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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.10.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-15
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021015014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902101501
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902101501
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- Images teilweise schlecht lesbar
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-10
- Tag 1902-10-15
-
Monat
1902-10
-
Jahr
1902
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Bezug-.Preis i» ßer Hauptexpeditiou oder den im Stadt» bezirk mrd den Vororte« errichtete« A«S- gavepAlen obgeholt: vierteljährlich 4.50, — zweimaliger tüglicher L«kell»g in» Hau» 5^0. Dvrch dir Post bezog« für »eutschlaod ». Oesterreich vierteljährlich », Pir di, übrige« Läkcker liuüZett«ng«prei»liste. Ledaktto« und Lrpeditto«: Ioha>m1»gaffe 8. tzerusprecher IbS und LL2. r AlfteLHaß», Bllchhaudlg^ UniverMtsstr.8,' L. Lösche, K»thart»eapr. Ich «. König-Pk. 7. Hnupt-Miale Dresden r Etrrhl«er Straße S. Fernsprecher Amt I Nr. 1711. Haupt-Fliiale Serli«: Königgräher Straße IIS. Fernsprecher Amt VI Nr. SSSS. Morgen-Ausgabe. MWgcr.TagMaü Anzeiger. NnüsUatt des L-nigkichen Land- und des Königlichen Änttsgerichles Leipzig, -es Rates und -es Volizei-Nmtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen.Preis die 6 gespaltene Petitzeile LS H. Reklame» «nter dem Redaktionsstrich (4geioaltrn) 75 vor den Familiennach- richten («gespalten) 50 H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannoyme 25 (excl. Porto). Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen »Ausgabe, ohne Postbesörderung SO.—, mit Postbeförderung 70.—. Anuahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stet- an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nu 525. Das Abkommen zwischen Frankreich und Siam. V. 8. Am 7. Oktober wurde zwischen -em französischen Minister -eS Auswärtigen und dem siamesischen Gesandten KU Paris ein Abkommen unterzeichnet, welches nicht nur di« bestehenden Streitigkeiten regelt, sondern -en Grund zu einer friedlichen Entwickelung der beiden Staaten legt. Der Inhalt des Vertrages ist «bekannt. Er sichert ebenso der französischen Republik als dem Königreiche Siam Bor» teile zu, deren Bedeutung an der Seine und in Bangkok gewürdigt wird. Frankreichs Machtstellung im Süden Asiens ist durch die Verständigung gefestigt worben, und auch die Siamesen werden sreier und ungehinderter die Verhältnisse in ihrem Lande ordnen können. Die Londoner Presse nimmt gegenüber dem jüngsten asiatischen Ereignis eine auffallend ruhige Haltung ein. Angeblich ist sie nicht überrascht und sieht auch in der Ver einbarung nicht-, was ihre Interessen schädigen könnte. Man begnügt sich damit, die Tatsachen festzustellen und die Errungenschaft Frankreichs hervor-uheben, ohne damit die üblichen Drohungen auSzustoßen. Da der Vertreter des König» von Siam währen- der Verhandlungen häufig auö Pari» nach London fuhr, so wäre eS denkbar, daß vor dem endgültigen Abschluß des Vertrages Balfour und Ehamberlain über seinen Inhalt verständigt wurden nnd daß man den Engländern ebenfalls gewisse einstweilen ge heim gehaltene Zugeständnisse machte. Aber wahrscheinlich ist das jedenfalls nicht. Die zur Schau getragene Ruhe und Gleichgültigkeit ist wohl darauf zurückzuführen, daß man im Augenblick keine Möglichkeit einer Aenderung der Dinge in Siam sieht. Kcaukrcich hat sich bekanntlich verpflichtet, die Hafen stadt Tschentabun zu räumen, welche es als Unter« pfänd der Erfüllung der Verträge durch