Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.10.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021009020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902100902
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902100902
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-10
- Tag 1902-10-09
-
Monat
1902-10
-
Jahr
1902
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
VezugS'PretS 1» der Hauptexpedition oder den im Stadt, bezirk und de» Bororten errichteten Au-, gabestellen abgeholt: vierteljährlich4.50, — zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland u. Oesterreich vierteljährlich6, für die übrigen Länder laut Zeitungspreisliste. Redaktion und Expedition: IohanniSgaffe 8. Fernsprecher 153 und 222. FUialevprdM»«»«: Alfred Hahn, Buchhandlg., UniversitätSstr.3, L. Lösche, Katharinenstr. 14, u. Königspl. 7. — Haupt-Filiale Dresden: Strehlener Straße 6. Fernsprecher Amt I Nr. 1713. Haupt-Filiale Serlin: Königgrätzer Straße 116. Fernsprecher Amt VI Nr. 33SS. Abend-Ausgabe. MipMtr Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates und des Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen »Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 75 H, vor den Familiennach- richten (6 gespalten) 50 H. Tabellarischer und Zisfernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Ertra - Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-AuSgabe, ohne Postbesürderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluk für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Jahrgang. Donnerstag den 9. Oktober 1902. politische Tagesschau. * Leipzig, 9. Oktober. Der Kaiser wird also die Boerengenerale nicht em pfangen. „Dieser AuSgang der ganzen Angelegenheit muß die größte Überraschung Hervorrufen. Denn daran ist nicht im mindesten zu zweifeln, daß von den zuständigen deutschen Stellen alles geschehen ist, um den Empfang zu ermöglichen. Selbstverständlich halte bei der Re gelung des Empfanges der Gesichtspunkt den Aus schlag zu geben, daß deutsche Interessen durch die Audienz in keiner Richtung beeinträchtigt würden. In folgedessen war eS natürlich, wenn der Kaiser die Gewäh rung der Audienz von Bedingungen abhängig machte. Tie eine dieser Bedingungen war die Zusicherung des Fernhaltens von antienglischer Agitation, die andere die Nachsuchung des Empfanges auf dem üblichen Wege über die englische Botschaft. BeideBedingungen konnten die Boerengenerale als englischellnler- thanen erfüllen, ohne sich das Geringste zu vergeben. Der beste Beweis dafür, daß sie dies konnten, ist in der Annahme jener zwei Bedingungen durch den General De Wet enthalten. Wie die Boerengenerale ihren einmal eingenommenen Stand punkt zu verlassen und Bedenken gegen die Nachsuchung der Audienz zu erbeben vermochten, das erscheint schlechthin rätsel haft. Die Vermutung ist unabweisbar, daß die Boerengenerale der englischen Hetzpresse ins Garn gelausensind. Vermutlich sagten sich die Boeren generale: nachdem die englische Hetzpresse dem deutschen Kaiser sozusagen Vorschriften darüber bat machen wollen, wen er empfangen dürfe und wenn nicht, „muß" uns der deutsch: Kaiser empfangen, auch wenn wir nicht die Audienz durch Vermittelung der englischen Botschaft in Berlin nachsuchcn. Sollten die Boerengenerale solchen Erwägungen Raum ge geben haben, so vergaßen sie, was der Kaiser sich selbst schuldig ist. Durch die Zurücknahme ihrer ursprünglichen Einwilligung haben