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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.11.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-21
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021121018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902112101
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902112101
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-11
- Tag 1902-11-21
-
Monat
1902-11
-
Jahr
1902
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Vezug»-Preis W d« HaupRx-edittou «d« de» t» Stadt- bezirk «d d« Vorort« «rrtchtrt«» »u», gÄeftekl« abglholt: vtirtrljährlrch 4.50, — iwotmaltz« täglicher Zustellong io» Haut 5.5L Durch di, Post bezog« str Deutschland «. Oesterreich vierteljährlich s, für di« üdrtg« Länder laut ZettungSpreiäUste. Le-aktio« oud ErveLitio«: Jodauutägaffe 8. Ferusprech« ILö und 8LL stlltred HRhrr, Bruhhruedlg„ üuiuersttsttasta^ai» S» Ldfchch Sachartuoftr. Ich >» EduigDstl»!^ Httpt-FiUale Vrudmr Gtrehl«« Straß« ch »er»fpr«cher «mt l Sir. 171», Haupt-Filiale Serlinr Käutggritze, Straße 11s. tzerusprecher Amt VI Nr. 53VS, Morgen-Ausgave. MpMerTaIMalt Anzeiger. ÄmLsölattdes Kärgliche« Land- und des Königliche« Ämtsgenchles Leipzig, des Rates und des Nolizei-Äintes -er Ltadt Leipzig. Arrzeigere-PrelS die 6 gespaltene Petitzelle SS Neklam«» unter demNrdatttouSstrich (L gespalln!) 75 vor d« FmaUiMuach- richt« (S gespalt«) 5V H. 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Seine durchschnittliche HeereSstärke betrug im letzten Jahrzehnt (bis inklusive 1901) nur 350 657 Mann, sein Heeresbudget in jenem Zeitraum 282,4 bt» 382,4 Millionen Mark, wäh rend die HeereSstärke RußlandSsich auf durchschnittlich etwa 000000 Mann bezifferte, sein Heeresbudget zwischen 479,2 und 699,6 Millionen schwankte, und die HeereSstärke 8 rankreichs sich auf 618 828 Köpfe, sein Heeresbudget sich von 498 Millionen auf 554,8 Millionen, und dasjenige Deutschlands von 541,6 Millionen auf 662 Millionen und seine HeereSstärke von 492 246 Mann auf 604168 Mann erhöhte. Bei einer Bevölkerung von 45 Millionen gegenüber 116 Millionen Rußlands, exklusive Asien, 89 Millionen Frankreichs und 56 Millionen Deutschlands blieb daher Oesterreich-Ungarn, selbst unter Berücksichti gung seiner erheblich geringeren Gesamteinnahmen, in seinen Leistungen für die Wehrmacht sehr zurück, so daß die Regierung Kaiser Franz Josefs schon um den Auf gaben, die der Dreibund an Oesterreich-Ungarn stellt, ge recht zu werden und die durch die Vermehrung der Kriegs marine nötiggowordene Ergänzung der artilleristischen Be dienungsmannschaften eintreten zu lassen, sich genötigt sah, mit der Forderung der Einstellung von 20 000 Mann Er satzreserve für drei Jahre an beide Parlamente heran zutreten. Allein diese Forderung wurde bekanntlich vom unga rischen Parlament abgelchnt und ist nunmehr durch eine neue Vorlage ersetzt, iu der sür 1903 ein Rekruten kontingent von 125 000 Mann sür Heer und Marine — anstatt bisher 103 106 Mann — und von 14 500 Manu für die Landwehr verlangt und zur sofortigen Ergän zung der bereits bewilligten Stände des Heeres und der Marine (Haubitz- und Gebirgöbatterien usw.) von den be reits am 1. Oktober zu einer achtwöchigen Hebung cln- gezogenen Ersatzrescrvcn 6000 Mann beansprucht werden, von denen jedoch alljährlich ein Drittel nach Jahresablauf beurlaubt werden soll. Die Regierung gab somit den für Ungarn so anstößigen Plan, auf einem Umwege die ihr als unerläßlich geltende Heereöverstärkung zu erreichen, ans und trat den Parla menten mit der Forderung einer erhöhten Verstärkung des RokrutenkontingcntS, wenn auch zunächst nur auf ein Jahr, entgegen. Da es sich aber bei der vorliegenden Heeresverstärkungsfordcrung um ein unabweisbares permanentes Bedürfnis