Siam besetzt hatte? es erhält dafür die Provinzen Meürprei und Bassar und Las Flußgebiet am sogenannten großen See, womit cs seinen hinterindischen Kolonialbesitz in zweckmäßiger Weise abrunden kann. Beide Provinzen liegen im fruchtbaren Süden Siams und bildeten bisher eine trennende Wand zwischen Kambodscha und Tonkin, die nunmehr als gefallen gelten muß. Vom großen See gehörte der Osten schon srühcrFrankreich, jetztsollerihmvöllrgmidförmlichzufalleu. Der Zuwachs an Land für die Republik beträgt etwa 3000 Quadratkilometer. Man hat in Paris entschieden Ursache mit der Entschädigung, welche Siam für die Aufgabe des Hafens Tschentabun zahlt, zufrieden zu sein. Politisch und wirtschaftlich hat sich die Lage im Süden Asiens zu Gunsten der Franzosen verschoben. Der Vorteil für Siam besteht darin, daß es nun das Recht erhält, Truppen nach verschiedenen Punkten des Mckongufers zu entsenden. Damit ist die bisherige neutrale Zone geschwunden, welche so hinrfig den Anlaß zu Streitigkeiten zwischen beiden Staaten bot. Ferner wird die Rückgabe Tschentabuns das Ansehen der Regierung im Lande selbst nicht wenig stärken. Die Besetzung dieser Mittwoch den Stadt durch die Franzosen hatte seinerzeit in Siam eine starke Erregung veranlaßt, und den leitenden Personen in Bangkok wurde wiederholt -er Borwurf zu großer Nach giebigkeit gemacht. Das wird nun fein Ende finden. Bon besonderer Bedeutung ist die Bestimmung, nach welcher Siam im Flußbette des Mekong Häfen, Kanäle und Eisen bahnen ausschließlich mit seinen eigenen Untertanen und nur unter seiner Leitung bauen darf. Damit scheinen Aus länder von solchen Unternehmungen ausgeschlossen zu sein. Man hat hier vornehmlich an die Engländer und Japaner gedacht, die wie in den meisten astatischen Staaten, eben falls in Siam zur Ausbeutung der Natnrreichtümer bereits ihre Vorbereitungen getroffen haben. Namentlich Japan wird durch die Fernhaltung vom Mekong schwer getroffen, weil es in Siam eine Reihe von Erfolgen gewonnen hatte und bereits auf das Heer und die Verwaltung Einfluß be saß. In letzter Zeit war auch viel davon die Rede, daß japanische Offiziere in die siamesische Marine eintreten sollten. Das wird sich jetzt vermutlich zerschlagen. Eine Enttäuschung für England in wirtschaftlicher Hin sicht bringt das Abkommen in jedem Fall, auch wenn man die Sache nicht zugeben will und die Pariser Blätter den Wert des Abkommens anscheinend herabzusetzen suchen. Man liest in verschiedenen französischen Organen, daß das Gebiet, welches die Republik erworben habe, eine große Bedeutung nicht besitze, weil eine 200 km lange Wasserstraße angeblich so gut wie nicht befahren werden könne. Das sind indeß leere Redensarten, um die Engländer und Ja- paner zu beruhigen, von denen die letzteren nach ihren Preßäußerungen sich in großem Zorne befinden. Die Engländer werden sich übrigens nicht verhehlen, daß der Vertrag zwischen Frankreich und Siam ihren in dischen Besitzungen auch in politischer Hinsicht nicht gerade zum Vorteil gereicht. Sie haben deshalb stets eine engere Annäherung zwischen beiden Staaten zu durch kreuzen gesucht? sie fürchteten die Ausdehnung des französischen Kolonialbesitzes nach Westen. Und gewiß mit Recht. Die Festigung Frankreichs in Hinterindien verschlechtert entschieden ihre Aussichten in der kommen den Auseinandersetzung mit Rußland. Nun ist es doch anders gekommen, als sic glaubten. Der Krieg freilich ist des halb nicht näher gerückt. Rußland ist noch nicht im stände, einen Feldzug zu beginnen, dessen Ausgang völlig zweifel haft ist nnd der die größten nnd schwerstwicgenden Um wälzungen nach sich ziehen müßte. Aber