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8». Jahrgang. 132. Tagesschau. Freiberg, den 9 Juni Der deutsche Reichskanzler scheint am Sonntag dem Staatssekretär von Bötticher in Friedrichsruhe den Bescheid ertheilt zu haben, daß der deutsche Reichstag sich noch eine längere Session gefallen lassen müsse. Im offiziösen Auf trage schreiben deshalb die „Berl. Pol. Nachrichten: „Die Thatsache der Ablehnung aller Anträge in der Kommission ann an dem Umstande nichts ändern, daß der Branntwein- tcuerentwurf von den verbündeten Regierungen dem Reichstage und nicht einer Kommission desselben unterbreitet ist, und daß demzufolge auch eine Beschlußfassung des Reichstages vorlicgen muß, bevor eine Entschließung darüber zu sassen ist, ob der cingcschlogene Weg zum Ziele führen kann oder ob ein anderer zu wählen ist. Ist es schon nicht undenkbar, daß bei der Plenarberathung die in der Kommission stark zurückgedrängten großen Gesichtspunkte der Reichsfinanzpolitik in höherem Maße zur Geltung gelangen, so kommt ferner dazu, daß der be kannte Eventualvorschlag der verbündeten Regierungen zwar in der Diskussion mehrfach berührt, aber noch keineswegs ord nungsgemäß zur Berathung gestellt ist. Der Gedanke liegt nahe, wenn wider Berhoffen auch im Plenum über den Prinzipalentwurf eine Verständigung nicht erzielt wird, eine solche Berathung über den Eventualentwurf unmittelbar an die Beschlußfassung über die jetzige Vorlage anzuknüpfen. An Material zur Ausfüllung der alsdann zu gewärtigenden Pausen wird es nicht fehlen. Abgesehen von vem dem Reichstage noch vorliegenden Material, worunter die Abänderung der Eintheilung in die Servisklassen, stehen dem Reichstage noch wichtige und dringliche Vorlagen bevor. Ein Nachtragsetat dürste sich zwar unter denselben schwerlich befinden. Gleich wohl ist noch auf eine längere Dauer der Reichstags session zu rechnen." — Bei der gestrigen Berathung des Lehreranstcllungsgcsetzes im preußischen Herrenhause empfahl der Referent von Maltzahn die unveränderte Annahme der Vorlage und v. Kleist-Retzow versicherte, in der letzteren keine Verfassungsänderung zu erblicken. Der Kultusminister Goßler hob hervor, die Vorlage bezwecke vor Allem, den Schiebungen des Polenthums entgegenzutreten; sie wolle da- Anstellungsrecht in die feste Hand des Staates legen, um die Lehrer aus ihrer gegenwärtigen unmöglichen Lage zu erlösen. Schließlich wurde die Vorlage gegen die Stimmen der Polen unverändert angenommen, ebenso genehmigte man die Vorlage der Gemeindebesteuerung der Offiziere. Unser Kaiser besichtigte gestern Vormittag auf dem Tempelhoser Felde das Garde-Kürasfier-Regiment und di« Garde-Artillerie-Brigade. — Prinz Heinrich von Preußen eröffnete gestern in Kiel die Jakobikirche, zu welcher er vor 4 Jahren den Grundstein gelegt hatte. In dem aus frei willigen Beiträgen hergestellten GotteShause hielt General- Superintendent Imsen die Weiherede. — In Posen hat gestern die Feier der Inthronisation deS Erzbischofs Dinder unter großer Betheiligung deS polnischen Adels und der Be völkerung stattgesunden. Alle Gewerke und die Schützengilde bildeten Spalier. Von dem PalaiS begab sich der Erzbischof zu Fuß unter Geleit der gesammten Geistlichkeit in die Marien kirche, wo ihm die erzbischöflichen Gewänder angelegt wurden und von dort nach dem gegenüberliegenden Dome. Nach Be endigung der kirchlichen Feier hielt der Erzbischof in polnischer Sprache eine Anrede, in welcher er sagte, daß er mit schwerem Herzen, der Weisung deS Papstes folgmd, die hohe verant wortliche Stellung angenommen; er hoffe von der