oermaniao instorioa", in den Gesammtausgaben der Werke von Händel, Pa le strina und Orlandus Lassus, Heinrich Schütz und neuerer in- und ausländischer Tonmeister, die Deutschen im friedlichen, von der Liebe zu Heimath, Volks stamm und Vaterland beseelten Wetteifer mit den Oester reichern, Italienern, Engländern, Franzosen, Nieder ländern, Spaniern, Portugiesen, Schweden, Dünen und Russen. Wahrlich, ein stattliches musikalisches Museum ist hier errichtet, das sich neben jeder Gemäldegalerie, neben jeder Seulpturensammlung mit Ehren sehen lassen kann: Ausgaben, die in hohem Maße geeignet sind, den kunst- und kulturgeschichtlichen Horizont des modernen Musikers zu erweitern und auch seine sociale Stellung zu den Ver tretern anderer Künste und Wissenschaften in Gegenwart und Zukunft zn erhöhen. Mit der bloßen kritischen Ausgabe der Partituren der alten Meister ist indeß die Aufgabe der Wissenschaft erst halb gethan. Sollen diese Werke, insbesondere die Se bastian Bach's, ihre wahrhafte, klingende Auf erstehung erleben, sollen sie Gemeingut der musika lischen Welt in Schule und Haus, in Kirche und Concert- saal werden, so muß zweitens mit der geschichtlichen Be lebung auch eine unmittelbar praktische Brauchbarkeit ver bunden sein. Zur Erreichung dieser Absicht ist im Anschluß an die große Partituransgabe eine „Gcsammtaus- gabe der Werke Bach's für den praktischen Gebrauch" mit vollstündigem Clavierauszug durch die Verlagsfirma veranstaltet worden und, was noch wichtiger erscheint, am Tage der Vorlegung des letzten Bandes der großen Bachausgabe, auf Antrag des hochverdienten Direc- torialmitgltedes der alten Bachgesellschaft, Herrn Professor vr. Hermann Kretz schm ar, eine neue Bach gesellschaft ins Leben gerufen worden, die für Bach ähnliche Dienste leisten soll, wie die Versammlungen und Veröffentlichungen der Shakespeare- und der Goethe-Ge st llschast. Sie will „den Werken des großen deutschen Ton meisters Bach eine-belebende Macht im deutschen Volke und in den ernster, deutscher Musik zugängigen Ländern schaffen." Sie sucht ihrem Zweck vor Allem durch Veran staltung von regelmäßig wandernden Bachfesten, wie dem ersten, im vorigen Jahre in Berlin gefeierten, zu ent sprechen. Auf ihnen sollen solche Werke des Meisters, deren eigenthümliche Schönheiten weiteren Kreisen bisher un bekannt geblieben sind, wie die weltliche Gelegenheits musik, die Fülle der Kammermusikwerke und die mit der g-nzen Bach'schen Innigkeit durchtränkten geistlichen Solo cantaten und Orgelchoralvariationen ans Licht gezogen werden, während die Veröffentlichungen der neuen Gesellschaft in erster Linie die Hausmusik für den Meister gewinnen wollen (geistliche Lieder und Arien). In zweiter Linie soll aber durch ihre Bestrebungen die Bachkritik und B a ch w i s s e n s ch a f t vertieft und ge hoben werden. Mit der Ausgabe der Meisterwerke Bach's muß eine Pflicht der kritischen Erläuterung des Notentcxtes, überhaupt eine wissenschaft lich c B e h e r r s ch u n g d e r B a ch ' s ch e n K u n st Hand in Hand gehen,' „diese aber setzt eine vertraute Bekannt schaft mit seiner ganzen Zeit und Umgebung voraus, über die auch die Gegenwart noch ungenügend verfügt." Außer der Hebung des S ch u l q e s a n g s u n t e rr i ch t e s muß daher die musikalische Erziehung in den Eonservatorien durch Einführung voll ständiger Specialcurse für alte Musik historisch-ästhetisch vertieft, überhaupt das Niveau der al l- gemeinen Bildung des heutigen Fachmusikers (Künstlers, Dirigenten, Lehrers, Kritikers) und des Dilettanten erhöht werden: „Dem höchsten Gott allein zu Ehren, Dem Nächsten draus sich zu belehren", so hatte Bach auf das Titelblatt des Orgelbüchleins für seinen Sohn Friedemann geschrieben. Leider wird in un seren