und nm einen namentlich dem Widerstande Ungarns gegenüber auszufcchtcnden Kampf handelt, so kann das abermals angcbahnte Provi sorium als kein geschickter taktischer Sachzug gelten, son dern nur den Keim zu neuen Kämpfen in sich tragen. Allerdings geht die Regierung dabei vou der Ansicht aus, die geforderte Rckrnteuverstärkung wohl auf e i n Jahr, jedoch nicht auf zehn Jahre der gesetzlichen Kontingen tierung zu erhalten. Die Notwendigkeit der geforderten HeereSverstärkung läßt sich im vorliegenden Falle mit den schlagendsten Gründen nachweisen, und auch die Rücksicht auf die militärische Leistungsfähigkeit Oesterreich-Ungarns im Dreibunde gebietet dieselbe, und zwar um so mehr, als sic das finanzielle und wirtschaftliche Leistungsver mögen des Kaiserstaats nicht übersteigt. Seit der Heeres- vrganisation von 1896 fand in Oesterreich-Ungarn nur eine Erhöhung des gemeinsamen Hccrcsrekrutenkontin- gents um 23 000 Mann statt, während diese Ziffer bet allen anderen Militärmächten, Italien nicht aus genommen, weit stärker war. Der Friedensetat der österreichisch-ungarischen Bataillone beträgt heute 18 Offi ziere und 372 Mann, der der deutschen Bataillone durch schnittlich etwa 18 Offiziere und 550 Mann^ der der rus sischen durchschnittlich 18 Offiziere und 500 Mann, der der französischen 14 Offiziere und 506 Mann, und selbst der der italienischen 14 Offiziere und 445 Mann, so daß die kricgsgemüße Ausbildung der österreichisch-ungarischen Bataillone bei ihrem so geringe» Friedensetat in Frage gestellt ist. Allerdings erfuhren die Landwehren beider Rcichshälsteu inzwischen eine außerordentliche Verstär kung, so daß sie sich für beide auf etwa je 300 000 Mann beziffern, und diese Landwehren haben insofern einen kriegsbereiteren Charakter als in anderen Heeren, als sie jedes zweite Jahr in Dauer von bis zu 4 Wochen üben und teilweise auch zu -en Manöver» herangezogcn wer den, auch ein besonders auszubildcndcs Rekrutenkontiu- gent erhalten. Allein mit der lediglich aus wirtschaft lichen Rücksichten erfolgten unverhältnismäßigen Aus gestaltung seiner Landwehren n<«gt sich Oesterreich- Ungarn schon seit geraumer Zeit mehr und mehr zur Bahn -er Milizheere zu, und wen» seine parlamenta rischen Körperschaften sich einer die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht überspannenden Ausgestaltung des Heerwesens verschließen, so könnte cs leicht cintreten, daß der vom Minister Fejervarn ausgestellte Satz: „daß es die Pflicht der Regierung sei, alles aufzubictcn, damit die Wehrmacht des Landes jeder Eventualität erfolgreich stand halten könne", sich für Oesterreich-Ungarn nicht ver wirklichte und daß Deutschland noch mehr als bisher die Hauptlast der Rüstung des Dreibundes zu trage» hätte. Ter ungarische LandcSvcrtcidigungsministcr selbst hat im Wehrausschusse darauf hiugewiesen, daß die Zunahme des Nekrtttierungölontingents seit 1869 nur um 20 Prozent zunahm, während die Bevölkerung selbst um 50 Prozent auwuchs. Wir setzen hierbei als selbstverständlich vor aus, daß der Minister die männliche, wehrpflichtige Be völkerung im Auge gehabt hat. In demselben Zeiträume hätte Deutschland sein Kontingent um 200 Prozent, Frank reich und Rußland das ihrige nm je 100 Prozent erhöht. An der Hand -er betreffenden Daten stellte der Mi nister die henttgc militärische Inferiorität Oesterreich- Ungarns dar und betonte, daß selbst die seit 1869 erfolgte Erhöhung des Rekrntenkvnttngents um 20 Prozent keine wesentliche Stärkung -es Kombattanten-Elementö der österreichisch-ungarischen Armee hervorgerufen habe. In dieser Zeit seien viele Hecresanstalten entstanden, deren Bildung etwa 30 000 Mann beim Friedensstand des ge meinsamen Heeres, 2500 Mann bei der Honved-Armee in Anspruch genommen und eine Schwächung des