die Boeren also lediglich die Wirkung erzielt, daß sie der englischen Hetzpresse eine Genugtuung verschafft haben; unterbleibt doch jetzt der Empfang, was man jenseits des Kanals sehnlich gewünscht hat. Glücklicherweise ist die Haltung Deutschlands in Sachen des Empfanges von Anfang an so vollkommen korrekt und in ihrer Korrektheit so vollkommen öffentlich be kannt geworden, daß die englische Iingopresse nicht in der Lage ist, sich eines Erfolges uns gegenüber zu rühmen. An Versuchen in letzterer Richtung wird es vielleicht nicht fehlen. Entbehren cerartige Bemühungen auch jedes stichhaltigen Grundes, so berührt es doch nicht angenehm, daß die englischen Biedermänner durch die Sinnes änderung der Boerengenerale die Handhabe für die ge dachten Bemühungen bekamen. Von deutscher Seite ist man bei aller Hochachtung vor den Boerengeneralen dock Wohl berechtigt, gerade deswegen die Sinnesänderung der Boeren generale zu mißbilligen. Es kommt hinzu, daß die Boeren generale auch in andrer Beziehung Rücksichten auf Kosten Deutschlands genommen haben: sie haben nach einer ohne Widerspruch gebliebenen Meldung den Besuch des Schlachtfeldes von Belle- Älliance den Franzosen zu Liebe aufgegeden. Dabei steht das heutige republikanische Frankreich jener Niederlage seines einstigen Imperators ungleich kühler gegenüber als Deutschland seinen Helden von Waterloo. Der ehemalige Generalproknrator am K a s s a t i v n S y o f e, Mau au, richtete anläßlich des Abscheidens Zolas ein Schreiben au die „Döpöchc nor- mande", aus dem folgende energische Stellen hervorzu heben sind: „Was mich betrifft, der ebenso heftig an gegriffen und verleumdet wurde, wie der große Tote, so behalte ich meine» freudigen Mut, der mich nie verlassen; ich bin stolz nnd glücklich darüber, ein Wert haben fort setzen zu tonnen, das von Zola begonnen wurde. Sein Anklagcbricf, der — zu meinem Bedauern muß ich das zu gestehen! — zuerst die Drcnfus-Frage von dem gerichtlichen Wege ablenkte, der ihr offen stand, hat nichtsdestoweniger der Revision die Pforten geöffnet. Und als diese Frage endlich ihren gesetzmäßigen Richtern, denen des höchsten Gerichtshofes des Landes, vorgelegt wurde, stellte sich heraus, daß Dreyfus 1) auf eiu falsches Schriftstück hin, das sich gar nicht auf ihn bezog, und 2) wegen eines „Bor dereau", das er nicht angefertigt hatte, verurteilt worden war. Und seltsamerweise ist der, der'es verfertigt hatte, freigesprochen worden. Niemand würde heute, trotz allem, was seitdem passiert ist, niemand, selbst keiner von denen, die ihren politischen Leidenschaften treu geblieben sind und nicht abgcrüstct haben, noch abrüstcn werden, niemand, wiederhole ich, würde beute zu behaupten wagen, daß das „Bordereau", auf das hin Dreyfus verurteilt wurde, von der Hand des Dreufuo ist. — Warum legen die Widersacher also die Waffen nicht nieder? Aber Geduld! Und damit will ich schließen, die Gerechligkeitsfragc ist, wenn cs sich um die Unschuld und die Ehre eines Mannes handelt, nn- vcrjährbar. Im 'Namen des Gesetzes wird eines Tages, trotz allem, die Rehabilitierung des Dreyfus erfolge«. Au jenem Tage werden die Überlebenden eine schöne Auf gabe zu erfüllen haben. Sie werden ans den Grabstein oder das Denkmal Zolas den feierlichen Iustizspruch ein gravieren lassen, der, indem er seinen Anklagcbricf recht fertigt, das Buch „Insticc" ersetzen wird, das seine leider zu früh erkaltete Hand nicht mehr schreiben konnte. Jener