Volltext Seite (XML)
Briand vor der Rechtsschwenkung. Der Kabinetlsbeschlutz zur Frankensanierung. — Eine Kampfansage an die Linke. Slresemann an Westarp. - Msutski za ganzer Arbeit entschlossen. - Siegreiche Revolution in Portugal. Die Frankenbeschlüsse -es Kabinetts. Paris, 80. Mat. Am Sonnabend hielt das Kabinett zwei Sitzungen ab, die sich mit der Wahlreform und dem Finanzproblem befaßten. Der Presse wurde eine Mitteilung übergeben, in der cs heißt: Die Negierung hat eS für ihre Pflicht gehalten, ihre ganze Tätigkeit gegenwärtig ausschließlich der Wieder- ausrtchtung des Franken zu widmen. Sie hat die Zusammensetzung des Finanzsachverständigenauöschusses ge billigt. Im übrigen weigert sich die Regierung, eiue Er höhung der Steuerlasten ins Auge zu fassen, die unvereinbar wäre mit der Notwendigkeit, den Sparern Vertrauen eiu- zuslöße«. Die Regierung hat sich entschlossen, eilig eine systematische Quotisicrung der Steuerlasten und ihrer Ein schätzung auszuarbeiten und darüber dem Parlament einen Gesetzentwurf zugehen zu lasten. Schon jetzt faßt man die Er- öfsttung eines Spezialkontos bei der Bank von Frankreich inS Auge, bei der alle in ausländischer Währung lautende Kapitalien eingezahlt, bzw. verbucht werde« solle«, die fran zösische Staatsangehörige im Auslände erwerbe«. Die fran zösischen Eigentümer bcratiger Kapitalien in ausländischer Wülirung seien zu deren Rückführung nach Frankreich ver pflichtet, da die Freiheit der Unterbringung der Kapitalien entsprechend dem Gutachten der internationalen Konferenz »vn London erst dann wieder hcrgestcllt werden könnte, wenn diese aiisgeführten Kapitalien in größerem Umfange wieder zurnckgcsührt würden. Der Kabincttsrat sei der Ansicht, daß vvn einer Steuerreform in der jetzigen Zeit, in der cs sich um die Rettung deS Franken handele, nicht die Rede sein könne. Tic Negierung habe daher beschlossen, entsprechend dem Gut achten des Untcrsuchungsausschnsteö für Einsparung auf zivilem und Mtlitärgebiet Maßnahmen zu treffen. Der Ministcrrat sei weiter der Ansicht, daß eS unter Len gegen wärtigen Umständen unangebracht sei, tu eine doktrinäre Kontroverse einzutrcten, die nur Besorgniste Hervorrufen und den öffentlichen Kredit schädigen könnte. Srregung der Pariser Linkspresse. Paris, 30. Mai. Die Regierungserklärung zur Sanie- rungöfrage, die jede Erhöhung der Einkommensteuer, jede Kapitalstcuer und jede parlamentarische Debatte über die Finanzmaßnahmen des Kabinetts ablchnt, hat bei der nichtsozialisrischcn Pariser Presse eine sehr günstige Be urteilung gefunden. Allgemein erblickt man in der Er klärung eine glatte Kampfansage Rriands an alle sozialistischen Sanierungsvorschläge. Die Erklärung hat denn auch im Lager der Linksparteien die größte Beunruhigung hervorgerufen und bei den Radikalen iDemokratcn) einige Verwirrung zur Folge gehabt. Briand hat sich unzweideutig gegen die programmatische Erklärung der Parteikongresse Nizza und Clermont-Ferranb ausgesprochen. Das Kabinett dürste sich darüber klar sei«, daß eS jetzt nur «och die Wahrheit suche« darf oder kan«, die eS beim Antrag ans Vertagung der Finanzdebatte gesunden hat. (Die Mehrheit mit der Rechten. Die Red.) Der kommende DicnStag dürfte ein entscheidender Tag für das Kabinett Briand und die Neuorientierung der