Kom- battantenelcments Hervorgernfen habe, indem die Truppen aus diesem Grunde unter dem etats mäßigen Präsenz st ande blieben. Hier zu komme, daß infolge der neu zu formierenden H a u b i tz b a t t c r i e n usw. — einer Waffe, die heute bereits iu fast allen großen Heeren einen integrierenden Bestandteil der Feldartillerien bildet — 5241 Mann, für die Bemäntlung der neuen Kriegsschiffe 759 Mann und zur Ergänzung des Präsenzstandes der Truppen 12 900 Mann notwendig seien. Die Regierung fordere jedoch mit den 21900 Rekruten 3000 Mann über den Bedarf, um betreffs der Beurlaubungeu aus Fa milienrücksichten liberaler Vorgehen zu können. Der Widerstand, der sich gegen die erste, durch die heutige um fast 2000 Maun gesteigerte Forderung in Ungarn regte, wurde im Parlamente mit der Umgehung des bestehenden Wchrgcsetzcs hinsichtlich der Ersatzrescrve, sowie mit der wirtschaftlichen Belastung des Landes be gründet und wendet sich Henle namentlich aus dem ersteren tfortbcstchcnden) Grunde auch gegen die Forderung des Einbehalts der 6000 Ersatzreservisten. Er regte sich leb haft auch in der städtischen Vertretung von Pest uud ge langte in einer Adresse an das Abgeordnetenhaus unter Aukfordcrung aller Mnnizipien des Landes zum Anschluß, sowie in einer Agitation in akademischen Kreisen und sogar in der Anregung zu Ltraßendemonstrationen zum Ausdruck. Allein den eigentlichen Grund dieses Wider standes bilden die separatistischen Neigungen in Ungarn, wo mau seit der Abtrennung von Oesterreich die Ver stärkung des stehenden Heeres stets zu verhindern be strebt war, während alle Verstärkungen der Honved- Armee bewilligt wurden. Ter Wchrausschuß des unga rischen Abgeordnetenhauses hat nun zwar die Bestim mungen über die Erhöhung des Nckrutcukontiugcnts an genommen, aber die Opposition ist immer noch am Werke und verlangt, daß kein Mann bewilligt werde, bevor die zweijährige Dienstzeit und womöglich auch die ungarische Sprache als Armeefprachc eingcführt ist. Anch im öster reichischen Parlament scheint man der neuen Vorlage nicht günstig zu sein und zuvor die Herbeiführung des Aus gleichs und des autonomen.Tarifs anzustrcbcn. Man darf sich daher auf weitere scharfe Kümpfe gefaßt machen. Deutsches Reich. --- Berlin, 20. November. (Die national liberalen .Einbrecher".) Die „Freisinnige Zeitung" macht den Nationalliberalen den Vorwurf, e» für die nächsten Wahlen auf einen „Einbruch" in freisinnige Wahlkreise ab gesehen zu haben. Ais Beispiel führt das Nichlersche Organ Schleswig und Schaumburg-Lippe, wo angeblich eine national liberale Kandidatur beabsichtigt ist, an. Die „Freisinuige Zeitung" knüpft an den Borwurf zugleich eine Drohung. Eae schreibt nämlich: „Dieses Vorgehen, wenn e» fortgesetzt werden sollte, kann den Nationalliberalr» mehrere ihrer bisherigen Mandate kosten. Die Wahlkreise, in denen die- rutrifst, sind nicht allzu weit entfernt und in der amtlichen Wahlstatistik nicht schwer auSfindw zu machen. Es haben in mehreren Kreisen gerade vr« Westen» Frei sinnige nn ersten Wahlgange für Nalionalliberale gestimmt, die ohnedem nicht gewählt, teilweise nicht einmal in die Stichwahl gekommen sein würden." Weder in Schleswig noch in Schaumburg-Lippe kann von einem nationalliberalen Einbrüche die Rede sein. Was den ersteren Wahlkreis an langt, so ist bereits vor kurzem eingehend darauf dinge- wiesen worden, daß in diesem Wahlkreise von jeher die Mittel parteien einen sehr starken Anhang gehabt haben, sodaß eine nationalliberale Kandidatur durchaus berechtigt ist, um die mittelparteiliche Wählerschaft nicht vor die gleich fatale Alter native zu stellen, entweder sich der Wahl zu enthalten, oder für einen antisemitischen oder volksparteilichen Kandidaten zu stimmen. Der Wahlkreis Schaumburg-Lippe ist von 187 l bis 