Geistlichkeit, daß sie mit ihm arbeite und von dem Volke, daß eS ihn mit seinm Gebetm unterstütze und seinen Weisungen mit Liebe Folge leiste. — Die am Montag in München bei dem Prinzm Luitpold von Baiern stattgefundene einstündige Konferenz sämmtlicher Staatsminister hat dem Gerücht von der bevor stehenden Einsetzung einer Regentschaft neue Nahrung gegeben. — Der vorbereitende Ausschuß des im September d. I. in Berlin zusammentretenden Naturforscher- und AerztetageS beschloß, auf Anregung des ständigen Ausschusses deS deutschen Kolonialvereins, eine besondere Abtheilung für medizinische Geographie, Klimatologie und Hygiene zu bilden, in welcher die in überseeischen Ländern, besonders in den Tropen gemachten Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen vorzugsweise zum Ausdruck kommen sollen. Der Kaiser von Oesterreich richtete an den Erzherzog Albrecht ein Handschreiben, in welchem er demselben für die selbstlose Hingebung und den Eiser herzlich dankt, mit welchem der Erzherzog sich der mühevollen Reise nach Bosnien und der Herzegowina unterzogen hat. Die Berichte des Erzherzogs über die Verhältnisse und den Geist der dort untergebrachten Truppen, sowie die Ausbildung und Leistungen derselben auf rein militärischem und kulturellem Gebiete haben den Kaiser sehr befriedigt. Die dortigen Truppen, in ihrer Zusammen setzung das ganze Heer darstellend, wirkten in würdigster Weise im Geiste der altbewährten Ueberlieferung der Armee, welche unter allen Verhältnissen mit seltener Pflichttreue und Selbstverleugnung an dem Thron und der Monarchie festhielt und auch künftig ihrer Hohm Bestimmung nachkommen wird. — Am Montag Abend fanden in Pest in der Kerepcsser- straße und vor dem Polizcigebäude wiederum Ansammlungm statt, wurden aber von der Polizei bald zerstreut. Am Sonntag als an dem 20jährigen Gedenktage der Er klärung Roms zur Hauptstadt Italiens ist auf dem Kapitol eine dieses Datum verewigende Marmortafel enthüllt wordm, wobei Cairoli die Festrede hielt. Abends wurde unter massen hafter Betheiligung deS Volkes von der EngelSburg das übliche Feuerwerk abgebrannt. Es herrschte dabei die musterhafteste Ordnung. An demselben Tage wallfahrteten mehr als 20000 Menschen von Turin nach Santena, dem Begräbnißorte deS großen Staatsmanns Cavour. — Zur Eröffnung des italie nischen Parlaments trafen gestern die Mitglieder des Königs hauses in Rom ein. — Nach dem letzten amtlichen Bericht sind an der Cholera in Venedig 21 Personen erkrankt und 12 gestorben, in Bari 3 erkrankt und 4 gestorben. Von zwei am Sonntag in Florenz zur Anzeige gebrachten verdächtigen Er krankungen ist konstatirt worden, daß es sich bei denselben nicht um Cholera handelte. Bei den letzten belgischen Deputirtenwahlen haben di« Liberalen 11 Sitze verloren, so daß die Kammer nun 97 Klerikale und 41 Liberale zählt. In Gent wurden sür di« ausscheidenden acht Liberalen acht Klerikale gewählt; in Tournai wurden Hug, Thuin und die acht Liberalen wiedergewählt; m Verviers drangen ein Klerikaler und ein Liberaler durch. Von dem französischen Ministerrath wurde am Montag ' beschlossen, den von dem Kammerausschuß für den Gesetz- Jnscrakc »erden bis Vormittag 11 Uhr angenom- s mm und betrögt der Pre» sür die gepaltem Zeil« 10OO oder deren Raum 1b Pf- » zugsregierung in Edinburg verlangt. Welchen Eindruck aber die Homerule-Vorlage Gladstones in Irland gemacht hat, das zeigte der in diesen Tagen in Belfast vorgekommene Straßenkampf, welcher durch die Aeußerung eines Katholiken hrrvorgerufen wurde, daß die Protestanten nun Irland bald verlassen