Lehrplänen der pädagogische Werth der Kunst noch sehr unterschätzt. Ein durchaus unbegründetes Mißtrauen der praktischen Musiker gegen die Musikforscher, die doch, wie das Beispiel Chrysander's beweist, zugleich selbst auch hervorragende Praktiker sind, waltet noch vielfach vor. Gerade in diesen Kreisen herrscht noch eine Unbekanntschaft mit den Stilgesetzen für den Vortrag der ge summt e n K n n st d e s 17. u n d 18. I a h r h n n d e r t s, mit den Lehrbüchern der Theoretiker, an denen sich das Stilgefühl hierfür heranbilden muß. Soll hierin die musi kalische Bildung hinter den Anforderungen der Gegenwart, die sich um die Hebung dieses Stilgefühls in der bildenden Kunst und im Kunstgewerbe so eifrig bemüht, noch länger Zurückbleiben? Gewiß nicht, und wir sollten künftig, über Grundfragen der alten Praxis, wie z. B. die Begleitung, das Accompagnement, die Aussetzung des Generalbasses, die Ergänzung des ein- und zweistimmigen Satzes der Bach'schen Zeit, über die dynamische, genaue Ausarbeitung des Vortrages, über das Echo, über die Gesangsmanieren, über die freie Verzierung und Variirung der alten Ge sangs- und Jnstrumentalmelodien, über die stilgerechte Be setzung des Orchesters u. s. w. bei Herausgabe von Clavier- und Orchcsterwerken und beim Studium der Partituren besser Bescheid wissen, und uns mit den Quellen für ihre Erkcnntniß vertraut machen. Dann würden auch die Klagen über die angebliche Armuth und Eintönigkeit, das „zweibeinige Geklapper" der alten Klaviermusik, über die sogenannte Langweiligkeit der Bach-Hündel'schen Arien aufhören, man würde nicht mehr auf Bach, den ge lehrten musikalischen Rechenmeister und Fugenschmied, dessen Musik eigentlich nur „eine Folge von Sequenzen" sei, mit überlegenem Lächeln herabsehen,' wir würden immer klarer den gottbegnadeten Tondichter erkennen, von dessen Fugen, wie schon sein Schüler Kirnberger sagte, keine der anderen gleicht, dessen Tonsprache den Aus druck des, zumal der großen deutschen Musik eigenthüm- lichen, Erhabenen redet, dessen Geist die zeitgenössische Form der Gebundenheit wunderbar durchdringt, der im Ausdruck herber Größe, des Zart- und Tiefleidenschaftlichen unerschöpflich ist und dessen Seelenkunst innerste Erleb nisse, das tiefste, wahrhaftigste Schauen ihres Schöpfers kündet. In ästhetischer Hinsicht an Schopenhauer, Wagner (Beethovenschrift) und Friedrich von Hausegger gereift, würden wir, losgelöst von dem öden Formalismus eines Hanslick, zu einer metaphysisch psychologisch vertieften Erfassung der erhabenen Kunst des Meisters vordringen, während wir uns meist bisher nur mit der Bewältigung ihrer technischen Schwierigkeiten zu frieden gaben; wir würden in Jnstrumentalwerken, wie dem gewaltigen v moli-Clavierconcert, das man mit Reckst eine neunte Symphonie im Kleinen genannt hat, das Wesen der Musik, als eine „Offenbarung des innersten Traumbildes vom Wesen der Welt selbst", als „das unaus sprechlich tönende Geheimniß des Daseins" ahnungsvoll empfinden! Aber auch ein guter Engel, ein Mittel des Trostes, der Erbauung, der Erhebung würde uns die Musik des herrlichen, tiefsinnigen und tiesinnigen Meisters immer mehr werden können. Neben der ethisch-pädagogischen Würdigung von Bach's Kun st als Volks erz i e h u n g s e l e m c n t soll er auch als der größte M ei st erdcrchri st lich-Protest anttschenTon- kunst, als der große Geistesverwandte M. Luther's, künftig in noch viel umfassenderer Weise zur Hebung des liturgische nGei st es unserer Kirchen musik und dadurch zur Stärkung des christlich-religiösen Empfindens beitragen. Oder sollte in unserem natur wissenschaftlich-atheistischen Zeitalter, in dem das Chrisleu- thum und die Musik als ein lleberrest einer angeblich über wundenen Weltanschauung nur