Tag wird ein Tag der Verherrlichung für Zola, für Drcy- fus, für die Gerechtigkeit und für Frankreich sein." Die englische KricgSnntcrsuchungS-Nommisfion, die die Fragen der militärischen Vorbereitungen vor dem Kriege und die Operationen bis zur Besitznabiue von Pretoria unter suchen soll, bat, wie man der „Münch.Allg.Zig." aus London mitteilt, ihre Sitzungen begonnen. Sie werden sich, ohne auf die vielen kleinen Details einzugehen, in großen Zügen mit den Fragen der MunitionSlieselungen, mit dem Transport der Mannschaften und Pferde beschäftigen müssen. DaS ComitS besteht aus einer Anzahl alter, in den Eivilstand eingetretener Graubärte, unter denen Afrika überhaupt nicht vertreten ist nnd bei denen sich kein Offizier mit afrikanischer Erfahrung befindet. Man kann sich daher der Ansicht mit Recht nickt verschließen, daß es eine Regierungs- und keine nationale Untersuchungs-Kommission ist, deren Mitglieder von Ministern gewählt sind und voll kommen „unschädlich", die überdies bezüglich einer großen Anzahl wichtiger Fragen nickt weiter als bis zur Besitz nahme Pretorias geben dürfen, also die weit wichtigeren Fragen der Zerstörung der Farmen, der Ernten, die Ver wendung der Kaffern u. s. w., die unter dem Regime Roberts erst begannen und vereinzelt sich ereigneten, in ter Schwebe lassen müssen. Die Mitglieder der Kommission sind: Earl of Elgin, Piäsibent (53 Ialne), früher im mdiicken Dienste, Vikcount Eiher (50), Exickretär der öffentlichen Arbeiten, Sir George Taubman Goldie (56), der Begründer Nigerias, Feldmarsckall Sir Henry Norman (76), Indien, Admiral Sir John Hopkins (68), Exkommandeur rm Mittel mcer, Sir John Ebge (61), indischer Richter, Sir John Jackson (6l), der bekannte Hafenbauer. Der Ruf nach einem Flottenvcrein deutschen Musters ertönt in den Bereinigten Staaten von Nordamerika. Aus Anlaß des Offizier- und Mannschafismangcls in der Ver- einiglen Staaten - Marine schreibt das angeiebene ameri kanische Fachblatt „Army and Navy Journal" folgendes: Offizielle Berichte und Angaben genügen nicht, weil sie zu wenig gelesen und nicht hinreichend verbreitet würden. Was in den Vereinigten Staaten fehlt, sei ein tat kräftiger, weit ausgedehnter Verein für die Verbreitung richtiger Ansichten über das Seewesen und die Wichtig keit der Vergrößerung der Seemacht für das Wohlergehen des Staates. Ankere Staaten, wie England, Frankreich und vor allem Deutschland, hätten dazu ibre Navy Leagues bezw. ibre Flotlenvereine, durch die ibre Mit glieder — und Mitglied der Flottenvereine kann dort jeder anständige Mensch werden — fortlaufend über die Bedingungen, die Bedürfnisse und die Tätigkeit der Marine unterrichtet werden. Der Deutsche Flottenverein babe jetzt gegen l 000 000 Mitglieder (zur Zeit tatsächlich 626 000. D. R) und unterhalte zahlreiche Abteilungen in den Staaten, Pro vinzen und Städten des Reiches. Im Jahre 1900 hätte er 300 000 Mitglieder gehabt, 7 000 000 Flugschriften und Bücher verteilt, 3000 Vorträge über Marinesacken veranlaßt und an freiwilligen Beiträgen mehr als 125 000 Dollars Ein nahme gehabt. Durch die Arbeit dieses Vereins, der sich der Gunst und Unterstützung des Kaisers ersreue, sei jetzt im deutschen Volk ein gesundes Verständnis für die politische Bedeutung einer großen und starken Flotte geschaffen worden. Mit den Worten: „Könnte nicht eine ähnliche Schöpfung oder Orgauisation in den Vereinigten Staaten in demselben Sinne wirken?" schließt das