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Bruckner entdeckte für die Sinfonie die Nei gung, das Thematische als Anlaß, nicht mehr als Absicht des Musizierens zu nehmen. Das heißt: Die sinfonische Form ist bei ihm pri mär ein dynamischer Zug von immensen Stei gerungswellen, denen die „Einfälle" im Detail untergeordnet sind; sie werden als „Material" gebraucht. Alles Thematische ist bloße Ober fläche, zentral ist der geradezu „körperliche" Vorgang des Sich-Dehnens und Spannens bis hin zu gewaltigen Eruptionen und geballten Höhepunkten, teilweise — wie im dritten Satz der neunten Sinfonie — auf knirschenden Dis sonanzen oder — an den Schlüssen — als alles überstrahlender Ruheklang, dem Pendant zu dachte, ist der Aus ¬ seine Physiognomie 1 a vorthematischen, atmosphärischen Anfän- 1 mit Tremolo, die gleichsam die Hörgrenze abtasten. Kein Wunder, daß es Bruckner sich leisten kann, einen thematischen Vorgang ein fach abbrechen zu lassen, wenn die Innenspan nung es gerade nahelegt. Form ist bei Bruckner allemal eine abgestufte Folge thematisch verschieden konturierter Blöcke — oft durch Generalpausen voneinan der getrennt. Der kämpferische Dualismus der Sinfonien Beethovens ist damit völlig aufgegeben. Es war aber gerade der Anfang der neunten Sinfonie Beethovens, der Bruckner so faszi nierte, die Idee nämlich, nicht mit einem fi xierten Thema zu beginnen, sondern dort, wo die Musik zunächst nur Luftschwingung ist. Daraus mochte sich dann die thematische Kontur entwickeln. Da Bruckner primär klang lich und nicht motivisch bruch des Hauptthemas immer ein Ziel, kein Ereignis, das nur durch selbst spricht. Bruckners Musik ist, wie Ernst Bloch bereits 1918 erkannte, „Klang, der sich erst bildet" und ihre Form ist „Unruhe, Zer störung, Überhöhung, dauernde Visierung", •e Art künstlerisches Abenteuer. I vom 23. September 1881 bis zum 5. Sep tember 1883 komponierte Sinfonie Nr. 7 E-Dur ist Anton Bruckners Durchbruch als Sinfoniker. Als Arthus Nikisch am 30. Dezem ¬ ber 1884 in Leipzig die Uraufführung brachte, war der Erfolg zwar noch gemäßigt, weil das Leipziger Publikum sehr konservativ war, aber immerhin konnte Bruckner bereits befriedigt feststellen, daß „zum Schluß eine ] /t Stunde applaudiert wurde", obwohl die meisten Zu hörer eher verdutzt als begeistert waren. Bruckner war es gewohnt, daß bei Aufführun gen seiner Sinfonien die Zuhörer scharenweise den Saal zu verlassen pflegten; da wog der Leipziger Beifall schon viel. Offensichtlich war es selbst den so konservativen Leipziger Zu hörern aufgegangen, daß sie das Werk eines großen Sinfonikers vernommen hatten. Den eigentlichen Durchbruch erzielte die Sinfonie jedoch erst einige Monate später in München, als Hermann Levi (Wagners „Parsifal"-Diri- gent) am 10. März 1885 die Erstaufführung dort dirigierte. Die kurz darauf bereits er folgte Drucklegung machte die rasche inter nationale Reputation des Werkes möglich. Es war aber doch fast ein Wunder, daß die Münchner Erstaufführung so durchschlug, denn Levi schrieb während der Proben an Bruckner: „Das Orchester hat natürlich gestutzt und gar nichts verstanden. Die Leute sind nämlich hier unglaublich reactionär." Um so erstaunlicher war die grenzenlose Begeisterung bei der Aufführung, die immerhin die Wiener Philhar moniker, sonst auf Bruckner schlecht zu spre chen, nötigte, nicht länger zurückzustehen und - ein Jahr später - die erste Wiener Auf führung unter Hans Richter zu wagen. Gegen den auch dort einhelligen Erfolg stemmte sich nur der Bruckner-Gegner Eduard Hanslick er wartungsgemäß, schrieb einen seiner üblichen Verrisse und hörte nur „unabsehbares Dun kel". Wie war der plötzliche Durchbruch des Sinfonikers Bruckner möglich? Ähnlich wie die beiden vorhergegangenen Sinfonien gelang auch die Siebente in einem Durchgang, und sie spricht ganz Bruckners eigene Sprache, obwohl die Coda des lang samen Satzes unmittelbar unter dem Eindruck der Nachricht, daß Wagner gestorben sei (13. Februar 1883), komponiert wurde. Von Wagner übernahm Bruckner nur die sogenannten „Wagner"-Tuben, die dem Hörnersatz eine zusätzliche Farbe verleihen, sonst nur noch gewisse chromatische Wendungen. In seiner melodischen Erfindung ist Bruckner gerade in der E-Dur-Sinfonie ganz bei sich. Die ersten Kritiken lobten