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man die Augenachse;' die von beiden Augen ausgehenden, gedachten Augenachsen treffen in dem Punkt, auf den nian schaut, zusammen und bilden den sogenannten Sehwinkel, der um so spitzer ist, je weiter sich das geschaute Objekt von den Augen entfernt befindet. Es ist gleichsam, als führte unser Augenpaar beim Sehen nach den verschieden weit entfernten Gegenständen ein beständiges „physiologisches" Winkelmessen aus, was uns als Tiefen- oder Raum- empfindung zum Bewußtsein kommt. Man kann sich leicht davon überzeugen, daß man mit einem Auge sehr mangelhaft räumlich sieht. Man lege einen Bleistift so auf den Rand eines Schrankes oder Tisches, am besten in Augenhöhe, daß man ihn in seiner Länge vor sich sieht und die Spitze nach rechts frei in die Lust ragt. Dann schließe man ein Auge und nehme einen zweiten Bleistift, mit der Spitze nach links zeigend, in die rechte Hand und versuche nun. von der Seite kommend, dis Heiden Bleistifte mit ihren Spitzen zu berühren. Es gelingt erst nach mehreren Tastversuchen und man wird sich wundern, wie weit man manchmal vorbeitrifst. Mit beiden Augen sehend, trifft man jedesmal genau die Spitzen. Der Gebrauch des Augenpaares muß jedoch ebenso er lernt Kerben, wie der, Gebrauch der Beine zum Gehen; denn der Mensch bringt die Fähigkeit des körperlichen Sehens nicht mit auf die Welt. Die Augen müssen sich an die Aufgabe, die Augenachsen konvergierend auf nahe Gegenstände einzüstellen gewöhnen. Neugeborene starren mit parallel gerichteten Augenachsen zur Zimmerdecke, ohne einen Gegenstand, den man dem Gesicht des Kindes bis auf etwa ein halbes Meter nahe bringt, wahrzunehmen. Erst nach einigen Tagen beginnt das Baby richtig zu sehen, in dem es seine Augen auf verschiedene Entfernungen ein- stellen lernt. Es ist deshalb Müttern und Kinderpflegern dringend zu empfehlen, den Kleinen nie plötzlich Gegen stände nahe vor die Augen zu bringen, sondern stets lang sam mit den Sachen, die das kleine Gemüt erfreuen sollen, näher zu kommen, damit sich die Augen allmählich auf die zunehmende Nähe einstellen können. Diese erste „Augen- gymnastik" ist für die Entwicklung des normalen Sehens außerordentlich wichtig. Viele wissen das nicht; denn man kann sehr oft die Beobachtung machen, daß den Babys Gegenstände bis auf 5 Zentimeter Nähe vor die Augen gehalten werden. Man überzeuge sich, daß man in dieser Nähe nicht scharf und in etwa 10 Zentimeter immer noch recht undeutlich und nur mit großer Anstrengung sehen kann. Erst in zirka 20 Zentimeter Entfernung vermag der Normalsichtige deutlich zu sehen; deshalb soll man auch dem Gesicht der Kleinen nie einen Gegenstand näher als 20 Zentimeter halten, wenn man vermeiden will, daß sie das Schielen mit Sicherheit lernen. Das Stereoskop (Körperseher) brachte uns dis Mög lichkeit, auch Bilder räumlich zu sehen; und es ist immer etwas Frappierendes, ein Bild von zweidimensionaler Aus dehnung — eine Fläche — vor sich zu haben, bei dem die Augen in die Tiefe, wie in den dreidimensionalen Raum schauen. Eine kurze Betrachtung über das Zustandekommen des stereoskopischen Sehens dürfte hier allgemeines Interesse finden. Stereoskopische Aufnahmeapparatc besitzen zwei Objek tive, die um den Betrag des normalen Augenabstandes von einander entfernt angebracht sind. Eine mit diesem System gemachte Aufnahme besteht aus zwei fast identischen Bil dern nebeneinander, deren Perspektiven nur um soviel von einander verschieden sind, als der Objektivabstand (zirka 65 Millimeter) bedingt. Es sind also dieselben Bilder, die sich bei der Aufnahme auf der Netzhaut in dem Augenpaar des Photographen abbildeten. Betrachtet man nun die fer tigen Stereoskopbildcr mit dem Stereoskop, dann werden die Augen gezwungen, denselben Sehwinkel miteinander zu bilden, den sie beim Schauen in die Wirklichkeit hatten. Beim stereoskopischen Sehen sicht man