Volltext Seite (XML)
Komponist im Verlauf seiner künstlerischen Entwicklung eine bemerkenswerte sti listische Wandlungsfähigkeit bewiesen. Aus seiner bisherigen Werkliste sind u. a. zu nennen: Kleines Orchesterkonzert (1963), die Opern „Lazarillo von Tormes" (1964) und „Der letzte Schuß" (1967), Inventionen für Orchester (1964), „Tum tua res agitur" (13 Variationen für 15 In strumente und Schlagzeug, 1965), „Das Manifest" für Soli, Chor und Orchester (1965), Kammermusik 65 (1965), „Galilei" für Singstimme, 5 Instrumente und elektronische Klänge, Violinkonzert (1968), „Dresdner Sinfonie" (1969), „Kantate von den Beiden" (1969). Letzteres Werk wurde im Auftrag der Dresdner Philhar monie anläßlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR geschaffen. Mit seinem Violinkonzert, das Siegfried Matthus für Manfred Scherzer und die Dresdner Philharmonie geschrieben hat - unter Kurt Masurs Leitung brachten diese Interpreten das Werk anläßlich der Biennale 1969 in Berlin über aus erfolgreich zur Uraufführung —, setzte der Komponist einen Weg fort, der bisher vor allem von seinem „Kleinen Orchesterkonzert" markiert worden ist: eine Methode, die für ihn charakteristische Tonsprache durch das Licht der Heiterkeit und des Humors wirken zu lassen. Das bedingt bei ihm plastische Themen und Motive, deren Verständlichkeit durch wirkungsvolle Instrumentation unterstützt wird. Im Violinkonzert geht Matthus noch einen Schritt weiter; er läßt seinen Stil gewissermaßen durch das Prisma klassischer Formmodelle gebrochen erscheinen. Die einzelnen Sätze des Violinkonzerts tragen folgende Überschriften: I. Allegro, II. Thema mit Variationen, III. Rezitativ — Kadenz, IV. Andante, V. Rondo. Der erste Satz beruht auf dem Prinzip des klassischen Sonatenhauptsatzes. Er beginnt mit wenigen Takten Orchester-Einleitung und einer Solokadenz, in de ren Verlauf sich das erste Thema des Satzes nach und nach herausbildet, um dann, über einer rhythmisch variablen Begleitung, in voller Gestalt zu erschei nen. Unter dem zweiten, liedhafteren Thema liegt eine walzerartig wiegende Begleitfigur. Dieser Abschnitt wird, nach einer Durchführung beider Themen, fast wörtlich wiederholt. Der Variationenzyklus des zweiten Satzes hat ein menuettartiges Thema zum Ausgangspunkt. Die einzelnen Variationen sind durch das Vorherrschen je eines obligaten Orchesterinstruments voneinander abgehoben und übernehmen die Schlußformel des Themas jedesmal unverändert. Der dritte Satz hebt mit einer „Rezitativ" betitelten quasi-lmprovisation des Soli sten an - der Geiger „übt". Die Improvisation verfestigt sich zu einer anspruchs vollen Solokadenz, die mit großer Geste einsetzt und sich allmählich in leichte Heiterkeit auflichtet. In parodistischer Weise gerät der Solist unversehens in das „Fahrwasser" zweier berühmter Violinkonzerte, der von Mendelssohn und Tschaikowski. Der vierte Satz huldigt dem traditionellen dreiteiligen Aufbau nach dem Schema A - B - A. Der A-Teil wird vom Solisten beherrscht, der zu einer einfachen Be gleitfigur ein weitgespannt-melodisches Thema vorträgt. Im Mittelteil wird das thematische Geschehen im wesentlichen vom Cello bestimmt, während der Solist sich auf eine kontrapunklierende Funktion beschränkt. Der fünfte und letzte Satz heißt „Rondo", bezieht aber Elemente des klassischen Sonatenhauptsatzes mit ein. Er ruht wiederum auf zwei Themen. Diese werden dreimal im Komplex dargeboten, dazwischen hat Matthus zwei Durchführungs teile geschaltet. Vor dem letzten Erscheinen des verkürzten Themenkomplexes hat der Solist noch einmal Gelegenheit zu einer virtuosen Kadenz. über das sinfonische Schaffen des großen russischen Komponisten Peter Tschaikowski äußerte Dmitri Schostakowitsch einmal: „Tschaikowski fügt zur philosophischen Verinnerlichung in der sinfonischen Musik Beethovens jene leidenschaftliche lyrische Aussage der verborgensten menschlichen Gefühle, die die Sinfonie, dieses komplizierteste Formgebilde der Musik, der breiten Masse des Volkes zugänglich macht und nahebringt." Und tatsächlich haben