die Stellung des Zarenreiches Indien gegenüber hat sich durch den diplo- malischen Erfolg Frankreichs in Siam allerdings gestärkt. Man darf nicht aus den Augen lassen, daß die Republik, nachdem die Streitigkeiten mit Siam ihr glückliches Ende gefunden haben, nunmehr ihre Kräfte anspannen wird, um in Bangkok den herrschenden Einfluß zu gewinnen. Und dadurch kann es sich ereignen, daß Rußland neben Frank reich auch Siam als Verbündeten gegen England gewinnt. Es handelt sich bei dem Vertrage zunächst um eine Er rungenschaft der Franzosen, sodann aber auch um eine Konsolidierung des russisch-französischen Bundes im Orient. IS. Oktober 1902. Darüber kann man sich in London unmöglich einer Täuschung hingeben. Es wird sich zeigen, welchen Gegen zug man nun von dort aus machen wird. Deutsches Reich. Berlin, 14. Oktober. (Die Sozialdemokratie und das Zentrum bei den nächsten Wablen.) Bei den nächsten Wahlen wird eS eine der interessantesten Er scheinungen sein, wie sich die Sozialdemokratie, deren Haltung bei Stichwahlen in einer stattlichen Reibe von Wahlkreisen von großer Bedeutung ist, gegenüber ihrem früheren Freunde, dem Zentrum, benehmen wird. An scharfen Auslastungen gegen daS Zentrum hat eS ja die sozialistische Presse in der letzten Zeit nicht fehlen lassen. So schrieb beispielsweise die „Sachs. Arbeiterztg.", als daS bayerische Zentrum die Kunst sorderungen ablehnle: „Es ist Zeit, daß daS Volk die Zcntrumsbäupllinge mit Schimpf und Schande aus dem Tempel jagt." AuS dem Tempel gejagt werden können die ZentrnmSabgeordneten aber nicht durch die Schelt worte der sozialistischen Presse, sondern nur dadurch, daß ihre Wahl sowohl in den Reichstag, wie in die Parlamente der Einzelstaaten nach Möglichkeit verhindert wird. Bis jetzt aber hat die Sozialdemokratie genau daS Gegenteil davon getan. Sie hat im badischen Landtage der ZeutrumS- partei zu immer wachsendem Einflüsse verholsen und in Bayern sogar das Kunststück fertig bekommen, dem Zen trum die parlamentarische Mehrheit zu verschaffen und dadurch den eigenen parlamentarischen Einfluß aus den Nullpunkt herabzudrücken. Auch bei ReichStagewahlen hat die Sozial demokratie mehr als einmal dem Zentrum in den Sattel geholfen. Abgesehen von verschiedenen im Reiche verstreuten Wahlkreisen hat sie insonderheit Südbaden und Mittelbaden in die Gewalt des Zentrums gebracht, hat sie in Gemein samkeit mit der Volkspartei den Wahlkreis Konstanz dem Zentrum erobern helfen und die Wahlreise Freiburg, Lahr und Offenburg der Zentrumspartei in die Hände ge schanzt. Es sind also allein im Großberzogtume Baden nicht weniger als vier Wahlkreise, die daS Zentrum sozia listischer Förderung verdankt. Man wird nickt behaupten können, daß dies eine geeignete Methode sei, um „die ZentrnmShäuptlinge mit Schimpf und Schande ans dem Tempel zu jagen". Wir möchten auch trotz deö gelegentlich ausflammenden Zornes derSozialdemckratie gegen das Zentrum kaum annehmen, daß die Sozialdemokraten SüddeutschlandS nnd SüdwestkentscklandS bei den nächsten allgemeinen Wablen eine direkt entgegengesetzte Stellung einnehmen würden. Sie haben zu lange Zeit mit dem Zentrum Wahlgeschäste betrieben, und wenn sie auch, wie in Bayern, dabei düpiert worden sind, so kann eS ihnen doch nicht leicht werden, dem Zentrum gegenüber eine Politik zu verfolgen, dir der früheren direkt entgegengesetzt ist. Auf den Süden aber kommt eS mit in erster Reihe an, denn in den anderen Hauplgebieten des Zentrums, in 96. Jahrgang. Oberschlesien und am Rhein, kann die Sozialdemokratie nur ganz vereinzelt in die Lage kommen, einen Zentrums kandidaten zu Gunsten einer anderen Partei