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UMußestunden D ) Mochenbeiiage des „Leipziger Tageblattes", j I. Jahrgang. SS. Dezember 1S04. Nr. 47. Inhalt: Bernhard Shaw. Bon Dr. Wilhelm Mi eß «er (Berlin). RatnrwiffenschaftltcheS znr Pelzwade. Ein rätselhafte- Tier. Bon Franz Wichmann. Das letzte Märchen. Eine Weihnachtsgeschichte von Henry de Forge. Autorisierte Übersetzung von Anna Wilke. Bernhard Shaw.*) Von Dr. Wilhelm Mießner (Berlin). Nachdruck Verbote«. Aus der Kunst der einfachen Wahrheitslinie, der Frvskokunst des Naturalismus, mutzte sich notwendig eine plastische Gestaltung der WirtliäLeit, eine dcppellinige und doppelseitige Kunst ent wickeln. Eine neue, heiter-ernste Muse, aus dem Geist romantischer Ironie geboren, mit einem sonderbar trübsinnigen Lächeln mischt sich unter die dionhschen Tänzer, die alle das Eilend anbeten und sich seinen Schmerzen und seiner Lust wollüstig ergeben, schaut sich die verzerrten Gesichter, die in der Extase verrenkten Mieder an und verliert darüber ihr Lächeln nicht. Nein, es bekommt etwas von der sonnigen Reinheit, ihr Daherschreiten und Schauen etwas von -em ruhigen Ebenmatz apollinischerKunst und ein Jauchzen und Anbeten, ein in Verzückung Erstarren, der Dionysosjünger folgt ihrem schönen Tanzschritt. Es ist noch ein bißchen Pcse trotz allen knabenhaften Un bekümmertseins und Darauflosredens, wie es ihr gerade gefällt oder nicht gefällt, aber es hat doch seinen guten Grund, -atz die allerbesten Verehrer das Naturalisnrus in dieser lächelnden Muse ein höheres Lebensprinzip erkennen. War es besonders die Sprödigkeit deutschen Wesens, die Wortkargbeit des Nordländers, die den Naturalismus mit seinen verhaltenen Leiden, seiner schämigen Lust beij unV begünstigte, so bringt die neue Muse wieder einen Zug südlicher Beredsamkeit, eine Freude an den schon sich selbst widersprechenden Wendungen der Sprache in die Dichtung hinein. Der Plauderer, der Schrvätzer, -er Causeur, der Wortjongleur des französischen Dramas werden im Drama rn moderner Form wieder lebendig, etwa im Flauschrock des philosophierenden Arztes, des sozialdemokratischen Pfarrers oder der Joppe des blasierten Künstlers. Die sarkastische Lebenserfahrung eines überlegenen Generals, die Weisheitsschnitzel eines Napoleon, eines Galgen- schurken oder eines verlumpten Studenten, das sind die Elemente, denen die neue Muse ihre neue Erkenntnis am liebsten offenbart. In dem Drama der letzten fünfzehn Jahre hat man uns *) Wir geben diesem Artikel über Bernhard Shaw Raum, obwohl er keineswegs unseren Ansichten über diesen Schriftsteller entspricht. Unseres BedünkenS dringt Shaw mit gutem Grund in Deutschland so langsam in weitere Kreise ein. Immerhin wäre es eine unwissenschaftliche Einseitigkeit, nicht auch einmal einem anders Denkenden das Wort in dieser Angelegenheit zu geben. vis »eck. Das letzte AlSrchen. Eine Weihnachtsgeschichte von Henry de Forge. Autoristerte Uebersetznng von Aura Witte. Nachdruck verboten. Johann Schmidt schloß die Türe seines Arbeitszimmers und ließ sich in den grünen Sessä fallen, in dem er im Laufe von vierzig Jahren alle die schönen Bücher geschrieben, welche ihn in ganz Holland berühmt gemacht haben. Dann zog er aus der Westentasche ein Päckchen blauer Scheine. „Eine hübsche Summe!" murmelte er. „Und dazu noch im Voraus für mein neuestes Buch, vor; dem braven Verleger Peters befahlt! . . . Mein neuestes Buch!" wiederholte er wehmütig. „Ich nnitzte eigentlich „mein letztes" sagen. Ich bin jetzt schon zu alt -um Schreiben." Sinnend ließ er die Augen über die Regale seiner- Bibliothek gleiten. Da standen sie alle, seine Werke, speziell für die liebe Jugend geschrieben! Er war nur ein Märchenschriftsteller. Aber was für einer! Es gab wohl kein Mädel in ganz Holland, welche nicht „Die Verkäuferin von« Goldsande" oder „Die Abenteuer einer Libelle" bannte Des Dichters ganze Existenz gründet sich auf den Ruhm, die Kinderwelt erfreut zu haben. Da er ganz allein stand, ohne Familie, ohne irgend einen An gehörigen, war er bald zu großem Reichtum gelangt. Aber er hatte trotzdem nichts an seiner einfachen, bescheidenen Lebensweise, welche er in einer Vorstadt von Amsterdam führte, geändert . . . Als er eben die Scheine überzählt hatte, erheb er sich un schürte -ab im Kamin brennende Feuer von dürrem Holz an. Ihn fröstelte. . : Es war ein unfreundliches, melancholisches Wetter, -er Himmel , trübe und schneeschwer, kein schöner Weihnachtsabend' Er verstmb in düstere Träumereien. . ' - ' / ' Menschen gezeigt, -ie alle darunter litten, -atz man sie in ihrer Umgebung, in ihrem Elternhaus, im eigenen Hause, im Beruf nicht verstand. Aber was taten sie auch groß, sich verständlich zu machen. Man merkte wohl, daß sie eine Wahrheit mit