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Eibenstock, ven 30. Oktober 193S Bücher sind Freunde Wir lesen einen Roman Viele Leute werden erstaunt den Kopf schütteln und sagen: „Wie man einen Roman liest? Furchtbar einfach! Man schlägt das Buch irgendwo und irgendwie auf und liest." Man pflegt solche Leute, die zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten lesen, „Leseratten" zu nennen, und viele be zeichnen sich selbst mit diesem Namen, sie betrachten es als eine Art Auszeichnung, und man muß es ja in der Regel loben, wenn ein Mensch so um seine Bildung bemüht ist. Denn lesen, viel lesen, bedeutet Bildung. Es fragt sich nur, was man liest. Jeder Mensch, der liest, gehört nämlich durchaus nicht zu den Gebildeten. In der Großstadt kann man eine Menge Halbwüchsiger beobachten, die in den Straßenbahnen, in der Untergrund und im Autobus inhaltlose Lektüre mit den Augen geradezu verschlingen — und man kann sicher sein, daß sie sich auf ihre Lesewut noch etwas einbilden. Der Deutsche schätzt die Bildung eben sehr hoch und zählt sich gerne zu den Gebildeten, das ist gewiß ein ganz lobenswerter Zug. Aber man kann gewiß sein, daß man auf diese Weise die glühend gewünschte Bildung nicht erlangt. Es gibt wieder andere Leute, die Romane ganz und gar verachten und sie als verlogen und überspannt bezeichnen. Das ist nun weit über das Ziel hinausgeschossen. Gewiß gibt es eine Menge wertloser Bücher, die ein vollkommen falsches Bild vom wirk lichen Leben geben. Romane, in denen die Freiherrn, Schlösser, Diamantendiebstähle und unwahrscheinliche Dinge aller Art ein' blühendes Leben führen. Aber diese Art Romane sind nicht gemeint. Von vornherein handelt es sich hier nur um die wirklich guten Bücher, die uns schon durch Leute, die etwas davon verstehen, empfohlen sind, und die zu lesen uns ein Genuß und Herzens bedürfnis sind. Der wirklich gute Roman bietet ein ge naues Abbild des menschlichen Lebens, und wir sehen uns in den Zeilen selbst wider- gespiegelt. Mag auch einmal die Fabel etwas von der unseres eigenen Geschicks ab weichen, irgendein Berührungspunkt bleibt immer vorhanden, bei dem der Leser ergriffen den Kopf senkt und sagt: „Ja, gerade das habe ich auch empfunden, gesagt oder ge dacht, nur habe ich es nicht so gut aus drücken können." Ist man zu dieser Einsicht gekommen, so wird einem das Buch ans Herz gewachsen sein, ein Freund, den man immer um sich haben will Man wird bestrebt sein, sich mit diesem Freund zu unterhalten Aber kann man das so zwischen Tür und Angel, um geben von Lärm und in einer Umwelt, die nicht zu dem Gespräch paßt? Nein, man kann es nicht! Man ist versucht, in die Ein samkeit zu flüchten, sich einzuschließen mit seinem Freund, ungestört die Unterhaltung zu führen, und da wären wir also schon bei der Ueberschrift: Wir haben gefunden, daß es einer gewissen Sammlung bedarf, uni einen Roman zu lesen. Schon wenn man das Buch aufschlägt, Hai man eine gewisse freudige Erregung, wie man sie bei dem Besuch eines geliebten Menschen empfindet, man hat noch das Ge fühl, ungeahnte Abenteuer zu erleben. Das Buch liegt vor uns wie ein versiegeltes Ge- heimnis, wir zögern ein wenig, um den Genuß noch hinauszuschieben — und dann lesen wir andächtig und mit Versenkung Wort für Wort, bis uns der Schwung der Handlung, das Uebermaß der Gefühle fort- reißt und wir in Eile und Hast die Seiten umblättern, voll Spannung und Aufmerk samkeit, in der Angst, es könnte uns eine Zeile verlorengehen. Legen wir eS aus der Hand, so erlebe« wir das Ganze noch ein« Photo: Dr. Weller-Bavaria 7s? ^57^ — mal, wir lassen alles noch einmal durch unser Bewußtsein wandeln, alle die Per sonen, die uns mit Anteilnahme erfüllt haben und deren Schicksal mit dem unseren irgendwie eine innere Verwandtschaft auf weist. Man muß zugeben, daß man dieses alles nicht im Porbeifliegen erleben kann, daß eine Ruhepause und eine Läuterung dazu gehören. Es ist gar nicht so einfach, wenn man genau hinblickt, einen Roman richtig zu lesen. Es gibt eine Menge Leute, die sich weder Titel noch den Namen des Autors merken können. Das ist eine grobe Unsitte! Der Titel steht eben nicht so umsonst da, wie der flüchtige Leser vielleicht denken mag. Er ist das Leitmotiv für das ganze Buch, er ist sorgfältig und mit vieler Mühe ausgewählt, er hat dem Autor, den man liebt, wohl gemerkt, schlaflose Nächte gemacht, und es ist darum rücksichtslos und gedankenlos, ihn zu vergessen. Der Name des Schriftstellers aber ist für uns selbst am wichtigsten, denn er ist uns eine Gewähr für die Qualität, wir wissen genau, wenn wir wieder ein Buch von demselben Schriftsteller angckün- digt sehen, daß es für uns in Betracht kommt, daß es unser Freund ist, der dis verwandle Ader in unserer Brust aufspüren kann, und darum ist es wichtig, seinen Ramen zu kennen und zu behalten. Ver gessen wir etwa im wirklichen Leben den Ramen unseres Freundes? Wir würden lache«, wenn wir daran dächten, daß wir ihn je vergessen könnten. Die Namen der Schriftsteller aber vergessen wir. Und doch sind sie manchmal unsere Aerzte, und nur die Medizin ihres Buches kann uns heilen, denn die meisten unserer Krankheiten sind ja seelischen Ursprungs. Meistens sagt jemand, der nach einem solchen Namen gefragt wird: „Ja, hat der nicht mal etwas über eine Familie ge schrieben, die verarmt ist und die irgendwie nachher durch einen Sohn wieder zu An sehen und Wohlstand kommt?" Das ist natürlich gar keine Bezeichnung. Aehnliche Romane werden sehr viel geschrieben, aber das Einmalige dieses Romans, das für uns in Betracht Kommende, hat eben nur dieser Mensch geschrieben, dessen Namen wir vergessen haben, von dessen Buch wir außerdem den Titel nicht mehr wissen.. Wir können also nicht einmal jemandem dieses Buch empfehlen, nicht einem anderen, der vielleicht ebenso trostbcdürftig wie wir, diesen Roman nennen, er ist auf ewig unS entschwunden, ganz und gar ausgelöscht. Gewiß, wir können immer einen gleich guten bekommen, aber nie diesen einen, an dem unser Herz hängt. Es erfordert schon Hingabe, das Lesen von Romanen. Es kommt nicht nur darauf an, Titel und Ramen zu behalten, sondern den Extrakt des Buches in sich aus genommen zu haben, denn eS soll mehr sei« als «in» flüchtig« Unterhaltung. V.L. Wenn man einen Menschen hätte Von Paul Reinke Der kleine Herr Rauh betrieb in der Seitenstraße der großen Stadt eine Leih bücherei. Ein kleiner Laden, an dessen Wän den die Regale mit den Büchern standen. In seiner Kartei stand auch Fräulein Traute Müller, als Leserin. Herr Rauh findet diese Kundin besonders nett, da schon allein ihr Helles, sonniges Wesen viel Freude macht, ihr ein Buch geben zu können. Wenn sie es dann zurückbringt, hört er von ihr, ob sie mit dem Roman zufrieden war. Ach ja, die Bücher, sie heitern einen auf, bringen einen über Stunden, von denen man sonst spüren würde, sie umsonst vertan zu haben. Zeigen einem Schicksale, locken zu Träumen. Jedes Herz sucht nach Er füllung. Das eine hier, das andere dort Bestimmt ist Traute mit ihren dreiund zwanzig Jahren ein nettes, junges Mädel, mit Anrecht auf Glück. Glück? Ein Arbeits platz, den man ausfüllt. Kleine Ver gnügungen. Nette Bekannte. Aber dann am Ende bleibt doch immer nur das kleine möblierte Zimmer und das Buch, in dessen Seiten man untertaucht in dem Leben seiner Personen. Manchmal empfindet Traute eine Furcht, eine Angst bei dem Gedanken — alt werden. Nutzlos alt werden. Nein, so darf es nicht kommen. Leise tickt im Zimmer die Uhr, Traute hat das Fenster auf. Die herbe Luft füllt den Raum. Das Buch vor ihr spiegelt kein großes Geschehen. „Wenn man einen Menschen hätte." Dieser Satz am Anfang eines neuen Kapitels leuchtet hell hervor, leuchtet. Er mußte ja auch leuchten, denn er war rot unterstrichen. Irgendein Leser, der vor ihr das Buch hatte, der einsam wie sie, unterstrich diesen Satz. Am Ende auch eine Frau. Oder jemand, der einen verloren hatte. Wer weiß, Wer kann es sagen, was einen Menschen bewog, diesen Satz im Buch der Leih bücherei zu unterstreichen. Noch lange muß Traute an diesem Abend an diesen Satz denken, ja, er trägt sie hin über ins Reich der Träume: Wenn man einen Menschen hätte/ Als Traute das Buch zurückbringt, fragt sie Herrn Rauh, wer vor ihr das Buch hatte. „Einen Augenblick", meint der Mann. „Buch Nummer 2087, eine Neuanschaffung, vor Ihnen hatte das Buch Herr Menge." Der junge Mann, der am Regal gestanden hatte, wendet sich um. „Ja, bitte." — „Ach nichts. Das Fräulein wollte nur wissen, wer das Buch vor ihr hatte, und da habe ich fest gestellt, daß Sie es waren." — Der junge Mann ist herangetreten. Ja, er schaut Traute groß an. „Nicht besonders. Hat es Ihnen gefallen?" — „Teils, teils", ant wortet Traute. Der Zufall will es, daß sie zusammen das Geschäft verlassen, sie gehen zusammen auch noch ein Stückchen. „Hatten Sie den Satz unterstrichen?" fragt Traute. „Welchen Satz?" „Nä den in dem Buch: .Wenn man einen Menschen hätte.'" „Warten Sie mal, rot unterstrichen. So, jetzt weiß ich auch, wer meinen neuen roten Drehbleistift hat. Na warte, du Lausejunge, laß mich heim kommen. Verzeihung, aber mein Bruder, sechzehnjähriger Lümmel. Aber der kann was erleben." „Warum denn? Hat dieser Satz denn keinen Wert, um besonders beachtet zu werden. .Wenn man einen Menschen hätte.'" „Ja, Sie haben recht", sagt der junge Mann. „Einen Menschen müßte man haben." Sie gehen beide noch lange an diesem Abend. So ist das Leben in seiner Erfüllung. Komisch und ganz anders als man denkt. Weil jemand aus einfacher Lausbuberei ein paar Wörter in einem Buch unterstrich, wned« et« Glück — ei» gang große» Glück.