Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021112028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902111202
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902111202
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-11
- Tag 1902-11-12
-
Monat
1902-11
-
Jahr
1902
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis W der Hauptexpedttioo oder de« Im Stadt» bezirk «ad den Vororten errichtete« Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich 4.50, — zweimaliger täglicher Zustellung toS Haut ^l k.ky. Durch die Post bezogen für Deutschland «. Oesterreich vierteljährlichS, für die übrige« Länder laut Zeitung-Preisliste. LeLaktion und Expedition: dlvb««»t-gasse 8. Fernsprecher l5S «ad S22. FMalrvpr-Mopri»: Alfred Hahn, vuchhaadlg., NutversttStSstr.S,' L. Löschs Kathartvuftr. Ich u. Küutg-pl. 7. Haupt-Filiale Dresden: Etrehlener Straße S. Fernsprecher Amt I Nr. 1718, Haupt-Filiale Lerlin: A-atggrätzer Straße 11-, Fernsprecher Amt VI Nr. SS SS. Abend-Ausgabe. UcipMer TllljMM Anzeiger. Ämtsklatl des Königkichen Land- und des königlichen Äinlsgerichtes Leipzig, -es Nates und des Nalizei-Äintes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Preis die ögespaltene Petitzeile 25 H. Reklamen unter dem RcdaktlonSstrlch (4gespalten) 7V vor den Familirnnach- richte« («gespalten) LO H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühre« für Nachweisungen und Osfertenannohme SS (excl. Porto). EM'' Extra »Beilagen (gefalzt), ««r mit de, Morgen-Ausgabe, ohne Poftbesörderung «0.—, mit Postbesörderung 70.—» Itunahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittag- 10 Uhr. Morgei-Au-gaber Nachmittag- 4 Uhr. Anzeige« sind stet- a« die Expedition >» richte«. Die Expedition ist wochentags uauaterbroche» geöffnet vo« früh 8 bi- abend- 7 Uhr. Druck und Verlag vo« L. Polz t« Leipzig. 88. Jahrgang. Mittwoch den 12. November 1902. politische Tagesschau. * Leipzig, 12. November. Aus dem Reichstage. Der jämmerliche Ausgang der vorgestrigen Sitzung des Reichstages hatte gestern wenigstens die gute Folge, daß das Hans von Anfang an beschlußfähig war und bis zur Vertagung beschlußfähig blieb. Dabet ist freilich zu berücksichtigen, daß die äußerste Linke wie auf Verab redung gestern keine ausgesprochene Obstruktion trieb und mitsttmmte. Sie hielt auch weder Dauerreden, noch suchte sie sonst viel zu stören und aufzuhaltcn. Diese Mittel werden vermutlich aufgcspart, bis die Mitglieder der Mehrheit, sorglos gemacht, großenteils wieder abgcrcist sein werden. In Lieser Berechnung wird sich die Zoll opposition, der alles in die Hände arbeitet, auch schwer lich täuschen, denn nur die schwerste Blamage, wie sie der Reichstag vorgestern erlebte, scheint einen erheblichen Teil der Mehrheit, die das Spiel so tapfer mit dem AuS- spielen der Kommifsivnsbeschlüsse begonnen hat, vorüber gehend zur wirklichen Ausübung seiner Pflicht bringen zu können. Nach den Kommissionsbeschlüssen wurde gestern der Rest Lps 8 6 des ZvlltarifgcsetzeS und das folgende bis zum 88 angenommen. Die Opposition beantragte Zollfreiheit für die im Tarife nicht enthaltenen Waren und die Streichung oder Beschränkung der von der Kom- mission in 8 7a eingcführten allgemeinen Ursprungszcug- nisse. In dem letzteren Punkte wurden die Anträge der Linken auch vorn Bundeöratstischc aus — «. a. vom han seatischen Vertreter Or. Klügmann — befürwortet. Die Kompromißmehrheit