noch geduldet wird, die heilige Tonkunst des „Cantors der Cantoren" und aller der herrlichen, alten Sänger dazu nicht mehr fähig sein? Wir müssen unseren ganzen glaubensfreudigen Idealismus zusammenraffen, um hierin nicht zu verzagen. Leben wir doch in einem Zeitalter des craffen Nützlichkeitsdogmas, pietätloser Nichtachtung des altehrwürdig Ueberkommenen. Reißt man doch unsere Thomasschule, das sichtbare Wahrzeichen einer mehr als 300jährigen, edlen Kunstpflege, in dem der große Sebastian Bach 27 Jahre gelebt, gelehrt und Meisterwerke ohne Zahl geschaffen hat, verständnißlos nieder! Wäre dies etwa möglich gewesen, wenn ein Goethesie bewohnt hätte? Aber war etwa der Schöpfer der Matthänspassion ein Geringerer, als der des „Faust". Goethe, der doch von Bach gesagt hat, es sei ihm beim An hören seiner Musik, als ob die ewige Harmonie sich mit sich selber unterhielte?! Doch wollen wir nicht alles Vertrauen zum guten Geiste unseres Volksthums verlieren: „wollen wir hoffen!" Der nrgesunde deutsche Genius der Nach sehen Kunst, der A n t i m e l a n ch o l i c n s, wie Sebastian auf das Titelblatt des seiner geliebten Gattin Anna Magdalena gewidmeten Clavierbüchleins schrieb, er soll uns trösten und seine bannende und beseligende Macht ausüben gegen alle Dämonen unserer Zeit. Er wird auch immer mehr die von der Wissenschaft neubelebten kirchlichen Tonwerke, voran die 300 Cantaten, im Rahmen der gottesdienstlichen Ordnung als tönende Offenbarungen des göttlichen Wortes zu neuem, wahrem Leben erwecken. Diese Aufgabe lösen zu helfen, ist das heiligste Vermächtniß, dessen Erbschaft das 20. Jahr hundert von dem vergangenen überkommen hat. Bereits ist durch des greisen Freiherrn von Lilie ncron's „Chorordnnng", die eine ncne Blüthe der evangelischen Kirchenmusik anstrebt, ein hosfnungerweckender Anfang ge macht worden. Möge die Musikwissenschaft im Bunde mit der Theologie an der Pflege dieses edelsten Erbes der Nücki schen Kunst, das ihren Ewigkeitswerth am höchsten offen bart, mitzuarbeiten allezeit sich erfolgreich bemühen! Diese bemerkenswerthen und bedeutsamen Aus führungen des Herrn Vortragenden wurden vom Audi torium mit lebhaften Beifallsäußcrungen entgegen ge nommen. Feuilleton. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Novelette aus dem Französischen von Mary We inberg. Herbelot und ich hatten zusammen studirt und waren sehr intim gewesen, aber nachdem wir Beide die Reife prüfung glücklich überstanden, verloren wir einander aus den Augen und jetzt, nach 25 Jahren, trafen wir uns zum ersten Mal wieder bei einem Univcrsitätsbanket. Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Er war früher ein stiller, ver schlossener Geselle, dünn und schlank, immer geschniegelt und gebügelt, dazu geboren, sein Glück in dem Bureau zu machen, wohin ihn seine Familie placirt hatte. Aber vor mir stand ein stämmiger, männlich aussehender Lebemann mit gebräuntem Gesicht und Hals, lebhaften Augen, lauter und bestimmter Stimme, die an Befehle gewöhnt schien. Mit dem kurz geschnittenen Haar, dem Anzug von eng lischem Tuch, dem graumelirtcn Bart und den ungezwunge nen, freien Manieren hatte er keine Spur von einem Be amten an sich. „Was ist aus Dir geworden?" rief ich aus, „bist Du nicht mehr im Bureau?" „Nein, alter Junge", antwortete er, „ich bin ein schlich ter, einfacher Bauer geworden, mein kleines Gut liegt etwa eine halbe Meile von hier entfernt, da baue ich meinen Weizen und ziehe eine gewisse Sorte Wein, den Du schmecken sollst, wenn Du mich besuchen kommst." „Aber so erzähle doch, wie ist denn das zugegangcn?" „Lieber Junge", lachte er nun heraus, „Du weißt, daß kleine Ursachen oft große Wirkungen hervorbringcn, in meinem Falle thaten es zwei Pfirsiche." „Zwei Pfirsiche?" „Nicht mehr, noch weniger. Aber da eS Dich zn inter- essiren scheint, so schlage ich Dir vor, wir trinken erst un seren Kaffee hier, dann begleitest Du mich nach Chante- raine, meinem Landgut, und auf dem Wege dahin erzähle ich Dir die ganze Geschichte." Ich willigte gern ein, und als wir an dem sonnigen Augusttag den Canal entlang schlenderten, erzählte er mir, wie folgt: „Du weißt ja", fing er an, „daß vom Urgroß vater her meine ganze Familie Beamte gewesen sind, natürlich konnte sich also mein Vater keine bessere Carric-re für mich denken; kaum hatte ich also mit Mühe und Noth mein „baooslaui-oak" bestanden, so hatte er nichts Eiligeres zu thun, als mich in seinem eigenen Bureau unterzu bringen. Da ich keine ausgesprochene Vorliebe für irgend einen bestimmtenNeruf imLebcn hatte, so war ich damit zu frieden. Es ging mir auch ganz gut, ich war solide, ar beitete gern, und da mir von der Wiege an der größte Re spekt für Alles, was Beamter hieß, cingeimpft morden war, nnd ich dies meinen Vorgesetzten zeigte, so war ich bei ihnen beliebt und wurde bald befördert. Als ich 25 Jahre alt geworden, berief mich der Di rector in sein Prtvatcomptoir, wo ich auch blieb, und alle Kollegen beneideten mich um mein Loos nnd prophezeiten mir eine glänzende Zukunft. Sehr bald danach ver- hcirathcte ich mich, meine Wahl fiel auf ein junges, sehr hübsches Mädchen; das ebenso gut als liebenswürdig, aber ohne Vermögen war, ein großes Unrecht in den Augen meiner ganzen Umgebung. Meine Frau und ich aber ließen die Leute reden und lebten schlicht und recht für uns allein, schränkten uns sehr ein und hatten gerade genug zum Leben. Uebrigenö geruhte die Gesellschaft unserer kleinen Stadt uns gnädig zu empfangen, Dank der großen Gewandtheit und Liebenswürdigkeit meiner jungen Frau. Mein Director war sehr reich und liebte es, em großes Haus zu machen, weil er sich einbildete, eine glänzende Rolle dabei zu spielen. Er gab sehr oft Gesellschaften, zu denen auch die Familien seiner Beamten eingeladen wur den. Ungefähr ein Jahr nach meiner Verheirathung ver anstaltete er wieder ein größeres Tanzvergnügen, wozu ich wohl oder übel allein hingehen mutzte, da meine liebe Frau krank war. Viel lieber wäre ich bei ihr zu Hause geblieben, aber eine Absage hätte der Director für eine Beleidigung gehalten, und Keiner seiner Untergebenen hätte es gewagt, abzulehnen. „ES wird gewiß sehr schön sein", meinte meine Frau, „halte nun hübsch die Augen offen, so daß Du mir auch Alles erzählen kannst, wer du war, die Toiletten der Damen und das ganze Menu des Abendessens. Sie sollen das Souper bet Chcvet in Paris bestellt haben nnd es werden alle erdenklichen Delikatessen da sein. Pfirsiche z. B. zu drei Francs das Stück! Wie schade, daß ich das Alles entbehren muß! Höre, wenn Du wirklich nett wärest, würdest Du mir einen mitbringen." Natürlich schrie ich lant auf bei dem Vorschlag, und stellte ihr vor, daß es wahrhaftig nicht anginge, wenn ich ein solches großes Ding von der Tafel weg mir in d e Tasche stecken wollte, man würde es bemerken und ich würde schön beredet werden. Es half Alles nichts; je mehr Einwendnngen ich machte, desto mehr war sie darauf versessen. „Versprich mir, einen mitzubringcn, ich bitte Dich sehr!" Was sollte ich thun? Ich murmelte ein paar unver ständliche Worte und beeilte mich wcgzukommen. Gerade wollte ich die Hausthür hinter mir schließen, da hörte ich, wie sie mich zurückrief. Ich blickte mich um und sah ihre großen blauen Augen mit unwiderstehlichem Verlangen auf mich geheftet. „Vergiß nicht, Du hast es mir ver sprochen!" Der Ball war wunderschön, Blumen überall, duftige Toiletten, vortreffliche Mnsik, dazu die feinste Gesellschaft. Gegen Mitternacht wurde eine Polonaise in den Speise saal hincingctanzt; ich schlüpfte mit hinein, und das Erste, was ich sah, waren Chcvet'S famose Pfirsiche gerade in der Mitte der Tafel. Sie waren wirklich herrlich. — Zu einer Pyramide anfgehäuft, lagen sic in einem wnndcrbaren Porzellankorb, jeder Pfirsich für sich allein, zierlich von Wetnblättcrn umhüllt. Mit großem Geschick waren sie so geordnet, daß die rosigen Flecke des einen immer mit der grünlich weihen, sammctartigcn Haut des anderen koket- tirte. Je länger ich sie betrachtete, desto fester wurde mein Entschluß, einen oder vielleicht zwei davon mitzunehmen. Aber wie? Die Diener hielten augenscheinlich gute Wache über die kostbaren ErstlingSfrüchte. Mein Director hatte sich daS Vergnügen Vorbehalten, seine Pfirsiche selber einigen bevorzugten Gästen anzubicten. Bon Zeit zu Zeit sah ich ihn dem Haushofmeister znwinken, worauf dieser einen Pfirsich auswählte, ihn mit einem silbernen Messer öffnete, und die beiden Hälften zierlich auf einem Sövres- teller der bezeichneten Person anbot. Als die Tanzmusik von Neuem erscholl und die Tänzer in den Ballsaal rief, sah ich noch sechs schöne Pfirsiche auf ihren grünen Blättern liegen. Ich folgte den Anderen in -en Saal, aber nur zum Schein. Absichtlich hatte ich meinen Cylinder, der mich schon den ganzen Abend genir: hatte, in einer Ecke stehen lassen. Sehr bald ging ich zu rück, um ihn mir zu holen, und die Bedienten, die mich kannten, da ich gewissermaßen zum Hause gehörte, ließen mich ruhig hineingehen. lleberdies waren sie beschäftigt, die Gläser und das Geschirr abzuräumen, und für den Augenblick war das Zimmer ganz leer. Nicht eine Minute war zu verlieren, ich blickte mich nach rechts und links um, näherte mich dem Korbe, streckte den Arm aus und ließ ge schickt zwei Pfirsiche in meinen Hut rollen, in den ich dann mein Taschentuch stopfte. Mein Herz klopfte fast hörbar, aber äußerlich sehr ruhig, verließ ich mit großer Würde den Speisesaal. Den Hut hielt ich mit der Oeffnung gegen die Brust ge drückt, während ich ihn mit der rechten Hand, die ich in die Weste gesteckt, festhielt, was mir eine höchst majestätische, fast napoleonische Haltung gab. Mein Plan war, mich leise durch den Ballsaal zu stehlen und dann, ohne Abschied zu nehmen, mich so rasch wie möglich aus dem Staube zu mache» nnd meine kostbare Beute im Triumph nach Hause zu tragen. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht, oder vielmehr ohne des Wirthes Töchterlein. Der Cotillon hatte gerade begonnen. Rings um den großen Saal stand eine doppelte Reihe von Stühlen mit Herren und Damen reiferen Alters, die eine zweite Reihe umschlossen, welche von den Tänzern gebildet war; in -er Mitte war ein freier Raum zum Tanzen gelassen. Und diesen inneren Raum mußte ich durchschreiten, um die Thür zum Vorzimmer zu erreichen. Ich schob mich leise zwischen die Lücken hindurch; mit der Gelenkigkeit einer Schlange wand ich mich durch die Reihen an den Stühlen entlang, immer mit der tödtlichen Angst, daß irgend ein ungeschickt walzendes Paar gegen mich antanzcn und mir den Hut ans der Hand schleudern könnte. Ich litt Höllenqualen, ab-r ich war doch allmählich glücklich bis zu dem inneren Kreise vorgcbrungen, wo gerade eine ncne Tour vorbereitet wurde. Eine Dame saß in der Mitte eines Kreises von Tänzern, die ihr den Rücken zudrehten und einmal um sie herumwalzen sollten. Sie mußte einen Hut in der Hand halten und ihn geschickt demjenigen der vorüberwalzenden Herren aufsetzcn, mit dem sic tanzcn wollte. Gerade hatte ich zwei Schritte vorwärts gemacht, als die Tochter des Hause», die den Cotillon mit einem jungen Rechtsanwalt leitete: auSricf: „Ein Hut, ein Hut, geschwind einen Hut!" In diesem Augenblick bemerkte sic mich mit meiner Angströhre auf der Brust, unsere Augen