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8778 Börlenblatt s, d. Dtschn. Buchhandel Nichtamtlicher Teil. 192, 19. August 1808. gegen fünf Uhr nach Hause, ohne zu merken, daß man eine Nacht ihrem eigentlichen Zwecke entzogen hat. Wer will es den Peters burgern auch verargen, wenn sie in dieser wunderschönen Zeit, die leider nur kurz ist, das Leben nach Möglichkeit genießen I Der Winter ist lang und rauh; um so mehr muß man die Sommer zeit ausnützen. — Nachdem ich meine Geschäfte in der Hauptsache erledigt, blieben mir noch einige Tage zu einem Abstecher nach Hel- singfors, der für mich um so interessanter war, als die Buch händler-Verhältnisse in dieser Stadt mir bis dahin völlig terra inooxnita waren. Die Fahrt mit den schmucken Dampfern der zwischen Petersburg und Stockholm verkehrenden finnischen Dampf schiffahrtsgesellschaft ist der Eisenbahnfahrt entschieden vorzu ziehen. Die Dampfer fahren von Wassili-Ostrow ab. Es glückt mir sogar, eine Kabine für mich allein zu erhalten; so sehr ich sonst für Geselligkeit schwärme, auf der Reise teile ich nicht gern den Schlafraum mit irgend einem mir unbekannten Reisegenossen. Der Verkehr auf diesen Dampfern ist sehr lebhaft; die Gesell schaft setzt sich aus Vergnügungsreiscndcn, Geschäftsleuten und Offizieren zusammen. Man spricht Deutsch als Konversations sprache, hört aber auch russische, finnische und schwedische Laute Wunderbar ist das Bild, das Petersburg von der Newa aus bietet; der langgestreckte Newakai, die sich über den breiten Strom dehnenden Brücken mit ihrem lebhaften Verkehr, die lange Reihe der an der Newa schimmernden Paläste, der rege Schiffsverkehr, das alles bietet ein imponierendes Bild von der Hauptstadt des größten Reiches in Europa. Langsam durchschncidet der Dampfer die Fluten des See kanals, der es auch Hochseeschiffen ermöglicht, ohne zu leichtern, im Petersburger Hafen anzulegen. Ich sitze auf Deck und lasse das Panorama an meinen Augen vorüberziehen. Ein schüchterner deutscher Jüngling neben mir bestellt sich eine Portion Thee -mit«. Als er die Kellnerin mit einer Flasche Rum ankommen sieht, bricht er entsetzt in die Worte aus: -Aber Fräulein, muß ich die ganze Flasche allein austrinken?« Zu seiner Beruhigung schenkt ihm die Kellnerin nur ein kleines Gläschen voll. Wir passieren Kronstadt; im Kriegshafen liegen einige russische Kriegsschiffe, die Überreste einer einst großen Flotte. Die Ufer des Finnischen Meerbusens treten mehr und mehr zurück. Das Wetter ist trüb, aber windstill und warm; vor uns steigt eine starke Nebelbank auf, die aus stürmisches Wetter deutet. Man plaudert, ergeht sich auf dem Verdeck und ist angenehm berührt, als gegen Abend die Gongtöne erschallen und zum Diner rufen. Das Essen ist reichlich, gut zubereitet, die Tafel ist hübsch arrangiert, die Gesellschaft angenehm und lebhaft. Ich sitze neben einem russischen Oberst und einem Stettiner Kaufmann. Wir sind in lebhafter Unterhaltung; besonders der Oberst, der nebenbei bemerkt die deutsche Sprache sehr gut, wenn auch mit russischem Akzent spricht, ist ein unermüdlicher Erzähler. Cr schwärmt von seinen Bärenjagden, lädt mich auch zu einer solchen für den kommenden Winter ein. Leider kann ich keinen Gebrauch davon machen, da ich es noch nicht zum Rentier gebracht habe. So sitzen wir lange bei verschiedenen Flaschen Rotspon in angenehmem Geplauder zusammen, endlich gegen 1 Uhr nachts — im Osten zeigen blutrote Streifen den nahen Sonnenaufgang an, — steigen wir in die Kabinen. Inzwischen ist es draußen stürmisch geworden, der Dampfer hebt und senkt sich und schlingert be denklich. Will Agir von mir sein Opfer haben? Es wäre schade um das schöne Diner. Gott sei Dank erweist sich der Wein als starker Schutzgeist, und ich erwache erst am späten Morgen; es bleibt mir gerade noch Zeit, Toilette zu machen, um in Helsingfors an Land zu gehen. Hier merkt man sofort, daß man aus dem eigentlichen Ruß land heraus ist. Kein Gendarm empfängt die an Land gehenden Paffagiere, niemand fordert unfern Paß; man fühlt unwillkürlich, daß man sich hier frei bewegen kann. Die Stadt ist sehr hübsch gelegen, die Straßen sind breit und sauber, die öffentlichen Gebäude und auch die Prtvathäuser zeigen solide Bauart. Die Finnen haben schon einen sehr starken Ein schlag