nahm aber auch hier die Korn- missionsvorlage an. Nachdem über den die Retorsions maßregeln enthaltenden 8 8 zwei Redner der Opposition iPa ch nicke und Stadthagens gesprochen hatten, wurde die Beratung vertagt, und zwar entgegen dem Ver suche der äußersten Linken, einen Schwerinstag zwischen die Zolltarifberatungcn zu schieben, auf heute. Die kurze Debatte, die dieser Versuch hcrvorrief, war wohl nur ein unbedeutendes Vorspiel der großen Geschäftsordnungs debatte, die jedenfalls am Schluffe der heutigen Sitzung sich darüber entspinnen wird, ob für den Donnerstag der Antrag Atchbichler auf die Tagesordnung gesetzt werden soll. Parlamentarismus und Sozialdemokratie. Je klarer es ist, daß die gegenwärtig von -er Sozial demokratie getriebene Obstruktion auf das gröblichste gegen das demokratische und parlamentarische Prinzip ver stößt, um so mehr bemüht sich die Sozialdemokratie, Schein gründe zur Rechtfertigung ihres Verfahrens ausfindig zu machen. Dahin gehört vor allem die Fiktion, o«ß die agrarische Reichstagsmehrheit keine rechtmäßige sei. „Nur durch die schreiende Ungerechtigkeit' — so schreibt die „Sächsische Arbeiterzeitung" — „einer verfassungswidrigen Wahlkreiseinteilung haben die Agrarier die Gewalt in Händen. Das Recht ist bei uns!" — Bei dieser Art der Beweis führung ist selbst vom svz-nldcmokratischcn Standpunkte aus vollständig übersehen, oaß es im Reichstage nicht bloß eine einzige Mehrheit, die agrarische, gibt, sondern daß I die Bildung verschiedener Mehrheiten möglich I ist und daß auch die Sozialdemokratie deshalb Bestandteil j einer Mehrheit werden kann und geworden ist. Trat der letztere Fall ein, dann dachte die Sozialdemokratie nicht im geringsten daran, im Hinblick auf die „verfassungs widrige WahlkreiSeinteiluug" jene Mehrheit eine solche der „Gewalt", nicht deS „Rechts", zu nennen. Es sei nur an die sogenannte Zuchthansvorlagc erinnert, deren „Verscharrung" der „Vorwärts" seinerzeit unter anderem wie folgt kommentiert hat: „Nach der ersten Lesung des ZuchthauSgesctzcs schrieben wir, eine so schimpf liche Niederlage habe noch keine Regierung erlitten. Wir konnten damals nicht ahnen, daß die Niederlage der ersten Lesung durch die der zweiten noch ivcit, weit werde über troffen werden. Ungefähr gleichzeitig mit der zer schmetternden Niederlage, die die Regierung im Kampfe für dieses von ihm persönlich befürwortete (besetz erlitten hat, ist der Kaiser in England gelandet. Die erste Nach richt, die er auf englischem Boden erhielt, war die Nach richt dieser Niederlage. In England, dem Mutter- und Mnsterlande des Parlamentarismus, wird deren Be deutung und Tragweite begriffen werden. Und in Eng land hat man für die Tatsache Verständnis, daß die deutsche Regierung zu der Ungeheuern Mehrheit des deutschen Volkes im schärfsten Gegensätze steht." — Es war der selbe NcichStag, wic dcr jctzt vcrsammelte, den das sozialdemokratische Zcntralorgan ohne Ein schränkung als Vertretung der ungeheuren Mehrheit des deutschen Boltes bezeichnete, weil die sozialdemokratische Fraktion einen Bestandteil der damaligen Neichstags- mchrheit bildete. Der gleichzeitige Hinweis ans England als das Musterland des Parlamentarismus beweist, wie eifrig die Sozialdemokratie das parlamentarische Prinzip verwertet, wenn die sozialdemokratische Partei dabei profi tiert. Heute verhöhnt die Sozialdemokratie das parlamen tarische Prinzip, sowohl