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AMußeftundenZ Mochenbetlage des „Keipziger Tageblattes I. Jahrgang. SO. Mai LS04. Nr. 17. Verantwortlicher Redakteur: Paul Zschortich in Leipzig. Berliner Bilder. Jyi Leicheuschauhause. . Nachdruck verboten. In einer Millionenstadt wie Berlin, in der täglich etwa 90 Personen sterben, beschließen auch häufig Menschen ihr Dasein, ohne irgend einen Verwandten oder Bekannten zurückzulassen, der sich um die irdischen Ueberreste des Verstorbenen kümmert. Andere machen, von der Verzweiflung gepackt, ihrem jammervollen Leben auf gewaltsame Weise ein Ende. Und mancher Leichnam der aus der Spree herausgezogen wird, ist von Verbrecherhänden dorthin geschafft worden, um die Spuren eines scheußlichen Mordes zu ver wischen. Diese hier kurz angedeuteten Verhältnisse machen eine Sammelstelle für gewisse Leichen, besonders für alle polizeilich be schlagnahmten, notwendig. Das Leichenschauhaus befindet sich in der Nähe des Oranienburger Tores in der Hannoverschen Straße und ist amtlich dem Polizeipräsidium unterstellt. Durch einen Vorgarten von dem Lärm der Straße getrennt, umgeben und über schattet von den hohen Laubbäumen eines Kirchhofes, prägt es ernste Ruhe und stillen Frieden aus. Der schrille Ton der Telephonglocke ertönt: es wird die An kunft einer neuen Leiche gemeldet. Da kommt auch schon ein Wagen vorgefahren. Schnell wird von ihm ein dunkler Gegenstand abgeladen und nach dem im Erdgeschoß befindlichen Reinigungs raum geschafft. Es ist die Leiche eines 25—30 jährigen jungen Mannes, die im Tiergarten am Goldfischteich, dem von Selbst mördern bevorzugten Platze, durch eine Schutzmannspatrouille auf gefunden worden ist. Der Tote wird vollständig entkleidet. Die Sachen werden, nachdem ihnen alle vielleicht zur Legitimation dienenden Papiere entnommen worden sind, zu einem Bündel zu sammengeschnürt. Ein unabgesandter Brief, der sofort dem Adressaten überbracht wird, dürfte wahrscheinlich die Feststellung des Toten ermöglichen. Die Leiche wird auf einen rechtwinkligen, mit erhöhter Kante versehenen Blechtisch gelegt, unter dem sich ein Wagengestell befindet. Es erfolgt nun eine äußerst gründliche Reinigung. Wachsbleich liegt der wohlproportionierte muskulöse Körper da. Keine Krankheit hat ihn geschwächt. Ein kleines Loch in der Herzgegend, dem noch immer eine rötliche Flüssigkeit ent strömt, zeigt die Todesursache an. — Der Tischwagen wird auf eiuen Fahrstuhl geschoben. Hydraulische Pressen treiben ihn aufwärts zum Leichensaal. Letzterer besteht aus einem breiten Gange, der an Glaswänden vorüberführt. Der Raum hinter diesen ist in Ab teilungen eingeteilt, in denen auf schrägen, nach vorn geneigten Platten vollständig unbekleidet die Leichen ausliegen. Ein dichtes Röhrennetz, durch das unaufhaltsam kaltes Wasser fließt, kühlt den Leichenraum und verhindert die Verwesung. Durch Dampfmaschinen getriebene Saugventilatoren führen alle Gase nach dem hohen Schornstein, wo sie durch Verbrennung unschädlich gemacht werden. Inhalt. Berliner Bilder VI. Richard Wagner in Rudolstadt. Bon Wilhelm Henze n. Die Bedeutung von Saint Louis 1904 für Deutschland und Oesterreich. Bon Curt Rudolf Kreuschner. Spatzenmoral. Von Otto Michaeli. Die ;N»ei Wiesen. Eine indische Legende von vonHenrtkSienkiewicz. Diese nur durch Kälte und Ventilation bewirkte Desinfektion ist eine so gründliche, daß nicht der geringste Leichengeruch wahrzu nehmen ist. Wüßte man nicht gar zu genau, wo man ist, man könnte glauben, man befände sich in der „Schreckenskammer" eines Wachsfigurenkabinetts. Vorherrschend sind hier die Selbstmörder. Was mag sie getrieben haben, das „Wetträtsel" auf solche gewalt- same Weise zu lösen? Da liegt ein äußerst magerer Leichnam, dem ein Bein fehlt. Ein blauer Strich um den Hals, die „Strangulationsmarke", zeigt uns, daß wir einen Erhängten vor uns haben. Nach der Erläuterung eines Wärters war dieser Krüppel Bettler und „Pennbruder". Er hatte keine Stelle, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Jetzt hat er sich eine Heimstätte ge schaffen, die man ihm bald in kühler Erbe bereiten wird. Niemand kann ihn mehr fortjagen. — Daneben liegt ein junges Mädchen, das inan gestern aus dem Kanal gezogen bat. Sie ist bis jetzt noch nicht legitimiert worden. — Das Bild der Jugend wird abgelöst von deni des Alters. Ein Achtzigjähriger ist von dem Hasten und Jagen des Berliner Straßenverkehrs dahingerafft worden. Ein Wagen hat ihn umgerissen und das Rad ihm den Schädel eingedrückt. Auf der Nebenplatte liegen eng aneinarrder gedrückt zwei Neugeborene. Die gerichtsärztliche Obduktion soll feststellen, ob sie eines natür lichen oder gewaltsamen Todes gestorben sind. Sie wird im Sektionssaal vorgenommen. Hier war früher die Akustik so schlecht, daß der gerichtliche Protokollführer nicht das Diktat der Aerzte ver stehen konnte Der ganze Raum ist nun mit einem Drahtnetz überspannt, der den Fehler beseitigt haben soll. In dem Saale stehen mehrere Sezierttsche. Sie stehen alle in direkter Verbindung mit der Wasserleitung und der Kanalisation. Ein Loch in der Mitte jedes Tisches führt mit dem Spülwasser die Abfallstoffe gleich hinweg, hinaus auf die Rieselfelder. Inzwischen ist ein bejahrtes Ehepaar annekommen.. Es sucht seinen einzigen Sohn, der vor kurzer Zeit im Leichenschauhause ein geliefert worden sein soll. Man führt die alten Leute zur Leiche des Erschossenen. Da sehen ihre entsetzten Augen, daß es wirklich wahr ist, was ihnen der Brief verkündet, wovon sie immer noch gehofft, daß es nicht wahr sein würde. Jetzt stehen sie der grausamen Tat sache gegenüber. Der Vater lehnt sich vollständig gebrochen an die Wand. Träne um Träne rollt in seinen grauen Bart. Die Mutter kratzt in wilder Verzweiflung die Glasscheibe, die sie von ihrem Sohne trennt. Schluchzend fangen die beiden Trauernden an, miteinander zu sprechen. Man kann von ihrer Unterhaltung nichts weiter verstehen als nur „das Mädchen". „Das Mädchen", „das Mädchen", hört inan immer wieder. Da sehen die Alten die unbe kannte, weibliche Leiche. Sie erkennen sie, es ist „das Mädchen". Der Schmerz wirkt versöhnend. Die sich als Lebende nicht besitzen durften, sie soll als Tote ein Grab vereinigen. Nach Erledigung der vorgeschriebeuen Formalitäten werden die beiden Leichen in dem dazu bestimmten Raum eingesargt. In der Kapelle wird für beide eine gemeinschaftliche Leichenfeier veranstaltet und dann werden sie einem fernen Kirchhof in Rixdorf zugeführt. Werden Tote nicht legitimiert, wollen oder können die Ange hörigen sie nicht beerdigen lassen, so werden diese Leichen vom Schauhause den städtischen Behörden übergeben. Auf dem städtischen Armenkirchhof in Friedrichsfelde gewährt die Stadt Berlin -ick letzte Ruhestätte. Die zwei Wiesen. Eine indische Legende. Von Henryk Sienkiewicz. Deutsch von Karl Grelich. Nachdruck verboten. Es waren einmal zwei Länder, die wie zwei unermeßliche Wiesen aneinander, grenzten und nur durch einen klaren Fluß getrennt waren. Die Ufer dieses Flusses flachten sich an einer Stelle nach beiden Seiten sanft ab und bildeten eine seichte Furt, gleichsam einen kleinen See mit ruhigem und durchsichtigem Wasser. Unter der bläulichen Flut wurde goldener Grund sichtbar, dem Lotosblumen entsproßten, die über dem Wasserspiegel ihre rosigen und weißen Blüten entfalteten; farbenprächtige Libellen und Schmetterlinge flatterten um die Blumenkelche, und in den Palmen am Ufer und höher in sonniger Lust schlugen Vögel ihre Lieder wie silberne Glöcklein. Und das war der Uebergang aus dem einen Lande in das andere. Das erste hieß Wiese des Lebens, das zweite Wiese des Todes. , Beide hatte der allerhöchste, allmächtige Brahma erschaffen, der in dem Lande des Lebens den guten Wischnu und in dem Lande des Todes den weisen Schiwa walten ließ. Er sagte zu ihnen: „Schaltet darin nach eurem besten Ermessen." In dem Lande des Wischnu erwachte nun das Leben. Die Sonne fing an auf- und unterzugehen, es traten Tage und Nächte ein, das ungeheure Meer schwoll an und senkte sich wieder; am Himmel zeigten sich regenschwangere Wolken, die Erde bedeckte sich mit Wald, es wimmelte von Menschen, Tieren und Vögeln. Damir aber alle lebenden Wesen sich fortpflanzten und vermehrten, schuf der gute Gott die Liebe, der er gebot, zugleich das Glück zu sein. Da rief ihn Brahma vor sein Angesicht und sprach: „Nichts Vollkommeneres vermagst du auszusinnen auf Erden, und da ich den Himmel schon früher gebildet, so ruhe aus und laß die Ge schöpfe, die du Menschen benannt hast, ohne jede Hülfe den Faden des Lebens weiterspinnen." Wischnu gehorchte dem Gebot Brahmas, und die Menschen begannen, von nun an selbst für sich zu sorgen. Ihre guten Ge danken zeugten die Freude, ihre schlechten dagegen das Leid, und die Menschen gewahrten zu ihrem Erstaunen, daß das Leben kein ununterbrochenes Freudenfest ist, sondern daß jener Faden, von dem Brahma gesprochen, gleichsam von zwer Spinnerinnen ge sponnen wird, von denen -re eine ein Lächeln auf dem Antlitz, die andere Tränen in den Augen hat.