mit dem rechten Auge das rechte und mit dem linken Auge daS linke Bild, und die Augen suchen dasselbe infolge der in die Ferne ge richteten Augenachsenstellung (Sehwinkel) im Raum weit hinter der Bildebene der Photographie. Das stereoskopische Sehen ist also physiologisch nichts anderes als eine optische Täuschung. Da der Augenabstand im Verhältnis zu der Entfernung des geschauten Objektes um so kleiner ist, je weiter daS Objekt entfernt liegt, so muß in irgend einer Entfernung eine Grenze für die Tiefenunterscheidung liegen; sie be findet sich für besonders gute Augen bei klarem Wetter etwa zwischen einem halben und einem Kilometer. Ueber diele Entfernung, die man die Unendlichkettsgrenze nennt, nimmt man keine Tiefenunterschiede mehr wahr. Hieraus ergibt sich die Tatsache, daß niemand imstande ist, am Horizonte oder über ihn hinaus noch irgend etwa? plastisch zu sehen. Daher erscheint unS eine etwa in 200 Kilometern Entfernung vorbeisausende Sternschnuppe eben so weit, wie der 385000 Kilometer entfernte Mond oder die in unermeßlichen Weiten von vielen Lichtjahren krei senden Fixsterne. Macht man mit einem Stereostop- Photographieapparat eine Aufnahme von sehr entfernten Objekten, dann erscheinen diese im Stereoskop ebenfalls nicht räumlich, und doch ist es gelungen, Stereogramme von Himmelskörpern zu bekommen, bei denen wir Tiefenunter schiede zwischen verschieden entfernten Sternen bei der stereoskopischen Bettachtung sehen können. Wir haben gesehen, daß zwischen Augenabstand bezw. Objektivabstand und Objektentfernung ein bestimmtes Ver hältnis nicht überschritten werden darf, um noch räumlich sehen zu können. Eine einfache Ueberlegung sagt MS, datz wir die Unendlichkeitsgrenze weiter hinausschieben können, also eine vergrößerte Tiefenwirkung erreichen, wenn wir dir Standlinie zweier stereoskopischer Objektive vergrößern, d. h., wenn wir die Objektive weiter auseinanderrücken. Beispielsweise müßten uns die Gegenstände in 500 Meter Entfernung ebenso Plastisch erscheinen wie ein Gegenstand unter normalen Verhältnissen in 5 Meter Entfernung, Kenn wir die llOOfache Distanz des normalen Augenabstandes, das sind 6,5 Meter, als Standlinie für eine stereoskopische Doppelaufnahms benutzen. Handelt es sich aber darum, einen Stern, einen Planeten von seinem Fixsternhinter- grunde im Stereoskopbild sichtbar loszulösen, dann ist eine Standlinie erforderlich, die den Durchmesser unserer Erd« bei weitem überschreitet. Die mittlere Entfernung deSl Saturn z. B. beträgt 1260 Millionen Kilometer; wollten! wir die Standlinie von der Länge des Erddurchmessers gleich rund 12 000 Kilometer, für eine Stereoskopaufnahme vom Saturn ausnutzen, dann bekämen wir nicht die aller geringste Plastik; denn in diesem Falle verhält sich die Objektentfernung zur Standlinie wie 160 000 zu 1 gleich 6,5 Kilometer zum Augenabstand. Wir wissen, daß wir ia dieser Entfernung keine Tiefenunterschiede mehr wahr- nehmen können. Wie hat man es nun fertig gebracht, eine Standlinie von mehr als einer Million Kilometer, die für ein Stereoskopbild des Saturn notwendig ist, zu bekommen? Die Sache ist ebenso einfach wie interessant. Die Erde legt in 21 Stunden 2,56 Millionen Kilometer auf ihrem Wege um die Sonne zurück; in derselben Zeit bewegt sich der Sa turn in gleicher Richtung 0,83 Millionen Kilometer weiter? hieraus ergibt sich eins Standlinie von 2,56 bis 0,83 gleich l,73 Millionen Kilometer, die man dadurch praktisch er zielte, daß man zwischen zwei Aufnahmen des Saturns 24 Stunden verstreichen ließ. Tr. C. Pulfrich bat zuerst ein solches Stereostopbild vom Sternhimmel zusammengestellt, das im Jahre 1900 auf tcr Astronomenversammlung in Heidelberg vorgezeigt wurde. Tie Aufnahmen stamnien von der Heidelberger Sternwarte und sind von Prof. Wolf als teleskopische Photographien gewonnen. Tr. Pulfrich hat auch einen „Stereokomparator" genannten Apparat konstruiert, mit