westlicher Kultur, und man könnte nur bedauern, wenn sie ihre Selbständigkeit gegenüber den russischen Assimilierungs- versuchen nicht bewahren würden. Die zahlreichen Sortiments- und Verlagsbuchhandlungen zeugen von rührigem geistigen Streben; die vielen Studenten der Universität Helsingfors in ihren weißen schwedischen Mützen geben dem Straßenleben ein bewegtes Bild. Es sind jugend frische, angenehme Gestalten, weit sympathischer als die meisten ihrer russischen Kollegen, die in schmutziger, salopper Kleidung und mit ungeschliffenen Manieren beredtes Zeugnis von der Unzulänglichkeit russischer Gymnasialerziehung geben. Die Sortimentsbuchhandlungcn in Helsingfors kann man durchweg als Muster vorzüglich und praktisch eingerichteter Sorti mentsgeschäfte hinstellen. Die Lager sind groß und geräumig, es herrscht peinliche Sauberkeit, die Bücher stehen tadellos in Reih und Glied, und selbst in den dem Publikum nicht zugänglichen Räumen wird man irgendwelche -Abladestellen- nicht entdecken. Lange, mit Bordkanten versehene Auslagetische ermöglichen es dem Publikum, von allen Seiten heranzutreten und in Ruhe die ausliegenden Neuheiten in Augenschein zu nehmen. Der Fuß boden ist mit Fliesen bedeckt und damit einer Staubentwicklung weniger zugänglich. Finnische und schwedische, überhaupt nordische Literatur nimmt wohl die erste Stelle ein; danach aber ist der Absatz deutscher, französischer und englischer Literatur ein ganz bedeutender. Im Gegensatz zu Petersburg ist man hier mit dem Geschäfts gang nicht unzufrieden; man fürchtet nur, daß die Russen, nach dem sie in den Jahren des Sturmes und Dranges die finnische Verfassung respektiert haben, jetzt wieder mit ihren Assimilierungs- versuchen erneut und mit bekannter Rücksichtslosigkeit Vorgehen. Das wäre ein großer Schaden für das Land. Denn an Kultur bedeutend höher stehend als der Russe, jetzt noch im Besitz einer freiheitlichen Verfassung, würde der Finne in seiner Entwicklung zurückgedrängt werden. Da man anderseits im Lande selbst nicht gewillt ist, sich die verfassungsgemäß garantierten Freiheiten stillschweigend nehmen zu lassen, so sieht man der ferneren Entwicklung mit einiger Besorgnis entgegen. Auch die Verlagsbuchhandlungen machen einen vorzüglichen Eindruck; man findet überall Helle, freundliche Räume, gediegene Möbel und Holzbekleidungen geben den Räumen ernsten, ge schäftsmäßigen Ausdruck. Ich mußte unwillkürlich an die engen, altertümlichen Bureauräume verschiedener deutscher Verleger denken. Hier Licht, dort Schatten! Ernst und gediegen wie die Räume ist auch das Auftreten der Geschäftsherren. Kühl wägt man das Für und Wider einer jeden Sache ab. Hat man einen Entschluß gefaßt, so geht man mit aller Gründlichkeit an die Ausführung. Wohl arbeitet man hier langsamer als bei uns, wo Zeit und Kraft scharf ausgenutzt werden müssen; aber was geschafft wird zeigt Eigenart, ist fehler los und solide. Kleine Mitteilungen. * Esperanto-Kongretz. — Der 4. internationale Esperanto- Kongreß wurde am 17. d. M. in Dresden durch den Vorsitzenden des 3. Kongresses (Genf) Colonel Pollen-London eröffnet, der darauf den Vorsitz an Ör. Mybs-Hamburg abirat. Der Kongreß ist über Erwarten zahlreich besucht. Als Vertreter Sr. Majestät des Königs von Sachsen war der Königliche Kämmerer von Criegern erschienen. Vertreter der Staats- und städtischen Behörden wohnten gleichfalls der Eröffnungssitzung bei. Be grüßungsansprachen hielten Geheimer Schulrat Lange, im Auf träge der Ministerien des Kultus und des Innern, und Ober bürgermeister Beutler, namens der Stadt Dresden. Beide An sprachen wurden sofort in Esperanto übertragen und fanden dankenden Beifall. Zahlreiche Delegierte brachten die Grüße von Regierungen und wissenschaftlichen Korporationen zum Ausdruck. Mit großem Beifall wurde vr. L. Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, begrüßt. Er sprach über den idealen und realen Wert des Esperanto und hob mit dankbarer Anerkennung die auf dieser Versammlung zum ersten Male betätigte Unterstützung der Regierungen hervor. * Esperanto-Ausstellung. — In Verbindung mit dem gegen wärtig in Dresden tagenden 4. internationalen Esperanto- Kongreß ist in der dortigen Technischen Hochschule eine inter nationale Esperanto-Ausstellung am 16. d. M. eröffnet worden.