vermittels der Obstruktion, wie auch dadurch, daß sie der agrarischen Mehrheit den Elza- raktcr einer rechtmäßigen Majorität abspricht. Die sozial demokratische Grundsatzlosigkeit erfährt durch dieses Vorgehen die hellste Beleuchtung. Frankreich und Siam. Gestern ist in Paris ein Gelbbnch über die Beziehungen Frankreichs zu Siam aus gegeben worden. Dasselbe bringt den Tert der Kon vention von 1803 und die Schwierigkeiten in Erinnerung, denen das Uebereinkommen vom 7. Oktober 1902 ein Ende zu machen bezweckt. Das Gelbbuch berichtet, im Jahre 1893 habe die siamesische Regierung auf jede der von Frankreich erhobenen Forderungen erwidert, daß die selben unbegründet seien und der Vertrag von 1893 Liam nicht verpflichte, denselben zu entsprechen. Im April 1899 habe der Gencralgouverneur von Jndvchina, Dvuiner, dem König von Siam aufs neue die zur Wiederherstellung der Beziehungen zwischen beiden Ländern geeigneten Mittel vorgestellt. Das vom Könige gezeigte Entgegen kommen sei aber in seinen dem siamesischen Vertreter in Paris erteilten Anweisungen nicht bestätigt worden. Als de France den Auftrag erhalten habe, auf den von Donmer «»gezeigten Grundlagen in Bangkok zu verhandeln, habe die siamesische Regierung sich ge weigert, in eine Besprechung einzutreten, bevor Tschautabon nicht geräumt sei. Am -0. Februar 1901 seien die Verhandlungen abgebrochen und erst im Sep tember 1901 durch den französischen Ministerresidenten Klvbukowski wieder ausgenommen worden. Seine Jn- I struktionen schrieben ihm vor, die Frage des Protektorats > auf der Grundlage des englisch-siamesischen Vertrages von 1 1899 zu regeln, und wiesen darauf hin, daß die Räumung von Tschantabon eine Gebietsabtretung unvermeidbar mache, um einen Ausgleich für diese Räumung zu geben. Bet seiner Ankunft in Bangkok habe Klobu- kowstt eine schwierige Lage vorgefunden. Fremde Einflüsse hätten sich geltend gemacht und er habe vor- ansgesehcn, daß Frankreich in seinem Einflußgebiet in Jndvchina bald zahlreichen Schwierigkeiten begegnen werde. Ans nenc Anweisungen vom Minister Delcassö hin habe Klvbnkowski am 15. Januar 1901 erklärt, Frank reich betrachte cs als. einen unfreundschaftlichcn Akt, daß Fremden die Erlangung von Konzessionen für gemein nützige Unternehmungen im Mekonggcbiet, die ein Mittel zur Erreichung von Einfluß abgebcn könnten, erleichtert werde. Es sei daher notwendig geworden, eine Frage zum Abschluß zu bringen, in der jeder Zeitverlust Frank reich schaden mußte. Diese Besorgnisse seien es gewesen, die den Anlaß zn dem Abkommen vom 7. Oktober 1902 ge geben hätten. „Japan für die Japaner": ein Hindernis der industriellen Entwickelung Japans. Aus Tokio, 12. Oktober, schreibt man uns: Da Japan zur Erschließung seiner noch unbenutzten HülfS- gnellcn nicht nur wie jedes neue Land fremden Kapitals, sondern auch geschäftlicher Anleitung und Unterstützung bedarf, so ergibt sich als rationellste Form für große Unternehmungen in Japan die B e r g e s e l l s ch a f tu n g f r c m d c r n n d j a p a n i s ch e r K a p t t a l i st e n. Die Rcchtsformen, die äußere Repräsentation, die Reklame und die Buchführung müssen natürlich japanisch sein: aber unter den Aktionären und im Aufsichtsrate können Fremde durch Geschäftssinn und gesunden Menschen verstand dem Unternehmen noch mehr nütze», als durch ihre Kapitalseinzahlungen. Bis jetzt sind aber nnr wenige solcher gemischten