1881 unausgesetzt nationalliberal vertreten gewesen. Erst bei den Wahlen von 1881 trat die Fortschrittspartei auf den Plan und eroberte bei diesen ihr bekanntlich im ganzen Reiche sehr günstigen Wahlen den Wahlkreis. Durch den Mißerfolg ron 1881 ließen sich leider die Nationalliberalen so ein schüchtern, daß sie allerdings hinfort eigene Kandidaten nicht mehr aufstellen, sondern Konservative und Freisinnige den Kampf unter sich ausfechlen ließen. Wir meinen aber, daß, wenn eine Partei vier Legislaturperioden hindurch einen Wahlkreis in ihrem Besitze gehabt bat, ihr zweifellos ^as Recht zustehen muß, einen neuen Versuch in diesem Kreise zu machen. Und nun zu der Drohung der „Freisinnigen Zeitung". Gewiß könnte mancher nationalliberale Wahl kreis gefährdet werden, wenn die Freisinnigen sich zu den Gegnern schlagen. Aber einmal würden sich doch die Frei sinnigen damit selbst ins Gesicht schlagen, denn der Erfolg wäre doch nicht etwa, daß nunmehr ein Freisinniger gewählt würde, sondern daß ein Konservativer oder ein ZentrumSmann oder «in Sozialdemokrat an die Stelle des bisherigen national liberalen MandatöinhaberS träte. Ob eine Stärkung des Zentrums, das ohnehin schon allmächtig im Reichstage ist, oder der Agrarier oder der Sozialdemokratie, mit der Herr Richter unausgesetzt die heftigsten persönlichen Kämpfe auS- sechten muß, im Interesse des Freisinns und des Gesamt- liberaliSmuS liegt, darüber muß sich allerdings die freisinnige Volisparter selbst klar werden. Zum zweiten könntendieNalwnal- liberalrn ja doch in die Lage kommen, Repressalien zu üben. Da die Drohung in dem Nichterschen Organ enthalten ist, so lenken sich die Gedanken unwillkürlich auf den Wahlkreis des Herrn Richter. Dieser hatte bei den Wahlen vou 1887 vor der Sozialdemokratie einen Vorsprung von 9000 Stimmen, der sich 1890 auf 7000, bei den Wahlen von 1893 auf 2kü«>, und endlich bei den letzten allgemeinen Wahlen auf 1150 ver minderte. Angesichts dieses constanten Rückganges der Nichterschen Majorität gegenüber der Sozialdemokratre ist die Vermutung durchaus nicht ungerechtfertigt, daß bei den Allerhand fahrendes Volk. Nachdruck verboun. II. Eine andere Spezialität des mittelalterliche» Vaganten- tum» sind dieaufderWalzebcsindlichenstellenlosenKleriker. In Frankreich, England und Deutschland wandte sich die Jugend aller Stände dem Studium der Theologie «der Scholastik) zu. Viele Hunderte von lernbegierigen Schülern wanderten alljährlich nach Paris und Oxford und zu den übrigen Stätten der neuen scholastischen Ge lehrsamkeit. Kehrten dann aber die jungen Theologen voll Stolz auf den gewonnenen Wissensschatz und gehoben von froher Hoffnung ans eine an innerer Befriedigung und segeusvollcr Tätigkeit und andere» Ehren reiche Zu kunft in ihre Heimat zurück, so wurde« in der weit über wiegenden Mehrzahl der Fälle ihre hochgespannten Er wartungen aus das bitterste enttäuscht. Ten» mit dem Aufschwung des theologischen Studiums ging nicht nur leine Vermehrung an geistlichen Stellen Hand in Hand, die Zahl solcher Stellen nahm sogar von Jahr zu Jahr noch mehr ab. Die großen Herren und mächtigen Fürsten dcS Reichs beschnitten iu dem Streben nach Bildung mög lichst großen Landbesitzes nicht nur das Eigentum der Reichsfreien sehr skrupellos, sondern auch die geistlichen Pfründen, um so ihre Erträgnisse zum guten Teil dem eigenen Beutel zuzusührcn. So kam es dahin, daß manche der ehemals vielleicht reich dotierten Pfründen kaum noch oder tatsächlich nicht mehr ihren Mann ernährten, nnd die nächste Folge war, daß derartig schlecht gestellte Laien priester, und dann anch, wie es zu gehen pflegt, manche bester situierte, die cs nicht notig gehabt hätten, danach trachteten, zwei oder auch mehrere solcher Stellen in ihrer Hand zu vereinigen. Was