amerikanische Fachblatt seine Abhandlung. ' Deutsches Reich. ' Berlin, 8. Oktober. (Die Sozialpolitik und der Reicks tag.) Wird im Reichstage neben dem Ringen um den Zolltarif und der Sorge um die Bilanzierung des Reichshausbalts noch Raum für die Förderung der Sozialpolitik sein? Mit dieser Frage beschäftigt fick Professor vr. Francke in der „Sozialen Praxis" und beant wortet sie dahin, daß gerade die jetzige politische Lage mit verstärkter Wucht auf den Ausbau der Sozialreform hindränge. Die Massen, die durch Zölle und Verbrauchsabgaben in erster Linie für die Füllung der Neichskasse in Betracht kämen, müßten besonders in einer Zeit anhaltender Verdienstmlnde- rung in ihrer Leistungsfähigkeit bewahrt werden. Daß dieser Pflicht Genüge geschehe, va,ür bestehe eine gewiße Bürgschaft in der Nähe der Neuwahlen, bei denen man sich scheue, mit leeren Händen vor die Massen zu treten. Als zu ver- absckiedendeS Gesetz liegt dem Reickstag der Entwurf gegen die Mißbräuche in der gewerblichen Beschäftigung von Schulkindern vor, der in erster Lesung bereits beraten ist. Der Reichstag wird auf dem Gebiete des Arbeitsschutzes außerdem betreffs der Heimarbeit in der Cigarre» fabri- kation und der Konfektionsindustrie, sowie in Bezug auf die Verhältnisse der Gärtnergehülsen unk Kellner, endlich betreffs der Herabsetzung des Maximalarbeits tages der Frauen von 11 auf 10 Stunden feine Wünsche zu äußern haben. Die Eingabe um Schaffung eines ein heitlichen Vereins- und VersammlungSrechteS wird die Frage der Sicherung des Koalitionsrechtes wieder zur Erörterung bringen. Auf dem Gebiete der Arbeiter- veisicherunz ist zwar die Revision des Krankenkassen gesetzes nicht zu erwarten, aber die vom Bundesrat geplante Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Heim arbeit dürfte im Reichstage einen Widerball finden. Vor allem jedoch muß der Beschluß der Zolltariskommission, zum Zweck der Finanzierung einer Witwen- und Waisen versorgung die Mebrerträge aus den LebenSmittelzöllen des neuen Zolltarifs anzubäufen, im Plenum eine ausführliche Würdigung finden. Francke bemerkt in dieser Beziebung wörtlich: „Alle Parteien und die Regierungen hallen diese Versicherung für notwendig. Es muß aber endlich aus den platonischen Sympatbien heraus ein praktischer Weg zum Ziel gefunden werden. Verknüpft man daS Schicksal der Witwen- und Waisenversicherung mit dem ungewißen Lose des Zolltarifs, so setzt man es den schlimmsten Wechsel fällen aus und gefäbrdet einen Erfolg vielleicht auf lange Jahre hinaus. Die Fürsorge für die Witwen und Waisen muß als ein Werk für sich allein in Angriff genommen werden. Und weist die Regierung auf die Ebbe in der Reichskasse hin, so müssen für unerläß liche Forderungen der Sozialresorm eben so gut neue Mittel beschafft werden, wie für Heer und Flotte. Da wäre eS nur eine Tat ausgleickender Gerechtigkeit, wenn für die Witwen und Waisen der Armen eine Fürsorge geschaffen würde aus den Erbschaften der Reichen und Wohlhabenden. Eine Reichs-ErbschastSsteuer würde sicher ein trag- fädiges Fundament für den Bau der Witwen- und Waisen versicherung geben." Berlin, 8. Oktober. (Professor HanS Delbrück und der Osimarken-Verein.) Die befremdliche Stellung, welche Professor Hans Delbrück als Publizist gegen die preußische Polenpolitik und deren Befürworter seil Jahren einnlmmt, verhindert ihn, dasjenige Maß von Kritik und Form derselben innezubalten, die ihm zum mindesten die Nöcksicht