Gründungen geglückt, so lange Japaner die Majorität der Aktien besitzen. Von vier Brauereien si:?d nur zw^^ien-wyn Ebn«, auch erst nach lange? Wirrnissen- mkrativ geworden: eine japanisch-amerika nische Uhrenfabrik in Osaka ist eingegangen. Dagegen wurden die gefährlichsten Mißgriffe und Hinterziehungen vermieden, wenn die fremde Hand das Steuer führte. So bat eS die von Amerikanern finanzierte Eigarettenfabrik von Gebrüder Murat, G. m. b. H., zu einem riesigen Betriebe gebracht, nnd die Petroleum gewinnung in der Provinz Etschigv wird rationell be trieben, weil die Standard Oil Eompany die Mehrzahl der Aktien gekauft bat. Diese Erfahrung wollten sich amerikanische Kapitalisten zu nutze machen, um in Japan sichere nnd gewinnbringende Anlagen zu machen. Ein amerikanischer Jurist, der viele Jahre in Japan gewirkt hatte, ist bereits ein Spezialist für den Abschluß solcher Gcscllschaftsvcrträge geworden. Im letzten Sommer hat er für einen Herrn Bradl) Abkommen mit Gasgefell- schastcn getroffen, die einer großen Kapitalsvermehrung bedurften. Die Methode ist sehr einfach: Bradn zahlt so viel bar ein, wie das gesamte Aktienkapital der Gesellschaft nach dem Börsenknrszcttel repräsentiert, erhält aber nur so viel Aktien, wie alle bisherigen Aktionäre zusammen. Da bei jeder Aktionärsversammlung einige Aktien un vertreten bleiben, ist ihm ans diese Weise die Majorität gc- I sichert. Nach Abschluß des Vertrages erhob sich aber eine I vom Bürgermeister von Osaka, Touruhara, geleitete I Opposition dagegen. Ihr Hauptargument hat sie folgender maßen formuliert: „Wenn man bedenkt, daß der größere Teil des Gewinnes, den die Gesellschaft macht, von Fremden davongetragen wird, so ist es für Japaner un möglich, schweigend zuznsehen und die Hand in der Tasche zu behalten." Also immer wieder das chauvi nistische Argument: Japan für die Japaner. Aber wie kann man der Kompagnie bei kommen, die eine Charter für 99 Jahre hat'? Ganz ein fach: die Munizipalität verlangt, daß die (Gesellschaft schon nach 25 Jahren ihr Geschäft an die Stadt zu einem nach deni Durchschnitt der Einnahmen in den letzten drei Jahren zu fixierenden Preise verkauft, daß sie der Stadt das GaS billiger liefert, einen kleinen Prozentsatz der Bruttoeinnahmen und einen größeren des Nettogewinnes an die Stadtkassc abführt usw. Forderungen, die ganz unverschämt wären, wenn es nicht japanische Praxis wäre, mit sich handeln zn lassen. Wenn die Gasgesellschasi auf ihrem Scheine beharrt, so droht die Stadtverwaltung, eine eigene Gasanstalt zu bauen und in dem Konkurrenz kämpfe an den Patriotismus der Bürger zu appellieren. Ob das nach dem Wortlaute -er Charter überhaupt gebt, werden im äußersten Falle erst die Gerichte zu entscheiden haben. Einstweilen wird diese Erfahrung Herrn Brad» abschrcckcn, mit den Gasgcsellschafteu von Kioto und Tokio die fast vollendeten Verhandlungen weiterzufüürcn. Ta sonst das Kapital so schnell nicht beschafft werden kann, »«erden die drei größten Städte Japans noch längere Zeit so schlecht beleuchtet bleiben, wie sie es sind. Aber auch andere Kapitalisten werden sich abschrecken lassen, in Japan Anlagegelegenheit zu suchen. Die geplante elek trische Dahn von Osaka nach Kobe z. B. wird deshalb auf gegeben werden müssen. Deutsches Reich. Leipzig, 12. November. (Ein sozialdemokratisches Königshoch!) Grimmigen Holm gießt die sozialdemo- kratis! ' (5^'inniyir „Volksstiiume" über