französische» Innen politik werden. Die Radikalen wollen die Kriegserklärung des Kabinetts, der übrigens auch die radikalen Minister -»gestimmt haben, durch die Einbringung einer Interpellation beant worten, deren Ablehnung die Negierung unter Stellung der Vertrauensfrage fordern dürfte. Um die einzelnen Punkte der Erklärung möglichst bald zur praktischen Durch führung zu bringen, hat sich die Negierung entschlossen, die ge planten Maßnahmen in Form von Gesetzentwürfen in aller kürzester Frist vor das Plenum der Kammer zu bringen. Furchtbare Slurmstulkalaslrophe in In-ien. 1200 Menschenopfer. Bang 0 0 «, 3Ü. Mai. Ein heftiger Sturm, -er im Gebiet von Arakan, besonders in der Nähe der Küste «encrdingS ivütcte, hat zahlreiche Todesfälle und große wirtschaftliche Ver luste hcrbcigestthrt. Eine Flutwelle, die in die Flußmünbuug cindrang, ha« die ganze umliegende Gegend überschwemmt. Die Dörfer wurden von den Wassermasscn hinweg, gespült. Bis jetzt sind 1200 Todesfälle gemeldet, je, doch sind die Angaben noch nicht vollständig. Der größte Teil des Viehbestandes ist der Ueberschwcmmung zum Opfer ge» fallen. Täglich lansen Meldungen über Nahrungsmittel« räubereien ein. fWTB.j , ^ Die neue Revolution in Portugal. Rücktritt der Negierung. Paris, 30. Mat. Zahlreiche heute vormittag hier vor. liegende Havasmeldungen über den Aufstand in Portugal besagen, daß dieser ernsterer Natur zu sei« scheint, als man bis jetzt annehmcn konnte. Nachdem der Präsident der Re publik gestern zu Beginn der Bewegung die von dem Mi nisterium angebotenc Demission abgclehnt hattte, hat er sie nunmehr angenommen. Er will jetzt Schritte unternehmen» um ein nationales Ministerium zu bilden. Ucber die Lage selbst verlautet, daß die Ansständischen die Eisenbahnstreckcn in Nordportugal unterbrochen und die Ber, bindnng mit Porto verhindert hätten. Die Infanterie, schule bei Lissabon, die sich den Aufständischen angefchlosse« habe, verfüge über schwere Maschinengewehre und erwarte auch noch Artillerie. Auch die Marineschule am linken Ufer des Tajo sei zu den Aufständischen übergetreteu. Lissabon in -er Gewalt -er Revolutionäre. Paris, SO. Mai. Wie eine Havas-Meldnng a«S Lissabon besagt, haben die Trnppe« von Lissabon «nd Porto sich der Aufstandsbewegung angefchlosse«, die somit de« Charakter einer Volksbewegung angenommen habe. Mau erwartet in Lissabon daS Eintreffen des revolutionäre« A«S« schuf seS, der dem Präsidenten der Republik die Lifte der Mitglieder der neuen Regierung überreiche« wird. Die rep«, blikanischcn Streitkräfte sorgten für die Sicherheit. ES herrsch« Ruhe. Die Bewegung habe sich aus dasganzeLandanS, gedehnt. In einem Interview habe der General, der au der Spitze der Bewegung stehe, erklärt, er wolle eine Mili tärregierung bilden, die jedoch nicht militaristisch sein solle. Auf diese Weise soll vermieden werden, baß die Revolution irgendeiner politischen Partei zugute komme. Die unverzügliche Auflösung des Parlaments sei nach Ansicht d«S betreffenden Generals notwendig, denn die Tätigkeit des Parlaments sei für die Interessen des Landes schädlich ge wesen. (W. T. B.) , IDor -er Einigung im Mossul-Skreik. London, 30. Mai. Reuter meldet ans Konstantinopel: Nach Blättcrmeldungen steht eine Einigung in der Mossulfrage be» vor. Danach würde die Türkei die Brüsseler Linie annehme» «nd einen Neutralitälspakt mit dem Irak abschließen. Ferne« wird gemeldet, daß die Türkei einen Anteil an den Einkünfte« des Pctrolcnmgcblctes erhalten werde. Eine offizielle Mel» düng liegt aber »och nicht vor. jW. T. B.) Der englische Ausnakfmezusland verlöngerl. London, SO. Mai. Angesichts des Bergarbeiterstreiks wnrde der am SO. April erklärte Ausnahmezustand verlängert. Neue Tumulle in Schanghai. Schanghai, 30. Mat. Die Befürchtung, daß anläßlich deS Jahrestages der Tumulte in Schanghai vom Fahre 1026 neue Unruhen entstehen würden, hat sich bestätigt. Einzelne Aus, länder sind vom Pöbel überfallen und geschlagen worden. Di« Volksmenge hat auch mit Steinen Angriffe auf die Straßen bahnen gemacht. Di« Polizei, die äußerste Zurückhaltung be obachtete, war völlig Herr der Lage. Im Laufe des Nachmit» tags wurden einige Vcrhastnngcn vorgcnommen. Es sind auf beiden Seiten keine Schüsse gefallen. Man hofft, baß sich dt« Tumulte ans den heutigen Tag beschränken werden. Nach Meldungen aus Schanghai warfen Streikend« die elektrische» Straßenbahnwagen um und errichteten Barri kaden. Die Polizei mußte von der Waffe Gebrauch machen, wobei mehr als hundert Demonstranten verwundet wurden. Der Direktor der französischen Elcktrizttätsgescllschast rvurdtf in schwer verletztem Zustand ins Krankenhaus gebracht. Aas Marien-mg-Fest unter dem Flaggenftreit. Fernbleiben -er Aechtsverbön-e. Die SSO - Jahr - Feier MarienbnrgS. I Marienburg, 30. Mat. Anläßlich der V50-Jahrfeier am Sonnabend ist die Stadt reich beflaggt. In den Straßen sind Torbogen errichtet, die mit Tannengrün und elektrischen Birnen geschmückt sind. Infolge des bekannten Konfliktes, der in der Beflaggungsfrage zwischen dem 1. Bürgermeister und dem Regierungspräsidenten einerseits und den Vater ländischen Verbänden und den Vertretern von Handel und Handwerk anderseits wegen der auf Anweisung erfolgten Be- fiaggnng in Schwarz-Not-Gold ausgcbrochcn ist, haben diese Korporationen ihre Beteiligung an den Veranstaltungen ab gesagt. Mittags fand im Großen Remter im OrdenSschloffe ein Festakt statt. Zunächst begrüßte 1. Bürgermeister Pawelczik die Gäste mit herzlichen Worten und gab dann einen aus führlichen geschichtlichen Ueberblick über die Ent steh,mg der Marienburg. Hierauf brachte der Redner zum Ausdruck, daß das Henkerbeil von Versailles in unseren Körper geschlagen habe und ein Drittel von ihm abgerissen habe. Maricnburg sei nach wie vor eine Hochburg des Tcutschtums, wie auch der 12. Juli 1020 bewiesen habe. Zum Schlüsse gab der Redner verschiedene Stiftungen bekannt. Schließlich machte der Bürgermeister davon Mitteilung, daß das Wappenschild der alten Stadt den Ausspruch Hiwdcn- LurgS: „Die Treue ist das Mark der Ehre" zum Wnhsspruch erhalten habe. Staatssekretär Dr. Zweigert überbrachte die Grüße und Wünsche des Ehrenbürgers der Stadt Maricnburg, des Reichspräsidenten v. Hindenburg, der Reichs- und preußischen Ctaatobehördcn, die nach Kräften bemüht sein würden, den sich aus der einzigartige» Notlage der Provinz Ostpreußen sich ergebenden Notwendigkeiten gerecht zu werden. — Im Namen der Freien Stabt Danzig sprach Senatspräsident Dr. Sahm. Weiter übermittelten Glückwünsche »u a. der Oberprästdcnt der Provinz Ostpreußen, der Landes- kmnptmann und der