auf seine Lehrtätigkeit als GeschichtSprofeffer an der größten Universität Berlin auferllzeu Zollte. In em." seiner letzten Veröffentlichungen schleudert er m seinen An griffen auf den Ottmarken-Verein Beleidigungen letzteren, welche den Ostmarken-Verein veranlaßt haben, gegen Professor Delbrück gerichtlich einzuschreilen. Del brück bezeichnete in jenem Artikel den Zusammenschluß aller Deutschen in den Ostmarken als Illusion und schrieb dann wörtlich: ,Bei weitem schlimmer als alle politischen Mißerfolge ist und bleibt doch die moralische Fäulnis, Lieder HakatiSmus um sich verbreitet." . . . Und weiter: ... „Am allerschlimmsten aber ist daS von den Hakatisten groß- gezogene Spionage - Denunz ersystem. In der „Germania" war jüngst eine Erinnerung an Len Staatssekretär v. Stephan ver öffentlicht, wonach dieser schon geklagt hat über die ganz nichtigen „nationalen" Denunziationen, mit denen seine Beamten im Posenjchcn verfolgt würden. Ich selber habe es am eigenen Leibe erfahren, wie Herr Harden vor Gericht ausjagte, der Sekretär des Ostmarken- Vcreins fei immer zu ihm gekommen, dies und jenes (Verleumderische) über mich zu schreiben ..." Die drei Vorsitzenden des Vereins, die Herren v. Tiedemaun, Justizrat Wagner und Excellenz Ra sch bau, haben des- Feuilleton. Lompauia Cazador. 8j Roman von Woldemar Urban. iNalb.ruck «erboter. Er zitterte vor Aufregung und wollte fich's doch nicht merken lassen. Mit dem wcitfaltigcn Ärmel seiner ElownSkutte fuhr er sich über die Augen, um die Tränen abzumischcn, und dachte in der Erregung nicht daran, daß sie sich mit der Kreide vermischen mutzten. Er sah schauerlich aus und warf sich endlich zuckend nnd schluchzend auf den Stuhl. Und das alles um eine Gans! dachte Isa und sah ihn erstaunt an. War das möglich ? Es hätte unmöglich er scheinen können, aber für Isa war eS hinreichend erklär lich. Sic hatte ja gesehen, mit welcher Sorgfalt nnd zähen Geduld sich der Elown Wochen- und monatelang damit beschäftigt, wie er beobachtend nnd svznsagcn mit einem liebevollen Interesse den Bewegungen Fifincs folgte, sich in ihr Wesen und in ihre Natur vertiefte und Hunderte nnd Tausende von Malen dieselben Bewegungen wieder holen ließ, bis sie so waren, wie er sic wünschte. Fifine war sein Geschöpf. Wie und was sie war, war sic durch ihn. Das erklärte alles. Dazu kam nun noch eine Eifersucht, die Isa allerdings noch nie in diesem Maße an ihm bemerkt, nnd die sie über raschte und erschreckte. Sie wußte ja wohl, daß Monsieur August sic gern hatte und sich vielleicht auch mit gewissen Zukunftsideen in bezug auf sie trug. Aber sie hatte diesen Umständen bisher noch keine besondere Bedeutung -cigemesscn. Sie war noch zu jung, um diese Erregungen in ihrer vollen Tragweite zu erfaßen. Ein gewisses Mit leid erfaßte sie. Sie wünschte nicht, daß Monsieur August für seine Innigkeit und Herzlichkeit, mit der er an ihr hing, leide. „Boyons, Monsieur August", sagte sie zurcdend, indem sic näher an ihn hcrantrat und ihn in einer sonderbaren Art am Ohr kraute, „nicht so! Ich habe es nicht so ge meint. Nein, lassen Sie das. Sic dürfe» nicht weinen. Mein Gott, wenn ich Ihnen sage, daß Sic vollständig im Irrtum sind. Ich denke nicht daran, mein Wort darauf, eine reiche Frau, am allerwenigsten die des jungen Herrn Habicht, -u werdend Er hob rasch den Kopf und sah sie an. „Wirklich nicht, Isa?" fragte er hastig. „Bei meiner Seele, Monsieur August. Nicht im ge ringsten." „Ja, ja, ich