gerade die Sinfonien Tschaikowskis - ganz besonders seine 5. und 6. Sinfonie, die Gip felwerke der Sinfonik überhaupt darstellen — eine Popularität wie wenige ande re Werke dieser Gattung erreicht und entscheidend dazu beigetragen, den Na men ihres Schöpfers, der daneben vor allem durch seine Opern „Eugen Onegin" und „Pique Dame", seine Ballette „Schwanensee", „Dornröschen" und „Der Nuß knacker", seine sinfonischen Dichtungen, seine Klavierkonzerte, sein Violinkon zert und seine Kammermusikwerke internationalen Ruhm errang, in aller Welt berühmt zu machen. Das gesamte, äußerst vielseitige Werk Tschaikowskis ist durchdrungen von der tiefen Verwurzelung in der Volksmusik seiner russischen Heimat, gleichzeitig aber stets überaus eng mit dem Leben und Erleben des Komponisten verknüpft. Tschaikowskis 5. Sinfonie e-Moll op. 64 entstand im Sommer 1888 und wurde noch im gleichen Jahre unter der Leitung des Komponisten in Petersburg uraufgeführt, über ein Jahrzehnt war seit der Vollendung seiner 4. Sinfonie, der die 5. in der kompositorischen Anlage wie in ihrem Ideengehalt verwandt ist, vergangen. Nur zögernd begann er, von erfolgreichen Gastreisen im Ausland in den Jahren 1887/88 zurückgekehrt, mit der neuen Arbeit. „Ich bin nun endlich dabei, aus meinem stumpf gewordenen Hirn schwerfällig eine Sinfonie herauszu quetschen", äußerte er in dieser Zeit. Dennoch beendete Tschaikowski das Werk schließlich weit eher, als er gedacht hatte. Aber gerade bei dieser Sinfonie ka men dem sehr selbstkritischen Komponisten immer wieder Zweifel; sie schwankte außerordentlich in seiner eigenen Einschätzung. So schrieb er noch kurz nach der Uraufführung: „Nachdem ich nun meine neue Sinfonie zweimal in Petersburg und einmal in Prag gespielt habe, habe ich die Überzeugung gewonnen, daß sie kein Erfolgswerk ist. Sie enthält etwas Abstoßendes, ein Übermaß an Farbigkeit und Unechtheit, etwas Gewolltes, was das Publikum instinktiv erkennt . . . Bin ich denn wirklich ausgeschrieben, wie die Leute sagen?" Wie sehr Tschaikowski sich mit diesen Zweifeln an dem bleibenden Erfolg seiner 5. Sinfonie irrte, ist längst erwiesen. Dieses Werk, dessen Programm ähnlich wie in Beethovens 5. Sinfonie die Überwindung des Schicksals, des Zweifels und der Dunkelheit durch Daseins freude und Zukunftslicht bildet, hat seine starke, unmittelbare Wirkung auf die Hörer bis heute immer wieder unter Beweis gestellt. Mit einer langsamen, dunklen Einleitung, deren Thema das Grundthema der Sinfonie, ein in allen Sätzen wiederkehrendes Schicksalsmotiv, darstellt, beginnt der erste Satz. Ein schnelles, rhythmisch-erregtes Thema, immer mehr gesteigert, folgt. „Zweifel, Klagen, Verwürfe" schrieb der Komponist neben die Skizze dieses Themas. Es kommt zu einer dramatischen Durchführung — dann endet der Satz düster resignierend, verlöschend im Pianissimo der tiefen Streicher, der Fagotte und der Pauke. — Im zweiten Satz, dem berühmten Andante cantabile, erklingt eine schwärmerische, lyrische Hornmelodie voller Sehnen und Glücksempfinden. Obwohl auch hier wieder zweimal die mahnende Stimme des düsteren Grund themas drohend eindringt, dominiert doch in diesem Satz das angedeutete Bild einer lichten Welt. — Ein rauschender, langsamer Walzer erscheint im dritten Satz, in dem freilich auch das dunkle Schicksalsmotiv wieder auftritt, an der Stelle des sonst üblichen Scherzos. — Doch das Finale bringt in seiner Wendung vom Moll zu strahlendem E-Dur, in der Veränderung des Schicksalsthemas in einen heroischen Marsch schließlich Triumph und Sieg — die Überwindung der dunklen Mächte. Nach volkstümlichen russischen Tanzepisoden im Hauptteil dieses Satzes wird das Werk in überschäumendem Jubel und Festesfreude beschlossen. Programmblätter der Dresdner Philharmonie — Spielzeit 1971/72 — Chefdirigent: Kurt Masut Redaktion: Dr. habil. Dieter Hartwig Die Einführung in das Violinkonzert von Siegfried Matthus stammt von Klaus Kleinschmidt Druck: veb polydruck, Werk 3 Pirna - 111-25-12 3 ItG 009-87-71 »HIHarnnoni 1. PHILHARMONISCHES KONZERT 1971/72