müßten. Daraufhin griffen 200 protestantische Arbeiter der Schiffsbau-Firma Harland und Wolff in Queensland 50 katholische Hafenarbeiter so ungestüm an, daß 12 der letzteren durch Knüttelhiebe verletzt, andere ober ins Wasser gestürzt wurden, wobei ein Arbeiter «trank. Noch weit schlimmere Unruhen befürchtet man in der irischen Provinz Ulster, wo die Orangistcn gegen eine Die Verwerfung der Homerule-Bill. Der 8. Juni wird in der neueren parlamentarischen Geschichte Englands als einer der wichtigsten Gedenktage verzeichnet werden, da in den ersten Stunden dieses TageS die mit Spannung erwartete Abstimmung über die zweite Lesung der die Reform der irischen Verwaltung anstreben- dm Homerule-Bill erfolgte. Wie schon gestern unter De peschen mitgetheilt wurde, hat das Unterhaus diese von dem greisen liberalen Staatsmann Gladstone zum Zweck der Beruhigung Irlands mühsam ausgearbeitete Vorlage mit 341 gegen 311 Stimmen verworfen und da mit dem jetzigen Ministerium nur die Wahl zwischen seinem Rücktritt oder der Auflösung des Parlaments gelassen. Im Laufe der Debatte hatte Gladstone nochmals das Wort «griffen und das Haus ersucht, die Bill nicht zu verwerfen. Vor der Abstimmung erklärte der Premierminister noch, wenn die Bill auch falle, werde die Zukunft dennoch der Regierung Recht geben. Nach der Abstimmung wurde die Sitzung auf Antrag des Ministers bis zum Donnerstag vertagt. Das Resultat der Abstimmung hat schließlich Niemand überrascht, trotzdem die sämmtlichen Mitglieder der liberalen Partei sich über die Folgen einer Ablehnung der Vorlage nicht täuschen konnten, weil der Premierminister alle Hoffnungen auf etwaige Zugeständnisse durch seine Halsstarrigkeit ver eitelt hatte. Auf zwei Anfragen des radikalen Unterhaus mitaliedes für Clapham, Fletcher Moulton, antwortete Gladstone erstens, wer für die zweite Lesung stimme, ver pflichte sich nicht für die Einzelheiten, sondern nur für den Grundgedanken der Homerule-Bill, zweitens, daß die Re gierung etwaige Abänderungsanträge zu der im Herbst vor- zulegenden Bill in Erwägung zu ziehen sich verpflichtet halte. Dies bezeichneten aber die ministeriellen Blätter als das äußerste Maß der von Gladstone beabsichtigten Zuge ständnisse, trotzdem der ehemalige radikale Handelsminister Chamberlain bessere Bürgschaften für eine prinzipielle Ab änderung der im Herbste dem Unterhause vorzulegenden Bill als unerläßlich hingestellt hatte. Im Gladstone'jchen Lager hoffte man aber noch immer auf einen glücklichen . Erfolg, weil man auf die Stimmenthaltung der meisten Anhänger Chamberlains rechnete, denen man kaum zutraute, Schulter an Schulter mit dem konservativen Gefolge Salis burys und den von Lord Partington geführten gemäßigten Liberalen gegen den langjährigen anerkannten Führer der englischen Freisinnigen, den Minister Gladstone, angriffs- werse vorzugehen. Um dieser Nachsicht gegen den bewährten aber nur allzueigensinnigen Parteiführer sicher zu sein, richtete das bekannte Unterhausmitglied Labouchere noch in letzter Stunde im Namen einer Anzahl radikaler Parteigenossen an seinen ehemaligen Freund Chamberlain eine dringende Aufforderung, in welcher er denselben inständigst ersuchte, mit seinem Anhang entweder für die zweite Lesung der Homerule-Bill zu stimmen oder sich wenigstens der -Stimmenabgabe zu enthalten. Labouchere wies darauf -hin, daß nur dadurch eine Auflösung oder Zersplitterung der Partei vermieden werden könne. Chamberlain antwortete sofort ablehnend, indem er sich nochmals auf die unklaren und ungenügenden Erklärungen des Premierministers bezog. -Nach dieser Ablehnung war das Schicksal der Vorlage so -gut wie besiegelt, da Gladstone den Wink zu einer nach giebigen Erklärung nicht verstehen wollte, oder aus Rück sicht auf seine dem irischen Parteiführer Parnell gemachten Versprechungen nicht verstehen durfte. Für die liberalen Gegner der Vorlage war in erster Linie das Bewußtsein der Nothwendiakeit der Vertheidigung der Neichsemheit maßgebend. Wie sehr die Letztere durch die Reform- Gedanken Gladstones gefährdet wird, beweist am besten die von der Hochland-Resorm-Liga in Glasgow kürzlich angenommene Resolution, welche auch sür Schottland Homerule mit einem besonderen Parlament und einer Voll- md Tageblatt Amtsblatt sür die Nützlichen und städtischen Behörden zn Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur: In Vertretung Ernst Manckisch in Freiberg. etwaige irische Sonderregierung einen bewaffneten Wider- - stand zu organisiren ernstlich begonnen haben. Bei der langwierigen Berathung der Homerule-Bill im ! englischen Unterhause betonten fast alle Redner die Wirkung, welche die Annahme oder Ablehnung derselben auf die Be völkerung Irlands haben werde. Bis zum Freitag Abend hatten sich bereits 97 Redner, darunter 11 Minister, an der Verhandlung über diese irische Verwaltungs-Reform-Bor- lage betheiligt; davon hatten 36 Liberale und 17 Nationalisten für und 20 Liberale und 24 Konservative gegen die Bill gesprochen. Bis zu der am Dienstag früh erfolgten Ab stimmung dürften sich demnach weit über hundert Redner über die Vorlage eingehend geäußert haben, ohne daß der Ausfall der Entscheidung wesentlich durch diese rednerische Ergüsse beeinflußt worden wäre. Mit Ausnahme des Gladstone'jchen Organs „Daily News" drücken alle Londoner Blätter große Befriedigung aus über die Verwerfung der Bill. Die „Times" bezeichnet die Mehrheit gegen die Bill als eine über alle Erwartung entscheidende und sieht ein ähnliches Verdikt gegen Homerule bei den kommenden Neu wahlen voraus. Das konservative Blatt „Standard" sagt, die Niederlage der Regierung sei entscheidend, Gladstone habe seinen Ruf als Staatsmann vernichtet und die Unter stützung seiner Partei eingebüßt. Wenn er an die Wähler appellire, so werde er erfahrm, daß er auch das Verträum des Landes verloren habe. Auch das liberale Organ „Daily News" schreibt, das Land müsse nun zwischen dem Ministerium und dessen Gegnern die Entscheidung treffen. Das Blatt erfährt, Gladstone werde sofort die Genehmigung der Königin zur Parlamentsauflösung nachsuchen. Noch bevor die entscheidende Abstimmung im englischen Unterhause erfolgte, hatte der greise Premierminister Gladstone, der sich über den Ausgang schließlich nicht mehr täuschen konnte, eine Kabinetsrathssitzung an- >eraumt. Ihm schien nun jeder Verzug mißlich und deshalb sollte das Ministerium sofort nach der Verwerfung der Homerule-Bill über die nothwendigen Maßnahmen für die Auflösung des Parlaments und die schleunige Berufung an das Land die erforderlichen Beschlüsse fassen. Das britische Reich steht jetzt vor einer ernsten Krisis, denn die zu erwartenden Neuwahlen werden voraussichtlich unter einer ganz ungewöhnlichen Erregung der Bevölkerung er folgen und noch vor diesen Wahlen ist eme stürmische Agitation zu erwarten, bei der nicht die alten konservativen und liberalen Schlagworte der Whigs und Tories, sondern die neuen Losungen „Erhaltung der Reichseinheit" und „Frieden mit Irland" die Gemüther auf's Höchste ent- lammen werden. Erscheint ledai Wochemao NachmiN. L Uhr sür den > , „ - , M! Donnerstag, den 10. Juni zwemunatuch 1 M. r>0 M. und ttrnnonom« v*. I