weiß, Sie lügen nicht, Isa. Ich glaube Ihnen, aber — wer weiß — Sic werden später daran denken." „Aber " „Still, still, Isa. Ich höre Ihren Bater kommen. Stecken Sie das Geld weg. Sonst geht der Tanz noch ein mal von vorn an. Isa nahm den Beutel vom Tisch und schob ihn in ihr Mieder. Er sah daS und seine Augen leuchteten einen kurzen Augenblick freudig auf. Der Gedanke, daß der Beutel, der so lange auf seiner Brust geruht, nun an ihrem Herzen lag, schien ihm ungemein sympathisch zu sein. Gleich darauf trat der Direktor Eazador ein. Auf den ersten Blick sah er, daß etwas Ungewöhnliches vor sich gegangen war. „Was ist?" fragte er nnd sah die beiden scharf an. „Was soll denn sein?" erwiderte Isa. „Monsieur August hat Fifine verkauft und geht mit Dclcombe nach Rußland." „Das thut mir leid", sagte der Direktor ernst und weh mütig. „Ich dachte, Sic sollten Fifinc behalten und in Deutschland bleiben. So wäre für Sie gesorgt gewesen, und wir hätten von Zeit zu Zeit nns Wiedersehen können, Monsieur August." „Wozu denn ?" warf der Clown dazwischen. „Ich bin Ihnen sehr verbunden", fuhr der Direktor fort, „und hätte nicht mehr gewünscht, als Ihnen zu ver gelten, was Sic in schwerer Not an uns getan haben. Sie wissen, wie gern wir Sie immer gehabt haben, und ich hoffe, daß das auch so bleibt, selbst wenn Sie nach Ruß land gehen. Sie kommen doch auch wieder zurück und werden unS doch dann nicht vergessen. Wir, das bin ich sicher, werden Sie nie vergessen." Monsieur August sah Isa bei diesen Worten an, aber entweder bemerkte sic den Blick, der wie eine Frage an ihr hing, nicht, oder wollte ihn nicht bemerken. Sie machte sich mit dem Aufträgen des EffcnS zu schaffen und sagte nach einer kleinen Panse: „Setzt euch doch! Es ist alles fertig. Hast du eine Woh nung gefunden, Bater ?" „Ja, es ist etwas vor der Ltadt", erzählte Herr Eazador, „nicht weit von den Friedhöfen, aber in der Nähe der Pferdebahn. Du kannst also, wenn schlechtes Wetter ist, nötigenfalls mit der Pferdebahn nach dem Konservatorium fahren, während ich nicht weit — von Eslava bin." „Aber werde ich nicht die Leute stören, wenn ich übe, Papa?" „Nein, und das ist eben das Hübsche. Wir sind mit einem FriedhosSaussehcr und seiner Familie ganz allein in dem Hause. Es ist natürlich ein ganz kleines, einstöckiges Häuschen, vier Fenster Front, zwei Zimmer und eine Kammer und Küche, alles für zwcihundcrtvierzig Mark pro Jahr. Wir haben reichlich Platz, auch wenn der Mozzo mit uns kommt. ES ist doch auch billig. Billiger ist hier durchaus nichts zu haben, und den Mozzo können wir doch auch nicht auf die Straße setzen." Mau schwatzte bei Tisch herüber und hinüber, sprach von der Zukunft, von den Hoffnungen, vom Wiedersehen, wie ein harmloses Wandervölkchen, das das Leben nimmt, wie eS kommt, und nicht gewohnt ist, sich mit Gedanken all zusehr zu beschweren. Nur als nach dem Essen Monsieur August Fifinc unter den Arm nahm, um sie ihrem neuen Eigentümer zu überbringen, brach das weiche, tiefe Gefühl der Zusammengehörigkeit noch einmal mächtig und er schütternd durch. „Monsieur August", sagte der Direktor Eazador mit einer zitternden Rührung in der Stimme, „Sic hätten es doch nicht tun sollen." Isa traten die Tränen in die Augcu, und sie küßte die GanS mit zuckenden Lippen auf den Kopf. Es war ein Kuß, für den Herr Habicht junior mit seinem ganzen Leben bezahlt hätte, nnd die Gans klappte gleichgültig mit dem Schnabel auf und