die sozial demokratischen Mitglieder des Vorstandes der Leipziger Ortskrankenkasse aus, weil diese beim Be suche des König- sich an der dem Monarchen dar gebrachten Ovation beteiligt habe«. Wenn der König die Kasseneinrichtungen kennen lernen wollte, hatten ibn unsere Genossen selbstverständlich böslich zu empfangen. Aber ebenso selbstverständlich hätte eS sein müssen, daß sie jede Art von monarchischer Kundgebung unterlassen hätten. Sie hätten rund erklären müssen, daß sie nicht mitmachen würden. Sie haben aber mitqemacht und haben Hoch gerufen. Sie sind nicht etwa durch eine unvermutete Ovation überrascht worden, sondern sie haben vorher darüber gesprochen, waS sie tun sollte«. Sie haben nicht die Courage gekabt, so zu bandeln, wie es ihnen ibresozialdemokratischen Ansichten zur Pflicht machte». Daß daS im revolutio nären Leipzig passieren mußte, wirkt fast komisch bei der Sache. Auch die Leipziger „Volksztg." erteilt den .vier von den zwölf Arbeitervertretern im Vorstande der Leipziger Orts krankenkasse", welche sich einer solchen Beleidigung der Majestät des sozialdemokratischen Prinzips schuldig gemacht haben, eine scharfe Rüge. Wenn sie sich auch dagegen verwahrten, „Hoch!" gerufen zu haben, so hätten sie doch lieber ihrem ge- Feuilleton. Das Findelkind. Roman von Ernst Georg y. Nachdruck verboten. Eins war ihr klar: für die Rolle eines alleinstehenden, erwerbenden Mädchens taugte Ernas auffallende Er scheinung gar nicht. Die brave Deutsche nahm sich vor, der Schutzlosen treu und freundschaftlich zur Leite zu stehen. Langsam durchschritten sie die Rue Lafsittc und bestiegen auf dem Boulevard des Italiens einen Omnibus, der sie bis zur Place St. Michel brachte. Von dort wanderten sic wieder den von Studenten bevölkerten, gleichnamigen Boulevard hirrunter. Hier übernahm Erna, die mit der Gegend besser vertraut war, die Führung. Bei der Rue l'Abbö bogen sie in den Luxembourg-Ekrtcn ein und ver ließen ihn erst am Ende der Avenue du Luxembourg, nm in die Straße Notre Dame des Champs zu schreiten. Wie bekannt dem jungen Mädchen dieses Fleckchen war! Tic Erinnerung an die Zeit, wo sie noch so glücklich und übermütig gewesen, fiel ihr wieder ein. Hier war sie mit den beiden Künstlern gegangen, hier hatte sie in unnah barem Hochmut die huldigenden Blicke aus des inter essanten Bildhauers Augen hingenvmmen. Damals war sic wie eine Königin über diese Berufsmcnschcu binweg- gcgangcn, heute wollte sic dieselben, einst übersehenen jungen Männer nm Rat und Hülfe «»gehen. „Sehen Sie, Fräulein Maria, da, wo die vielen Bäume sind und das rote Gebäude aus dem Laub hcrvvrlcuchtct, da ist die Akademie. In zwei Minuten sind wir dort, und fiir den Heimweg nehme ich einen Fiaker!" „Nnr nicht so verschwenderisch sein!" Erna lächelte trübe: „Sie halten mich ja für so reich! Uebcr kurz oder lang finde ich doch Arbeit, und da kommt es auf ein Paar Franc- mehr oder weniger nicht an." Die andere schüttelte den Kopf, aber sie entgegnete nichts. Sic wußte, daß sich die Gewohnheiten einer reichen, verwöhnten Dame nicht von einer Woche zur andern um- nrodeln lagen. Das konnte nur nach und nach geschehen. In -wei, drei Monaten wollte sie ihr schon das Sparen bei-ebracht haben. Sie traten jetzt in da- Gelände der Künstler-Kolonie ein. Erna wandelte ein sonderbares Gefühl au. Sie be kam Herzklopfen und eine fieberhafte Unruhe befiel sie. Die Minuten