sich herumtrugen, -le ihrer Umgebung als Teufelswerk Abscheu erreate, damit war es dann auch meist schon vorbei. Sie konnten die Wahrheit nicht ver künden, sc verkünden, daß man sie glauben mußte, vielmehr schienen sie selbst noch unter ihr zu leiden. Daß sie eine bedeutende Er-, kennknis, die neue Anschauung von -er Natur in sich barg, das tut sich dem Zuschauer viel mehr durch die Größe des verhaltenen Lei-s kund, als daß man sie selbst zu hören bekäme. Alle diese Helden konnten für ihre Sache sterben, aber sie zu fördern gelang ihnen nicht. Das Milieu erwies sich ja fast meistens stärker als sie selbst in ihrer neuen ursprünglichen Lebensgewißheit. Ja, man war auch zu stolz, um noch im lauten Pathos Schilletschen Heldentums sich für eine Sache zu opfern, die rings herum tausend Beispiele unsäglichen Leids, tausend Beispiele schweigsamen Tahinsiechens, stiller Ergebenheit bot. Der Natur selbst wollte man es nachmachen, die tausendmal starb, um einmal geboren zu tverden. Aechzen und Wimmern, sich stolz Aufbäumen, das war erlaubt, aber die Sprache durfte nicht weit über diese unarEuliarten Naturlaute der Bäume, Gewässer und Tiere hinausgehen. Nun überblicken wir das Schlachtfeld mit all diesen dahingegangenen Helden und n>onn wir -as Theater verlassen, dann ist uns, als hätten wir irgendwo im Hause über oder unter unserer Wohnung einen Hilfeschtrei gehört, -em eine Totenstille folgte, — unheimlich, wir wissen nicht, von wo er kam, und wissen nicht, was er zu bedeuten hat, aber daß irgendwo ein schreckliches Unglück passiert ist, das zieht als eine grausige Gewißheit durch unsere erschütterte Seele. In -er Tat, alle diese Menschen und Helden des natura listischen Dramas sind mitten aus dem Leben -es Volkes gegriffen, dazu eines nordischen Volkers, das jedes Wort dreimal auf der Zunge hin und her schiebt, bevor es als Ausdruck inneren Lebens ausgesprochen wird. Von ihnen gilt, was Emerson überhaupt von -en Manschen und ihrer Fähigkeit, die Wahrheit, die sie wissen, das Gute, da sie handeln, in -er Schönheit eines Sprachbildes wieder zugeben, sagt: „Es scheint, als ob die Mehrzahl der Menschen Minderjährige wären, denen ihr Eigentum noch vorenthalten wird, oder Stumme, welche ihre geheime Zwiesprache mit -er Natur nicht wiedergeben können." Aber so weit -ie Dichter selbst sich diesen: Leiden ohne Morte, -em Elend des Armeleuteschicksals mit feinen stotternden Natur lauten Hingaben, wie der Dichter sich dem Schicksal seiner Personen verschreibt, wurden sie in ihrem Seelenleben im Innersten auf gerüttelt. Mit der steigenden Reizbarkeit ihrer Nerven muß die Fähigkeit zunehmen, natürliche Seelenvorgänge zu deuten, an denen man bis dahin achtlos vorüberging, weil die Sinne zu grob waren, das eigne Leben wahrzunehmen. Es gehört immer irgend eine Art von Krankheit dazu, wenn ich meinen Körper fühlen soll, und ebenso ist es mit den: Seelenleben. Was machte er sich aus dem Gelbe? Was aus -en vielen Lobeserhebungen? Stand er nicht am Ende seiner irdischen Lauf bahn? ..... In seinem Arbeitsfieber und ganz in seine wunderbaren Dichtungen versunken, waren die Stunden, die Monde, die Jahre an ihm vorübergezogen, ohne daß er es recht bemerkt hatte. Hatte er Genuß an seinem Leben gehabt? War er glücklich gewesen, er, -er so fesseln- das Glück anderer zu schildern verstand? Nein! — Uird das war sehr schade, sehr traurig! ... Seine Bücher waren also, im Grunde genommen, nichts als Lügen! . . . Und -och, -och — waren denn -iefe leichten, anmutigen, aus Wundern gewirkten und mit Feen und Zauberern bevölkerten Er zählungen wirklich nur trügerische Bilder, nur ein Gewebe seiner Phantasie? Konnte das Leden nicht doch vielleicht zuweilen auch solche holden, lieblichen Ueberraschungen, solche unerwarteten, un vorhergesehenen Wunder enthalten? . . . - Die Gedanken -es Greifes richteten sich nun wieder auf sein neuestes Märchen. Es sollte noch wunderbarer, noch außergewöhn licher werden, als alle vorangegangenen und ihm selbst auch ein wenig Freude bereiten! In -en Kamin starren-, -achte er nach, lange. Er rief sich -ie ganze Welt von Feen und Zauberern, die Kobolde und Gnomen, alle Prinzen und Schäfer vor die Seele. Wohl zwanzig Mal nahm er -ie Feder auf; wohl zrvanzig Mal fing er an zu schreiben. Aber die Inspiration fehlte ihm. Plötzlich wurde sein blasses Gesicht von einem Lächeln verklärt, seine Augen glänzten. „Mein letztes Märchen!" rief er fröhlich. „Mein Weihnachts märchen! Es wird noch schöner, noch sehr viel schöner weroen als ave meme anderen!" Aber er ließ doch die Koder fallen, und die beschriebenen Blätter -erregend, warf er sie in -ie schon Mb erlogene Gkrst -es Kamins. Sre loderten, m prächtigen Hol-enen Mammen auf. - Dann rief er Anssi, ferne Dienerin. . .