zu, als ob sie gähnen wolle. „Und wenn sie meine Schwester wäre!" murmelte Monsieur August ingrimmig und stapfte trotzig die Treppe hinunter. Siebentes Kapitel. Frau Doktor Gertrud Habicht war eine stille, bleiche Frau, die schon seit mehreren Jahren etwas kränkelte. Tie war noch nicht so alt, daß man das auf ihre Jahre schieben tonnte. Sic halte kamn die Fünfzig überschritten, aber ihre -Haare waren schon vollständig gebleicht, der Teint eigentümlich zart nnd wächsern, ihr ganzes Wesen unsicher, scheinbar furchtsam, als ob sic immer eine Kata strophe, ein Unglück besorge. Sie war ungewöhnlich schreckhaft. Wenn jemand plötzlich ins Zimmer trat, oder eine Tür im Hause etwas derb zuftel, fuhr sic erschrocken zusammen, als ob sich ein fürchterliches Unglück ereignet habe. Noch vor wenig Tagen war sie im Park zu Tode erschrocken, als plötzlich eine Grasmücke dicht neben ihr aufflog, die ihr Tritt im Sande auS dem feuchten Rasen grunde aufgescheucht. Sie war offenbar leidend, und doch konnte niemand klipp und klar sagen, woran sic litt. Sic hatte eben eine jener unzähligen Krankheiten, die keinen Namen haben. Ter Arzt, den man schon vor langer Zeit zu Rate ge zogen, hatte nach allem möglichen gefragt, ihr frische Luft, Bewegung im Freien, eine Badereise und Gott weiß noch was verordnet, aber cs blieb alles beim alten. Nervosität! Mit diesem gutmütigen und geduldigen Schlagwort der neuen Zeit hatte der Arzt die Würde der Wissenschaft ge deckt, aber die Frau Rechtsanwalt war dadurch auch nicht gesund geworden. Sic stammte auS einer sehr zahlreichen Familie. Tie hatte fünf -Schwestern gehabt und auch noch zwei Brüder, von denen freilich einige schon gestorben waren. Dabei war ihr Baier ein Amtsrichter gewesen mit wenig mehr als dreitausend Mark Gehalt, so daß man seinerzeit cs für ein großes Glück gehalten, als sie den Rechtsanwalt Habicht geheiratet und somit „versorgt" war. „Versorgt" war sie nun allerdings. Es fehlte ihr an nichts, und wenn auch ihr Mann in den ersten Jahren ihrer Ehe sic un glaublich kurz gehalten und sie geradezu geizig und filzig behandelt hatte, so mar das doch jetzt seit einer Reihe von Jahren etwas besser geworden. Auch war das kein Grund, über den sich die Frau Rechtsanwalt beklagt oder unglücklich gefühlt hätte. Dieser lag vielmehr ganz anücrSwo. Ihr Bater hatte nämlich zu Lebzeiten ein kleines Anwesen, ein Haus mit einem Gärtchen draußen vor der Stadt, besessen, in abgelegener Gegend, ohne be sonderen Wert, aber — es war ihr Elternhaus, der Ort, an dem ihre Kindcrerinnerungcn hingen, wo sie sich auch in späterer Zeit, als sic schon verheiratet war und mit ihren Kindern manchmal zu Besuch ging, immer heimisch, traulich und glücklich gefühlt. Ihr Mann hatte das nie gern gesehen. Er wollte keinen „Anhang", wie er sagte, und kaum war ihr Vater tot, so brach ihr Mann einen Streit vom Zaune und geriet mit ihren sämtlichen Ver wandten in Prozeß. Er gewann die Prozesse alle, aber — das Haus mußte verkauft werden und ihr Verkehr mit ihren Geschwistern hörte auf. Ihr Mann duldete ihn nicht, und wenn sic sich auch im Anfang dagegen auslehntc, so mußte sie sich der unbeugsamen Hartnäckigkeit ihres Mannes doch schließlich fügen, um wenigstens im eigenen Hause Ruhe und Frieden zu finden. Aber vergesse« konnte sie das nie, und wenn sie an der Seite ihres Manne- im Laufe der Jahre immer stiller, bleicher, immer
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite