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4062 Nichtamtlicher Teil. 106. S. Mai 1S04. Zuviel Verleger und daher auch zuviel Bücher: Wir begegne:: hier denselben Klagen über die heutige fabrik mäßige Herstellung des Buches, die wir schon in der Um frage der »Revue- kennen gelernt haben. Der Verleger ist stets mit dem Druck neuer Bücher beschäftigt, so daß er keine Muße findet, sich für das einmal erschienene zu ver wenden und es seinem eigenen Schicksal überlassen muß. Dentu z. B. veröffentlichte seinerzeit durchschnittlich einen Band pro Tag! Nach einer allerdings nicht ganz neuen Statistik ist Frankreich dasjenige Land, in dem im Verhältnis zur Kopf zahl der Einwohner am meisten verlegt wird, je ein Buch auf 1600 Seelen. Deutschland nimmt in dieser Schätzung erst den sechsten Rang ein (ein Buch auf 2800 Einwohner), doch fügt Baillidre hinzu, daß sich das Verhältnis für Deutschland ohne Zweifel wesentlich geändert habe. Früher schrieb man ein Buch, wenn man etwas Neues zu sagen hatte; jetzt erfindet man zuerst einen originellen Titel, läßt einen schönen Umschlag dazu zeichnen und sieht schließlich zu. was man nun auch in das Buch hineinbekommt. Daß sich die Buchausstattung in den letzten Jahrzehnten ganz besonders des Buchumschlags angenommen hat. kann ich nicht mit dem Verfasser tadeln und kaum glauben, daß er selbst zu der Zeit vor 1810 zurückkehren möchte, wo über haupt schon der gedruckte Umschlag eine Neuerung bedeutete. Der Rückgang des französischen Bücherexports wird zum Teil auf den heute in gewissen zivilisierten Ländern noch erlaubten Nachdruck zurückgeführt (vgl. wieder die »Revue-). Nach Baillidre kommt dieses Übel als Ursache der modernen Krise kaum in Betracht, wenn wir damit die Zahlen ver gleichen. die der belgische Nachdruck in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dem französischen Verlagsbuchhandel entzogen hat. Der belgische Bücher export. der zum allergrößten Teil aus nachgedrucklen franzö sischen Werken bestand, war von 146 000 Franken im Jahre 1834 auf mehr als l'^ Millionen im Jahre 1846 gestiegen. Die französischen 7 Frcs. SO Cts.-Bände (damaliger Normal preis) wurden in Belgien für 1 Frc.. sogar für 7S Cts. her- gestellt. Balzac. Frankreichs erfolgreichster Romancier in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, rechnete für sich allein einen Schaden von einer halben Million infolge des belgischen Nachdrucks heraus. Der Verramschung der Verlagswerke (»I»ss scääss») widmet Baillidre ausführliche Betrachtungen, sieht er doch in der dadurch hervorgerufenen Diskreditierung des Buches als Ware einen der Hauptübelstände im heutigen französi schen Buchhandel. Er verdammt das Ramschgeschäft über haupt und in allen Formen. Wir können das kaum billigen, denn das »moderne Antiquariat« hat gerade wegen der Überproduktion unter gewissen Voraussetzungen seine volle Berechtigung, seine Notwendigkeit. Es ist ja nicht eine Ursache, sondern eher eine Folge der Bücherkrise. Gewiß begegnen wir gerade hier schlimmen Auswüchsen; welcher Teil geschäftlicher Praxis brächte aber solche nicht mit sich? Ein gutes Buch ist zur Zeit seines Er scheinens nicht »gegangen» — aus vielerlei Gründen. Sei es. daß es zu teuer war. sei es, daß es der Verleger nicht verstanden hatte, die dafür in Betracht kommenden Kreise zu interessieren, oder daß der Zeitpunkt schlecht ge wählt war. Daß dieses Werk nun im Wege des Restbuch handels eine neue Auferstehung feiert und mit herabgesetztem Preise jetzt seine richtigen Käufer findet — ich erinnere nur an Carus Sternes Werden und Vergehen — dürste weder den Interessen des Verlegers noch denen des verständigen Publikums Schaden bringen. Baillidre faßt bei seinen Be trachtungen über die »Loläss« fast ausschließlich den 3 Frcs. 50 Cts.