Oberbürgermeister von Königsberg. Nach dem Festakt fand im Ordcnshaiis ein Festmahl statt, an dem Uber 200 geladene Gäste tcllnahmen- Reichspräsident v. Hindenburg richtete an Obcrbürger- mcistcr Pawelczik folgendes Telegramm: „Zur heutigen 850-Jahrscicr der Stabt Marienburg und zum Jubiläum des b7!»jährigeri Bestehens ber Schützengtlde. sende ich freund- liche Grüße und den Ausdruck meines herzlichen Ge- bcnkcns. Möge die der Erinnerung an die große Ber- oangciihctt der Stadt geweihte Feier die Herzen der Deut schen im Osten unseres Vaterlandes mit neuem Vertrauen auf die Zukunft und mit dem Geist der Einigkeit erfüllen, t« unS allen notlut." Son-erfeier mit Ven Rechtsverbän-en. Die 650-Jahrfcier der Stadt hatte im Grunde genommen schon am Sonnabend durch den Flaggenftreit ihr vor zeitiges Ende gesunden. Der Sonntag stand im Zeichen der Maricnburger Schützen gilbe, die die älteste Deutsch lands ist und ihr 075. Stiftungsfest beging. Zur Feier dieses denkwürdigen Tages hatte sic der Stadt einen Brunnen ge stiftet, der neben dem Rathausc Aufstellung fand und am Vor mittag feierlich eingcwciht wurde. Sämtliche «ationalc« Verbände und Vereine, die dem Sonnabendprogramm fcrngebliebe« waren, hatte« sich an dieser Einweihung beteiligt. Ein ungeheuerer Zug von Innungen, Vereinen «nd Schützen- gilben füllte den Platz vor dem Rathaus«. Auch Bogen schützen in historischer Tracht nahmen vor dem Brunnen, der einen mittelalterlichen Armbrustschützen trägt, Aufstellung. Berittene in Ordcnsrtttergewand kamen dann augesprengt. Ihr Führer sprach einen Prolog, der starken Beifall auslöste. Der Festredner wieS auf die Entstehung der Schützengtlde hin, die zur Wehrhaftmachuna der Bürgerschaft gegründet worden sei, gab einen Rückblick auf ihr Wirken und gedachte ihres Ehrenpräsidenten, des Reichspräsidenten v. Hinden burg. Oberbürgermeister Pawelcyk. der nach alter Tradition zugleich Präsident der Gilde ist, erwiderte im Namen der Stadt und nahm den Brunnen für die Bürger schaft an. Regierungspräsident Büdding, Marienwcrder, übcrbrachte der Gilde die Glückwünsche der Regierung. Gegen 1 Uhr mittags fand die wohlgclungene Veranstaltung ihr Ende. Am Sonntagmorgcn halt« das historisch« Turmblascn stattgefunben. In allen Kirche» wurde während d«S Gottes dienstes der 650-Jahrfetcr gedacht. Im übrigen waren die Veranstaltungen des Tages lediglich von gesellschaftlichem Charakter. Das große Trachtenfest, zu dem die Bürgerschaft «nd insbesondere die Handwerker kostspielige Vorbereitungen getroffen hatten, fiel endgültig ans. Statt dessen fand im Schtttzenhause ein Gartenfest statt. Am Abend ivaren wie tags zuvor schon die große» Bcgrüß»"»Sbögcn prächtig illuminiert. Die Trauer über das durch den Flaggenftreit verdorbene Fest war allgemein. Der Ostbund hatte den offiziellen Teil seiner Tagung schon gestern beschlossen. Am Sonntag betei ligten sich die Mitglieder nur an den Veranstaltungen ber Schützengtlde. Die Flag-cnsrage wird innerhalb der Stadt verwaltung ein bedeutsames Nachspiel haben. Die Stellung des Oberbürgermeisters gilt als erschüttert. Daß die preu ßische Negierung bet den Feierlichkeiten nicht durch einen Minister vertreten war, hat trotz des Entschuldtgnngstcle- grammS, das der Ministerpräsident.Vraun gesandt hatte, stark verstimmt, .. ,