begegneten sich nnd mein Blut erstarrte. „Ah, Herr Herbclot", sagte sie, „Sie kommen wie gerufen, bitte, Ihren Hut!" Und bevor ich ein Wort hervorbringen konnte, hatte sie sich meines Cylinders bemächtigt, und zwar mit solcher Hast, daß Taschentuch, Pfirsiche und ein paar Wcinblättcr, Alles zu sammen, auf den Boden rollte. Male Dir die Scene ans. wenn Du kannst! Die Damen versuchten ihr Lachen zu er sticken, jedes Auge hing an meinem zerknirschten Gesicht, der Director runzelte die Stirn, die älteren Leute an den Wänden zischelten und zeigten mit dem Kinger nach mir Ich fühlte mich dem Umsinken nahe und hätte eine Welt darum gegeben, wenn die Erde sich aufgethan und mich ver schlungen hätte. Das junge Mädchen, welches das ganz-' Unheil hervorgebracht, biß sich auf die Lippen, um ein lautes Gelächter zu unterdrücken, dann sagte sie, indem sie mir meinen Hut zurückgab: „So heben Sie doch Ihre Pfirsiche auf, Herr Herbelot!" Das war das Zeichen zum Ausbruch, von allen Seiten ertönte ein tolles Lachen, selbst die Bedienten hielten sich die Seiten. Verstört, an allen Gliedern zitternd, entfloh ich, den Tod im Herzen, um daheim mein Mißgeschick meiner Fran zu erzählen. Am nächsten Tage war ich das Tagesgespräch. Sobald ich inS Bureau kam, bewillkommneten meine Kollegen mich mit einem: „Heben Sie doch Ihre Pfirsiche auf", so daß mir das Blut ins Gesicht stieg. Auf der Straße folgten mir die Gassenbuben und riefen: „Pfirsiche, Pfirsiche!" Kurz, ich konnte mich nicht länger dort halten. Nach einer Woche kam ich um meinen Abschied ein. Nicht weit von meinem Geburtsorte hatte ein Onkel meiner Frau eine Landwirthschaft, ich schrieb an ihn und bat ihn, mich als Hilfsarbeiter anzunehmen. Er willigte ein und wir zogen nach Chanteraine. Was soll ich Dir noch viel sagen? Ich machte mich daran, ein tüchtiger Land- wirth zu werden. Mit der Sonne zugleich stand ich au« und scheute keine Mühe. Mein neues Leben gefiel mir bald besser, als früher mein Actenkram, und es dauerte nicht lange, so wurde ich ein richtiger Bauer. Alles gedieh unter meinen Händen, nnd die Besitzung verbesserte sich so, daß mein alter Onkel sic uns bei seinem Tode hinterließ. Darauf kaufte ich noch ein Stück Land hinzu, und nun kannst Du selber sehen, wie Dir meine Besitzung gefällt.' Wir waren gerade in Chanteraine angclangt. Zuerst mutzten wir durch einen Obstgarten gehen, dessen Bäume so voll hingen, daß die Aeste sich unter der Last der Aepfel, Birnen und Pflaumen bogen. Am äußersten Ende der Be sitzung breitete sich ein Feld bis zu einem bläulich schim mernden Flusse aus, dessen jenseitiges User von einen« Weinberge begrenzt war, wo die Trauben zu reifen be gannen. Links hinter den Bäumen zeigte das Geräusch einer Dreschmaschine die Nähe der Scheunen an, nnd nach dem wir den wohlbestcllten Küchengarten durchschritten, sahen wir die weiße Vorderseite des Wohnhauses vor uns, das mit Spalieren -er schönsten, reifenden Pfirsiche bedeckt war. „Wie Du sichst, zolle ich den Pfirsichen große Ver ehrung, denn ihnen danke ich mein ganzes Glück. Ohne sie wäre ich mein Leben lang einer von jenen kleinen Beamten geblieben, die bet ihrem kärglichen Gehalte weder leben noch sterben können, und die nicht wissen, wie sic ihre Kinder erziehen sollen. Heute bin ich» Gott sei gedankt, mein eigener Herr, und ich habe gcnng, um das Häuflein Kinder, mit dem er mich gesegnet, satt zu machen." Wie eine Antwort hierauf ertönte ein freudiges Schwatzen und Lachen von Kinderstimmen aus dem Innern des HanseS, und am Fenster, auS dem Rahmen deS Pfirsich. spalierS unS freundlich entgegcnlächelnd, wurde plötzlich Frau Herbelot selber sichtbar, blühend nnd noch schön, trotz der kommenden Vierzig.
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