man jenen billigerweise nicht verdenken konnte, das nmßte, sobald Habsucht ins Spiel kam, notwendig zum Unsegcn auüschlagcn. , So konnte die große Maste der heimkehrendcn Kleriker auf eine baldige Anstellung nicht rechnen. Manche wandten sich anderen Berufen zu und griffen entschlossen LH Pflug und Karst, oder auch zu Helm uud Spieß. Tie meisten aber, und besonders diejenigen, die -en Idealen ihrer Jugend nicht so rasch den Lanspaß zu geben vermochten, verlegten sich aufs Warten und entarteten allmählich infolge der immer aufs neue getäuschten Hoff nungen, -er Not des Lebens, mit der sic zu kämpfen hatten, und -er Verbitterung, der sie darüber anheim fielen, zu jener zügellosen Gesellschaft, als die uns die „fahrenden Kleriker" im 12. und 13. und bis in den Be gin» des 14. Jahrhunderts hinein begegnen. Um des lieben Brotes willen wandten sie sich der Musik und Poesie zu, bedienten sich aber zu ihren dichte rischen Hervorbringungen vorzugsweise der lateinischen Sprache, da sie cs nicht, wie die Spiellente, in erster Linie auf die Belustigung der Laien abgesehen hatten, sondern sich vor allem an ihre in Amt und Würden befindlichen Standcsgenossen hielten. Und diese, die cs meist schon für ihre Christenpflicht hielten, ihren bedrängten Mit brüdern zn helfen, ergötzten sich vielfach auch in der Tat nicht wenig an den leichten, frischen und lebensvollen Rhythmen, in denen das altehrwürdige Latein der ent gleisten Theologen über die fugendlichen Lippen tanzte, und nicht minder gelegentlich an dem oft leichtfertigen Inhalt ihrer Lieder. Die Gedichte sprudeln oft über von Win und Humor, deren Derbheit freilich zuweilen nur durch die graziöse Behandlung des lateinischen Idioms in etwas gemildert wird. Liebeslieder, Spiellicdcr, Bcttellicder, Wort spielereien, Zoten und auch ernste Strophen, Schil derungen ihres Elends n. s. f. stehen in den Sammlungen bunt durcheinander. Einzelne Sammlnngen sind ganz be sonders reich an Trink- und Kneiplicdcrn, wie denn die vagicrcndcn Kleriker zum Schmausen und Schlemmen alle zeit aufgelegt gewesen zn sein scheinen. Noch das ganze 12. Jahrhundert hindurch fühlten diese Vaganten sich noch durchaus als Geistliche und blickten mit unverhohlener Verachtung aus das gemeine Volk der Spiellente herab. Seit aber immer mehr anrüchige Ele mente sich mit der Maste der stellenlosen Kleriker ver schmolzen und dieses ganze Gclehrtcnproletcrriat sich durch üblen Lebenswandel die Gunst des besseren Publikums mehr und mehr verscherzte, läßt jener Stolz merklich nach. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren sic bereits so verwahrlost, daß sic meist gar nicht mehr ver suchten, irr ein geordnetes Leben zurückzukehren. Staat nnd Kirche ergriffen Maßregeln zur Vermehrung der Pfarrstellen, aber cs blieben noch genug übrig, die sich nicht mehr ansrasfen konnten. Es war das die Hefe der damaligen Gesellschaft, zu Be trügereien und Gewalttätigkeiten aller Art stets geneigt. In unanständigem Aufzuge, verlottert nnd verlumpt, zogen sie im Lande umher, an den Türen der Geistlichen bettelnd oder anch wohl mit gewafsncter Hand in die Pfarrhäuser einsallcnd und Geld und Eßwarcn als Bente davonführcud. In den Dönern hielten sie falsche Reli- guien seil, erteilten Ablässe, drangen in die Kirchen ein, um Messe zn lesen oder den Altar durch Würfelspiel zu entweihen. Tie übrige Zeit des Tages verbrachten sic ge wöhnlich in der Kneipe, spielend, schmausend, trinkend. Endlich mußte die Kirche, die lange Nachsicht und Milde geübt hatte, energisch cingreifcn. Kirchenvcrsammlnugcn erließen harte Bestimmungen gegen die „Lotterpfasfen", denen man den geistlichen Charakter ganz absprach, sie da mit ihrer geistlichen Vorrechte beraubte und als Genossen der Landstreicher und Spiellente der weltlichen