-Romanband ins Auge. Mag dieser im französischen Buchhandel auch eine bedeutend größere Rolle spielen als z. B. unsere Belletristik im allgemeinen, so ist er schließlich doch nicht der einzige Faktor, auf den die Buch krise die ganze Verantwortung abwälzen darf. Und ist es wirklich ein Unglück, wenn Romanschreiber dritten und vierten Ranges ihren Fabrikaten schon nach ein bis zwei Jahren in den Kästen der Bouquinisten am Seinequai wiederbegegnen, wo sie nun im Laufe der Jahre aus dem Kasten »4 1 Frc.- vielleicht bis zu »4 10 Cts.» ab wärts wandern? Ich teile eher die Meinung eines Kollegen Baillidres, der seine Ansicht hierüber in ganz origineller Weise etwa folgendermaßen ausdrückte: »Es ist niemals gut. einen großen Verlagskatalog aufweisen zu können, dessen Lektüre eher an einen melancholischen Spaziergang auf dem Kirchhofe erinnert, wo man auf den Gräbern die ver moderten Namen der Verstorbenen und Vergessenen ent ziffern kann». Daß jeder Verleger übrigens das Recht hat. seine Ver- lagswerke zu verschleudern, ist im vorigen Dezember zu seinen gunften vom Pariser Gerichtshof entschieden worden. Es handelte sich um die Klage des bekannten Romanschrift stellers und Dramatikers Alfred Capus gegen Paul Ollendorsf. Das Urteil dürfte auch für uns Interesse haben. Es erging dahin, daß der Verleger das Recht besitze, seine Verlags werke zu einem Preise abzugeben, der unter dem üblichen bezw. im Verlagskontrakt festgesetzten Ladenpreise steht, vorausgesetzt, daß er dem Verfasser gegenüber seine Honorar verpflichtungen erfüllt hat; ferner daß der Verleger berechtigt ist. sein finanzielles Interesse ebenso sehr zu wahren als das des Autors. Baillidre sagt aber ganz richtig, daß der Miß brauch des Ramschgeschäfts am ersten schädigend auf den Ur heber selbst zurückfällt, da das Publikum und der Sortiments buchhändler schließlich dessen neuen Publikationen Mißtrauen entgegenbringen. Das moderne Antiquariat, das bei uns relativ neueren Ursprungs ist. scheint in Frankreich schon lange zu blühn; wir ersehen dies daraus, daß schon 1840 die Firmen Lebigre, Pigoreau, Desbleds, Delahaqs als »Knochenhäuser - des Buchhandels aufgezählt werden (IVarös, äs I» Patents 4 impossr an librairs-öäitsnr. l?ar!s 1844). Wir können die Aufzählung der einzelnen Formen des Ramschgeschäfts über gehen. die Wesentliches zur Kenntnis der Ursachen der Bücherkrise nicht beitragen. Auch die Aufstellung der »speziellen Krisen- lehrt uns nichts wesentlich Neues zur Beurteilung französischer Verhältnisse. Wie bei uns so hat auch in Frankreich das Interesse an Prachtwerken und Gedicht büchern gegen früher sehr nachgelassen. Wie sehr die Roman fabrikation schon seit Jahren angewachsen ist, ersehen wir daraus, daß im Jahre 1895 unter 19 000 in der RibUo- grapbis äs Is. Ib-anes aufgenommenen Büchertiteln 3000 Romane verzeichnet waren. Hinsichtlich der Schulbücher be zieht sich Baillidre auf die in der Revue-Enquete veröffent lichte Antwort Delagraves. die er genau wiedergibt. Die religiöse Literatur (Invrss äs pists) leidet sehr unter der Aus weisung der Kongregationen und dem Verbot des kongre ganistischen Schulunterrichts. »Zuviel Sortimentsbuchhändler!- rout comms ober vous. Nur daß in Frankreich das Rabattunwesen infolge des Konkurrenzkampfes unter ihnen viel schlimmer geworden ist und die Aussicht auf Besserung dieser Zu stände eine geringe ist. Neben den Klagen über die mangelhafte Bildung und Ausbildung des Sortimenters, die wir ebenfalls von der Revue-Enquete her kennen, beschäftigt sich Baillidre ein wenig eingehender als diese mit der Lage des Provinzialsortiments, das. wie seinerzeit schon betont wurde, das Interesse bei Beurteilung der Buchkrise vor allem