denn auch insbesondere den klaren formalen Aufbau, sprachen von forma ler Schlüssigkeit und rühmten die „Klassizität" des Werkes, manche meinten sogar, Bruckner sei der größte Sinfoniker seit Beethovens Tod. Der dramaturgische Plan der Sinfonie ist denn auch überwältigend: Der absolute Höhepunkt liegt genau in der zeitlichen Mitte, an jener C-Dur-Stelle des Adagios, die durch den bis heute umstrittenen Beckenschlag markiert wird. (Es ist nicht sicher, ob er von Bruckner wirklich gebilligt wurde, da er ein „äußerli ches" Moment in die Steigerungstechnik hin einbringt.) Vielleicht übte Bruckner mit dieser zentralen Position des absoluten Höhepunkts der Werkkonzeption produktive Selbstkritik an der „kopflastigen" sechsten Sinfonie, bei der sich ja der absolute Höhepunkt bereits mit dem Eintritt der Reprise im ersten Satz ereig net. Zwar ist auch das Finale der siebenten Sinfonie gegenüber dem ausgedehnten Kopf satz erheblich gedrängter, aber dafür ist das Adagio ungleich gewichtiger als das der sech sten Sinfonie und enthält ja das Zentrum des Ganzen, sowohl zeitlich als auch bezüglich der Tonartenfolge der gesamten Sinfonie. Außer dem besitzt das Finale, im Gegensatz zu dem der sechsten Sinfonie, ausdrücklichen, lakoni schen Abschlußcharakter. Eines ist jedenfalls sicher: Bruckner hat nicht, wie so oft behaup tet wird, schablonenmäßig immer wieder den gleichen sinfonischen Aufriß komponiert, son dern, wie allein schon die verschiedenen Formideen der Finalsätze zeigen, stets die in nere Dramaturgie neu überdacht. Der erste Satz ist ein weitausgreifender So natensatz mit einem bei Bruckner einzigarti gen melodischen Hauptthema, das sicher die Zuhörer von jeher in seinen Bann gezogen hat. In zwei jeweils über vierundzwanzig Takte hinwegströmenden Wellen ereignet sich, wie es Max Dehnert ausdrückte, „die Geburt der Melodie aus dem Geiste der Harmonie". Kein anderes Hauptthema Bruckners weist einen solchen Atem auf. Seine Art der „unendlichen Melodie" kann sich, im Gegensatz zu Wagner, aussingen. Tiefe Trauer ist der Inhalt des Adagio-Satzes, doch fehlen auch nicht Züge des Trostes und gläubiger Hoffnung. Das ernste Hauptthema tragen die Wagner-Tuben „sehr feierlich" vor. Die trostvolle Streicherstelle entstammt Bruck ners gleichzeitig entstandenem „Te deum". Lebenssprühend ist der Charakter des nach klassischem Muster gebauten Scherzos, das auf das entrückte Adagio folgt. Ein fast kämp ferisches, trotziges Trompetenthema gibt ent scheidende Impulse. Idyllik und walzerselige Beschaulichkeit herrschen im Trioteil. Nach einer spannenden Generalpause setzt wieder das hastende Scherzo ein. Das Hauptthema des Finales ist aus dem des ersten Satzes abgeleitet, wobei sich das feier liche Pathos jenes Gedankens nunmehr gr^H ins Heldische, Kraftvoll-Stürmische gewandW hat. In As-Dur stimmen die Violinen, über mo notonem Pizzikato der tiefen Streicher, ein eindrucksvolles Choralthema an. Dennoch ge winnt der Choral nicht die Bedeutung, die ihm als zweitem Thema eigentlich zukäme. Ein mar kanter dritter Gedanke löst Auseinanderset zungen aus. Die ausgedehnte Durchführung beginnt wuchtig mit dem Hauptthema. Die großartige Steigerung der Coda findet in einem Orgelpunkt auf E ihren Höhepunkt. Nicht grundlos nannte eine Kritik aus dem Jahre 1887 das Werk einen „vom Kopf bis zum Fuß geharnischten Riesen". Es ist außer der „Sechsten" die einzige Sinfonie, die Bruckner nicht umgearbeitet hat. VORANKÜNDIGUNG: Sonnabend, den 14. April 1990, 19.30 Uhr (Freiverkauf) Sonntag, den 15. April 1990, 19.30 Uhr (AK/J) Festsaal des Kulturpalastes Dresden 8. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Miltiades Caridis, Österreich Solistin: Marioara Trifan, USA, Klavier Orgel: Michael Gerisch, Dresden Werke von Richard Wagner, Ludwig van Beethoven und Camille Saint-Saens Ton- und Bildaufnahmen während des Konzertes sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. Programmblätter der Dresdner Philharmonie Redaktion: Dipl.-phil. Sabine Grosse Die Einführung zu Bruckner folgt Texten von Dietmar Holland im Konzertführer Orchestermusik, Rowohlt Ver lag GmbH, 1987, sowie von Prof. Dr. Dieter Härtwig. Chefdirigent: GMD Jörg-Peter Weigle - Spielzeit 1989/90 Druck: GGV, BT Heidenau 111-25-16 EVP —,25 M s KONZERT 1 989/90