auS dem Sattel zu heben. Man wird also höchstens erwarten dürfen, daß die süddeutschen Sozialdemokraten bei künftigen Land- tagswahlen Bündnisse mit dem Zentrum nicht mehr eingehen und daß sie bei ReichStagSstichwahlen zwischen einem Be- Werber des Zentrum» und dem Kandidaten einer anderen bürgerlichen Partei sich der Stimme enthalten. Wohl läge es im Interesse der Sozialdemokratie, die typische Partei der Reaktion — denn das ist da» Zentrum — zu schwächen, aber man kann eben nicht die Fehler der Vergangenheit mit einem Federstriche auS der Welt schaffen. --- Berlin, 14. Oktober. (Die schweizerischen Ge werkschaften und die Neutralität.) Unter den Be schlüssen, die der kürzlich abgehaltene Kongreß der sckweizeriscken Gewerkschaften gefaßt bat, erscheinen vom deutschen Standpunkte au» die auf die Neutralitätsfrage bezüglichen am bemerkenswertesten. Diese Beschlüsse, mit 79 gehen 31 Stimmen angenommen, wollen die Neutralität der Gewerkschaften in religiöser uud in politischer Beziehung hrrbeiführen, indem sie bestimmen: „In religiöser Beziehung soll strenge Neutralität herrschen in dem Sinne, daß die religiöse Ueberzeugung jedes Mitgliedes — welche es anch sei — als ein Teil seiner Persönlichkeit zu respektieren und in der Gewerkschaft gegen Verletzung gerade so zu schützen ist, wie seine übrigen materiellen und sittlichen Recbisgüter. In den obligatorischen Organen ist jede Diskussion über religiöse Anschauungen und Glaubens sachen auSzusckließen. In den Versammlungen sind solche DiSlussionen so viel wie möglich zu vermeiden, jedenfalls aber alle Diskussionen über religiöse Symbole und Ein richtungen. Die lokalen oder kantonalen Arbeiterunionen, denen Gewerkschaften angehören, sollen religiös auf neutralem Boden stehen. In politischer Beziehung soll Folgendes gelten: Der GewerkschaflSbund und feine Verbände, die keiner politischen Partei angehören nnd keine Beiträge an solche leisten dürfen, können Aktionen zu Gunsten von Arbeitersckutzgesetzen, sowie zur Geltend machung sozialpolitischer Arbeitersorderunacn unternehmen und mit Geldmitteln unterstützen. Die Lokalsektionen der Verbände können sich lokalen oder kantonalen Arbeiter unionen anschließen und für gewerkschaftliche oder sozi^'volilische Aktionen derselben obligatorische Beiträge erheben. Zur Beitragsleistung an politische Parteien oder zur Teilnahme an partei politischen Demonstrationen oder Aktionen darf kein Mitglied gezwungen werden. — In Dcutsckland steht die Praxis der sogenannten neutralen, in Wirklichkeit sozialdemokratischen Gewerkschaften in schroffem Gegensätze zu diesen Grundsätzen. Es sei uur an die Iden tisizierung der Gewerkschaften mit der sozialdemokratischen Partei auf dem letzten Gewerkschaftskongress« in politischer, an die gehässige RelizionSfeindlichkeit vieler Gewerkschasts- FeeeiNetsn. Parlamentarische Kedeweisheit. Züm Wiederbeginn -er Reichstagssession. Bon Vr. Kurt Wiedener (Dresden). Nachdruck verbclen. Wenn nach -er Saison der sauren Gurken und See schlangen zur Herbstzeit in den großen und kleinen Haupt städten Europas sich die Pforten jener Gebäude wieder öffnen, in denen die frei gewählten Vertreter des Volkes über La» Wohl und Wehe des Staates beraten, erschließen sich auch wieder aufs neue jene lustig sprudelnden Quellen unfreiwilligen Humors und rednerischer Entgleisungen, die als parlamentarische Redeblüten bekannt sind und den Vorzug haben, in daS öde Einerlei der oft langsam sich dahinschleppenden Kannnerverhandlungen eine Abwechs lung zu bringen, die erquickender und erfreulicher ist, als die maßlosen Grobheiten, wie sie in manchen Volksver tretungen zur bauernden