sielen ihr ein, wo sie in jenem Atelier hänschen da, von dem Anblick der „Kain und Abel"-Gruppe überwältigt, ihrem Schöpfer die Hände gereicht. „Ein zu netter Anblick! Kind, werden Sic sich denn unter den vielen Baracken zurecht finden?" meinte die Klavierlehrerin nnd sah sich voller Interesse nm. „Hier sind wir bereits angelangt!" erwiderte Erna. „Ich erkenne das Hänschen und die Baumgruppc daneben wieder. An der Tür neben der Tafel müssen die Visiten karten befestigt sein." „Karten'? Hier ist nur eine!" Erna beugte sich erschreckt nieder. „Rose Marie Tobß-rt Orleans" las sie und wurde seyr bleich. „Eine Dame! Also sind die Herren fortgezvgcn!" „Sehen wir uns erst weiter um. Sie könne» sich doch irren!" beschwichtigte Fräulein Tonstark, denn Erna blickte mit starren Augen enttäuscht ins Weite. „Ich irre mich nicht!" antwortete sie. „Dies Haus war cs bestimmt. Jedenfalls kann ich mich ja erkundigen!" Mit leicht zitternder Hand zog sic die kleine, blechern klingende Glocke. Einige Minuten verstrichen. Dann hörte man schlurfende Schritte. Die große Pforte wurde mühsam aufgeschobcn. Eine kleine, verwachsene Fraueugestalt mit einem verhungert und verkümmert dreinschaneuden Ge sicht erschien im vollen Tageslicht. Sie erschrak über die unverhofften Besucherinnen. Ernas Kleidung fiel ihr so fort auf. Leise fragte sie auf Französisch nach dem Begehr. Fräulein Bolmann, welche die Sprache fertig beherrschte, antwortete ihr: „Verzeihen Sie, Mademoiselle TobLrt, wenn wir Sie in Ihrer Arbeit stören; aber wir möchten uns nach zwei jungen, deutschen Künstlern erkundigen, die hier noch im Sommer des letzten Jahres ihr Atelier hatten." „Ah, Sic sprechen von Monsieur Vvllricd und Monsieur Antok?" rief die Gefragte lebhaft und wurde sofort freundlich. „Das sind zwei liebe Burschen! Ja, sie waren bis zum ersten Januar hier. Ich zog nach ihnen ein. Der Maler hat sich ein größeres Atelier auf dem Montmartre genommen. Er hat sein Bild „Hexensabbat" verkauft. Wie der Junge glücklich war! Unglaublich! Ein gutes Herz!" „Und wissen Sie vielleicht, wo Herr Antok jetzt wohnt?" unterbrach Erna sie. Die Malerin blickte sie unverwandt an. „Antok mußte in Erbschaftsangelegenheiteu plötzlich nach Rußland. Er wollte im April wieder hier sein und auch ein großes Atelier auf dem Montmartre nehmen. Alles zieht sich nach dort! Alles! Traurig! Antok ist ein Genie. Er wird die große goldene Medaille bekommen, sagt man! — Made moiselle!" rief sie plötzlich, „jetzt weiß ich, wo ich Sic ge sehen habe! Hier, bei Antok. Er hat Ihren Kopf mo delliert. O, sprechend ähnlich, — cs ist sprechend, nicht wahr? Sie kann man nicht verkennen, — schön, schön!" Erna war errötet: „Ich habe Herrn Antok nie ge festen!" erwiderte sic zaghaft. „Tann hat er Sic aus dem Kopf gearbeitet, — ohne Modell, nur nach der Erinnerung und so frappant! Tz, tz, das kann nnr er! Ein Genie!" Eine heiße Freude wallte in dem jungen Mädchen auf und verschwand ebenso schnell. Die Kunde, daß der Bild hauer sic aus dem Gedächtnis getroffen, beunruhigte und erfreute sie zugleich. „Wo können wir wohl die genaue Adresse der beiden Herren erfahren?" mischte sich jetzt das praktische Fräulein Tonstark ein. Die Malerin sann nach: „Ich weih es wirklich nicht recht; aber ich denke sicher, in der Pension Fleur», drei Häuser weiter «ach rechts. Oder noch besser, im Bureau des „Salon", auf der Polizei. In Paris können doch nicht