Gerichts barkeit überantwortete. Ihr Nimbus mar nun gänzlich dahin, nnd nach nnd nach vcrsänvanden sie von der Bild fläche des öffentlichen Lebens. Schließlich mag noch eine dem Gaunerwcsen verwandte Erscheinung ans der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts Erwähnung finden, das sind die um jene Zeit plötzlich in großer Zahl auftrctcndcn Abenteurer und Glücksritter aller Art, von den in irgend eine Idee verrannten, teil weise steif nnd fest selbst an ihre Mission glaubenden „Er findern", Alchinnistcn, Arkanisten, Geisterbcschmörern n. s. w., bis zu den Betrügern großen Stils, die wir heute Schwindler oder Hochstapler nennen würden. Es ist die Zeit des Doktor Faust. Nekromanten oder Meister der sänvarzeu Kunst, Schwarzkünstler und Zauberer finden sich häufig erwähnt. So wird z. B. 1500 in Nürnberg einem Benedikt Meißner, „der den Teufel in mancherlei Feuer bannen kann", sein Begehren um Vorführung dieser Kunst abgelchnt. Be sonders häujig begegnen uns in den Nürnberger RatSerlässen Abenteurer, die eine „Holzersparnis- kunst" kennen wollen, zuweilen auch vom Rate zu Versuchen zugelasserr werden, in -er Regel aber mit Schanden bestehen. Ein Italiener BtncentiuS Pistvlotziud war im Besitze einer Kunst, wie man allen Fallimenten znvorkommen nnd sonsten auch (Seid oder Einkommen machen könne, fand aber beim Nürnberger Rat, der ihn ziemlich brüsk abschvb, keine Gegenliebe. Ern Hans Vatter ! aus Mellingen bei Weimar gab an, er sei verhext und gebe ans Mund nnd Ohren Blut von sich. Er hatte großen Znlaiis, wurde aber 1562 in Nürnberg entlarvt. Nahe verwandt mit den Schwindlern dieser Art sind manche landfahrcndo. Hausierer. Tic Nürnberger Rats Protokolle wimmeln von Verlässen, in denen „Landfahrcrn" oder „Hnnmelrcichern" verboten wird, ihr „Petroleum", „Quirrnnsöl", „Nosmarinbaliam", „Skorbivnöl", „Ele- fantcnschuralz" usw. in Nürnberg zn verkaufen. Einer hielt seinen „berühmten Planctcnstein" feil, der „für allerlei Helsen soll", ein anderer Elenticrsckinialz und ge druckte Zettel „von Tugenden des Schmalzes von Eilen den" — die richtigen Quacksalber und Marktschreier. Zur richtigen Marktschrcicret ans der Blütezeit der Quacksal berei Mitte des 16. Jahrhunderts^ gehörten aber nicht bloß Tränklein, Salben, Pflaster, Pillen usw., nicht nur Thcrink und Mithridat, die Allheilmittel der landsahren- dcn Acrztc jener Zeit, sondern vor allem eine gewaltige Reklame, ein durchdringendes, andauerndes, unverwüst liches Organ, wie cs heute noch dcu „Lchrcifritzcn" mancher Messen eignet. Auf deu Abbildungen scheu wir sie meist, auf eiucur Po dium oder einer Bühne über die gaffende Menge erhöh«, dieser ihre Wundermittel aupreise», die Doktoren Meister Vivian, Calabrian, Wnrmbrand, Paffnaztus oder Schnauzius Rapirntius von Ncapolis bis zu dem be rühmten Doktor Eisenbart des 18. Jahrhunderts. Im Laufe des 17. Jahrhunderts bedurfte cs schon stärkerer Anziehnngsmittel. Die fahrenden Acrztc bil dctcn sich zir förmlichen Gauklern ans, tanzten aus dein Seile, ließen sich, in brennendes Werg eingcwickelt, an einem schräg gespannten Seil herabsahren, trieben Taschen spiclcrtünstc, ließen fremde Tiere sehen, engagierten einen Hanswurst, traten rnit großem Pomp auf, wie der bc- rühnrte Arzt Hübner in Meinigen mit fünf Kutschen, 70 Personen, einer Zwergin, zwei Heiducken, zwei Trom petern und anderen Musikanten, 18 Pferden und Mvci Ka nrelen. Das war 1724. Im Jahre 1733 kam er wieder nach Meinigen, diesmal mit vielen Leuten,- darunter 30 Musi kanten, ein Mohr, ein Heiduck, eine Zwergin, ein Seil tänzer, sechs Lakeien und verschiedene Frauenzimmer nnd Personen. Da war natürlich schließlich der „Zirkus", die Haupt sache und die „Medizin" die Nebensache! »x.
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