Eigentümlichkeit geworden zu sein scheinen. In den stenographisch aufgenommenen Pro tokollen der Abgeordnetenhaus- und Reichstagssitzungen darf man diese rhetorischen Purzelbäume freilich nicht suchen? denn bevor die Uebertragung aus den Steno- grammen in den Satz geht, lassen sich die vorsichtigen Herren Landesboten den Text vorlegen, -er dann manch mal so weitgehende Veränderungen erfährt, daß im Hand umdrehen aus dem rednerischen Knüppeldamm eine wohl geebnete Asphaltstraße geworden ist. Immerhin vermag -lese Vorsicht nicht zu verhindern, daß besonder» groteske Redewendungen durch die Zei tungen und durch mündliche Wettererzählung in die Oeffentltchkeit gelangen. Der unglückliche moderne Demo, sthene» mag wohl oft auf da» ungeratene Kind keiner rednerischen Phantasie im Pillen da» homerische «ort amvenben: „Wehe! Welch schreckliche» Wort ent- floh dem Gehege der Zähne!- Wenn ihm aber vielleicht auch nicht beschteden ist, un sterblichen Ruhm zu ernten, wie jener -wetundsiebzigste Heinrich von Reutz-Lobenftein-Eb«r»Lorf, -er den aus. horchenden Zeitgenossen die wundersame Mitteilung machte, daß er „seit zwanzig Jahren auf einem Prinzip herumreite-, so kann er sich doch mit dem Bewußtsein trösten, zur allgemeinen Erheiterung betgetragen und so- mit — wenn auch unfreiwillig — ein gute» Werk voll, bracht zu haben. Nur wenige Parlamentarier hat eS gegeben und gibt e», die bei ihrem ersten Auftreten von Befangenheit frei ge wesen zu sein sich rühmen können. Selbst Gladstone und DiSraeli, die Leiben gewaltigen Redekämpen de» -britischen Parlament», haben bekannt, bei ihren Jungfernreden Tode-angp au-gestanden zu haben, wenn e» ihnen auch nicht gerade so schlecht ging, wie dem Earl von Rochester, von -em «in kürzlich erschienene» Büchlein von Michael Mac Donagh über die Romantik, die Komödie und das Pathos des englischen Parlaments Folgendes erzählt. „Mylords", begann der Earl, der zu den Zeiten Karls II. lebte, seinen Maidenspeech, „Mylords, ich erhebe mich znm ersten Mal, zum allerersten Male." — Darauf lange Ver legenheitspause. — Bor Befangenheit errötend und hüls- los umherschauend, fuhr -er Earl darauf fort: „Mylords, ich teile meine Rede in vier Abschnitte." Nnn war es mrfs neue mit der Beredsamkeit zu Ende. Alle Bemühungen, wieder ins Gleis zu kommen, blieben vergeblich. DaS mochte der Redner, der krebsrot nnd mit den Augen rollend -astand, wohl auch selbst cinsehen? denn mit dem Aufgebote des letzten Restes von Energie raffte er sich zu der ver zweifelten, mit brüllender Stimme gegebenen Erklärung auf: „Mylords, wenn ich mich je wieder in diesem Hause erhebe, um zu reden, so dürfen Sie mich mit der Wurzel ausrotten und auf alle Zeiten wegwerfcn." Biel Ergötzliches hat auf dem Gebiete der parlamen tarischen Redeblüten von jeher die französische Volksver tretung geliefert. Als Frankreich unter Mölmes Führung 1893 zum protektionistischen System überging, und in der Zollkommission die Position „Borstentiere" zur Beratung stand, bemerkte ein übereifriger agrarischer Deputierter: „Meine Herren, indem wir die Schweine schützen, schützen wir uns selbst." Im Gegensatz zu dieser derben und auf- richtigen Selbsteinschätzung stehen andere Parlaments anekdoten, aus denen die ganze Feinheit des französischen Esprits herausklingt, dem zu seiner Geltendmachung aller dings als unübertreffliches Werkzeug eben auch die bieg same, pointenreiche französische Sprache zur Verfügung steht. Besonders waren es die Vertreter des alten Adels und der hohen Geistlichkeit, die in den Parlamenten der ersten französischen Revolution manches geistreiche, meistens aber auch höchst sarkastische Bonmot zu Tage förderten. Dies muhte z. B. einstmals der später in Berlin ver storbene Schriftsteller Graf Antoine Rivarol erfahren, der Verfechter des Königtums, der trotz der Anfechtbarkeit seine- höchst zweifelhaften Abel- in eine seiner Parla- ment-reden den Ausdruck „nous autres gsntilsiwmmes" einflocht, worauf ihm sein eigener Parteigenosse, der Mar quis de Grecqui, mit dem boshaften Zwischenrufe biente: ..Voll- un pluriol que je lronrs tree siogulier." Zog Rivarol in diesem Falle entschieden den Kürzeren, so ver mochte er -ei anderen Gelegenheiten doch selber außer- ordentlich scharfe rednerische Hiebe auszuteilen. Als eines Tage- davon gesprochen wurde, daß man mit etwas Ver- stand mancherlei Mißgriffen hätte vorbeugen können, rief ein Abb- dazwischen: „O, der verstand und immer wieder -er verstand. Der verstand hat «nS in- verderben ge bracht", worauf Rivarol ihn mit der ganzen, ihm eigenen vo-heit fragte: ^Ja, warrmr haben dann gerade Sie nn» nicht gerettet?" Auch Mtrabeau mußte eine- Tage- da» Gleiche am eigenen Leibe erfahren, al» er der Gegenpartei mit Donnerstimme zurief: «Ich werbe Sie in einen eironlu» ritioaru, einschließen" wa» ihm au» den Reihen jener, und z»«r von dem stet» schlagfertigen Abb» Ma«G, die Erwiderung cintrug: „Also wollen Sie mich wohl um armen ?" Endlos ist der unfreiwillige Parlamentswitz, der in dem österreichischen Abgeordnetenhaus« zn Tage gefördert ist, wenn die Leidenschaften der oft bis zur Siedehitze ent flammten nationalen Parteien des Völker- nnd sprachen reichen Eisleithaniens aufeinander prallten. Als die Polen einst während der Rede eines deutschen Abgeordnete!: das Parlamentshauö am Franzensring demonstrativ verließen, rief ihnen der Redner nach: „Bleiben Sic hier, meine Herren? was ich zn besprechen habe, geht gerade Sie an? denn eshandelt sich um die galizischen Schweine." DerOber- bürgenm ister von Wien, vr. Lueger, verflieg sich im nieder österreichischen Landtage, als er sich über die schlechte Finanzpolitik auslieb, zu der gewagten Behanptung: „DaS Geld ist flöten gegangen, die Millionen sind verschwunden? dann haben wir Schulden gemacht, nnd auch die sind ver schwunden", und im schlesischen Landtage meinte ein die Agrarier angreifender Abgeordneter: „DaS Gesetz be günstigt auch hier wieder die Großgrundbesitzer? denn diese sind es, die von der Klauenseuche am meisten ge fährdet sind." Keine üble Entgleisung ist cs auch, wenn der österreichische Abgeordnete Schnabel die Staatsgewalt zum Schutze der Schwachen gegen die Starken mit der Begründung anrief: „damit sie nicht aufgefressen werden wie die großen Raubfische." In den österreichischen Blättern für Stenographie finde ich noch folgende ans neuester Zeit stammende parlamentarische Redeblüten: ,Mir schöpfen neue Hoffnung für die bedrängte Bevölke rung auö den: wannen Munde, mit -em -er Minister über ihre Lage gesprochen hat" — ferner: „der Herr Vorredner hat sogar in -en harmlosen Tauben, deren Zucht nach meinem Anträge gefördert werden soll, ein Haar ge funden." Sehr unangenehm ist die Aussicht, die au- fol genden Worten eines Abgeordneten zu entnehmen ist: „Die Ziegel- und Pflastersteine, die die Festtetlnehmer da mals gegen die Fenster geschleudert haben, wollen die Herren heute uns in die Schuhe schieben", und auck die Sitze im Wiener Rcichsratssaal müssen von ganz eigen artiger Beschaffenheit sein, wenn ein anderer Volksver treter von ihnen behaupten konnte: „Es herrscht eine Arbeitslosigkeit anch auf den Abgeordnetenbänken, die sich scheuen, die sachliche Arbeit in die Hand zu nehmen." Auch in den deutschen Parlamenten, vom Reichstag bis zü den Volksvertretungen der kleinsten Fürstentümer, ist mancher unfreiwillige Witz erklungen, der wert ist, dem Gedächtnis der Nachwelt in Erinnerung gebracht zu werden. Einige von ihnen haben sogar in Büchmanns ge flügelten Worten Platz gefunden. Di« klassische Redens art „Unvorbereitet, wie ich mich habe", mit der einst der LPerbaurat Matthias seine Festrede anläßlich der Vollen dung de» Halleschen UntversttätSgebäude» begann, nm so- fort hülfloS stecken zu bleiben und seine sogar „sehr vor bereitete" Rede von einem in der Fracktasche bereit ge haltenen Manuskripte -erunterzulesen, gehört eigentlich nicht »» der parlamentarischen Komik, avrr »och in »in nahe verwandtes Gebiet. Sie lebt aber in tausenden all jährlichen Anwendungen ebenso fort, wie die geistreiche Be merkung des Abgeordneten Julins Kell in der sächsischen Zweiten Kammer: „Die Gründe der Regierung kenne ick nicht? aber ich nmß sie mißbilligen." Bedenklicher ist cs, wenn Graf Frankenberg in der Sitzung des deutschen Reichstages vom 25. Januar 1876 zum Lobe der im nach stehend genannten römischen Palast hausenden deutschen Gesandtschaft sagte: .„Der Palazzo Caffarelli ist der Sammelpunkt der deutschen Gesellschaft in Rom, vom Vornehmsten herab bis zum Künstler." Vermutlich beruht diese geringe Einschätzung der deutschen Künstler ebenso auf einer unbeabsichtigten Entgleisung -es Redners, wie die vor wenigen Jahren im preußischen Landtage unter toben dem Beifall geäußerten Worte: „Wir machen ja alle in den großen Staatstopf." Ein eigenartiger Herr muß auck -er Minister gewesen sein, von dem ein Abgeordneter in demselben Parlament behaupten konnte: „Und das sagte der Minister, als er schon die Genehmigung zum Eierlegen in der Tasche hatte." Von tiefer sozialpolitischer Weisheit zeugt auch das Diktum eines anderen Abgeordneten, der da meinte: „Vieles aüf dem Lande ist Zwang; nur dir Produktion von Kindern ist kein Zwang; die steigt stetig." Aehulich wunderbare Gestalten sind auch „der kleine Metzger, der das kleine Schwein vielleicht nur einmal im Jahre schlachtet", und „die Sachen, die eiu zweischneidiges Gesicht haben". Selten hat man im preußischen Abgeord netenhause so gelacht, wie damals, als ein Abgeordneter mit großartigem Pathos zu seinen Kollegen sagte: „Be denken Sie, meine Herren, daß sich die alten Wcrdcrschen Obstfrauen mit der Zeit in stattliche Dampfschiffe ver wandelt haben." Dieser Redner reicht mit seiner Phantasie an die eines anderen Abgeordneten beinahe heran, der auf feine Stellung als Redakteur eines politischen Blattes mit den Worten hinwicö: „Mit einen Fuv stehen wir stets im Kriminal und mit dem anderen nagen wir am Hungertuch." Die vorstehende Blnmenlese, die gewiß von kundiger Seite noch nm das Zehnfache verlängert werden' könnte, möge mit einer ebenfalls im preußischen Abgeordneten hause gefallenen Redensart beschlossen werden, laut der ein Volksvertreter der liberalen Partei mit einem an- mutigen Bilde den Vorwurf machte: „Die Liberalen kommen un- vorne lächelnd entgegen, von hinten aber fletschen sie mit -en Zähnen". Schade, daß die Namen der wackeren Redner, di« in dieser Art jür die Fröhlichkeit ihrer Kollegen und de» wetteren Publikum- so verdienstlich sorgen, meistens bald in Vergessenheit geraten, weil sie selber ihre grotesken Redewendungen nach Möglichkeit auszumerzen suchen. Sie verdienen oftmals mit mehr Recht geziemenden Dank, als andere Redner, die mit Be- harrltchkeit an der Quasselstrippe saugen, und deren ora- torische Leistungen höchsten» al» ungiftige Tchlafmittel von einigem Werte sind.
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