zwei so bekannte Männer verschwinden!" „Dann gehen wir halt gleich zu Fleurys, oder wie die Leute heißen!" schlug Fräulein Tonstark vor. „Um keinen Preis der Welt!" rief Erna entsetzt. Die Vorsteherin kam mit der Marquise Charbart zusammen, hatte sie selbst in ihrem Glanze gekannt. Für jene Menschen mußte sie verschwunden, für immer vergessen sein! Sic hätte ihre fragenden oder mitleidigen Blicke nicht ertragen. „Ich bin eine unaufmerksame Wirtin", sagte Fräulein Tobört und eilte fort. Nach einigen Sekunden brachte sie eine Bank angcschlcppt und trug auch noch einen Stuhl herbei. „Die Damen sind müde und müssen sich ausruhcn. Bitte! Drinnen riecht es nach Farben und Terpentin, hier ist die Luft klar. Ruhen Sie ein wenig aus!" „Gern, ich spüre meine Füße kaum noch!" Mit diesen Worten ließ die Klavierlehrerin sich nieder. Auch Erna folgte ihrem Beispiel! Eine Unterhaltung entspann sich. Die kleine Französin rutschte unruhig hin und her. Sie weidete sich an Ernas Liebreiz und studierte die Licht- rcflerc, welche die Sonne auf den goldenen Haaren hervor brachte. Endlich sprang sic auf: „Mein Gott, mein Gott", stieß sie hervor, „wenn ich das könnte, dürfte; aber ich wage es ja gar nicht!" „Was denn, Mademoiselle?" „Wenn ich Sic bitten dürfte, mir drei, — nur drei, — oder zwei, — eine Sitzung zu gewähren, um Ihre Haare zu malen! Ich habe da eine Dryade fertig und kann den Ton der Haare bei keinem der Modelle finden, die hier au klopfen. Und die andern sind mir zu teuer! Die kann ich nicht, noch nicht bezahlen! Solche traumhaft schöne, seidene Maßen, wie Sic da aus dem Köpfchen haben, schienen mir in der Wirklichkeit unmöglich. Die hielt ich für ciu un erreichbares Ideal! Um die Stirn, die Augen, um den ganzen Schnitt des Kopfes wage ich ja gar nicht zu bitten!" Erna lächelte und überlegte: „So lange ich noch keine Beschäftigung gesunden habe, ist meine Zeit frei. Da will ich Ihnen ganz gern einige Male sitzen; aber nnr für die Haare!" Die Malerin erschöpfte sich in Danksagungen nnd war ganz glückselig. Plötzlich hielt sie stutzig an: „Sie suchen eine Beschäftigung, Madame ?" „Ja, Mademoiselle!" „Um Geld zu verdienen?" Ihr Blick glitt ausdrucksvoll über Ernas Kleidung. Das stolze Mädchen wurde abwechselnd rot und blaß, aber sie kämpfte die falsche Scham tapfer nieder: „(^eiviß! — Ein Umschwung in den Verhältnissen, — Sie verstehen ? — Darum wollte ich auch Herrn Vollried und Herrn Antok um Rat bitten!" „Den kann ich Ihnen vielleicht erteilen, Fräulein " „Bolmann ist mein Name, ich bin Hamburgerin. Fräulein Tonstark aus Graudcnz!" Alle verneigten sich bei dieser Vorstellung. Erna er zählte von ihrem Talent für kunstgewerbliche Arbeiten. Die Malerin lauschte aufmerksam: „Da könnte ich Helsen!" meinte sic. „Wenigstens kann ich Ihnen an dreißig Adressen geben. Firmen, -ic außer dem Hause ihre Verkanssgegen- stände geben, gibt eS eine ganze Menge. Aber in keinem Falle der Welt beschäftigt man Sie, die ganz fremd und als Anfängerin ohne Empfehlungen kommen, wenn Sic nicht Probearbcitcn vorlegen!" „Die könnte ich sogleich bcsäiafsen. Nicht wahr, Fräulein Martha, wir besorgen alle nötigen Zutaten, und ich be ginne sofort." „Zwischen den Liebhabcrhandarbeiten und solchen, die weiter verkauft werden sollen, ist ein großer Unterschied, Mademoiselle!" wandte Fräulein Lob-rt ein. »Ich erlaube
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite