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2MSS Erlebnis in einer kleinen Sindt „Alles aussteigen!" höre ich eine laute Stimme sagen. Erschreckt fahre ich aus meinem Schlummer auf und sehe in das dicke rote Gesicht des Schaffners, der vor mir steht. „Sie müssen aussteigen", sagt sein großer Mund nochmals, und resolut greift er jetzt nach meinem Koffer. „Aber das kann doch nicht möglich sein, ich will doch noch weiter", kann ich nur er schreckt stammeln und ihm erklären, wohin ich will. Nachsichtig lächelnd erklärt mir der Beamte, daß ich zu weit gefahren sei und nun keinen Anschlußzug bekäme. „Der nächste Zug geht", und dabei zieht er ge wichtig sein Kursbuch heraus, befeuchtet seinen Finger und reißt die Seiten seines Buches herum. „Der nächste Zug geht zwei Stunden später." Ich knicke völlig zu sammen. So stehe ich denn innerlich furchtbar wü tend aus dem kleinen Bahnhof. Alles ist wie ausgestorben, kein Gepackmann, nichts ist zu sehen. Ich beschließe, in die kleine Stadt zu gehen. Zwei Stunden, welche Un endlichkeit! Als ich das Bahnhofsgebäude verlasse, kommt mir der Duft von Flieder entgegen, der aus der dichten Hecke, die den Bahnhof umgibt, herüberweht. Es ist Mit tagszeit. Der Fliederduft und das Glänzen der Sonne stimmen mich versöhnlich. Lang sam schlendere ich der alten Kastanienallee entgegen, die zum Stadtwall führt. Tief senken sich die Aeste bis zur Erde, und die ganze Allee ist ein Dom geworden, der un zählige Kerzen angestcckt hat. Ganz seltsam selig wird mir zu Mute. Es ist mit einem Male wie Kindheit, alles was die Großstadt verschüttet hat, wacht . auf. Es wird so unwichtig, so fern, was mich bis jetzt noch bewegte, so, als hätte es nie zu mir gehört. In mir ist ein großes Staunen und nur Gegenwart. Ich höre, wie die Finken ihr Lied in die Stille des Mittags hineinjubeln und fühle plötzlich die Schönheit der alten Bäume. Ihre Stämme find rissig und verwittert. Das Licht zaubert tausend Farbenreflexe vom dämmrigen Grün bis zum leuchtenden Gold der Sonne. Wo das Blätterdach ein Loch hat, leuchtet das strahlende Blau des Frühlingshimmels hervor. Immer neue Wunder entdecke ich «nd werde wieder Kind mit einer Märchen neugier im Herzen. Vor mir liegt jetzt die alte Stadtmauer. Breite dicke Steine, die von der Sonne warm sind, spiegeln sich im Stadtgraben, der träge und schwarz daliegt. Das Wasser ist am Rande mit grünen Algen bedeckt, dick «nd faul hockt ein Frosch dazwischen. Die alte Mauer sieht so recht zerfetzt aus. Ueber- all lugt Gras hervor, das in der Sonne glänzt. Auch hier die klingende Stille, die sich mit dem Sonnenflimmern vermischt. Ueber die Mauer ragen einige Flieder büsche und Winken mit vollen Dolden her über. Die Stille wird nur unterbrochen vom Finkenschlag und dem Summen der Bienen in den Kastanien. Ich lehne am Holzgeländer der kleinen Brücke. Meine Hände falten sich, ich bin wunschlos geworden. Zögernd durchschreite ich das alte rote Stadttor, mit einer ge heimen Angst im Herzen, der Traum könnte zerrinnen, und irgendwo würde Wirklichkeit warten. Zu beiden Seiten stehen kleine Häuser, an die wie Hilfe suchend, kleine Bänke lehnen. Immer sind es ausgetretene Steinstufen, die in das Innere der Häuser Mhren. Auch hier Mittagsstille. Nur manch- ZDSHTTO OSlKoo SSlKDo SDATOZ8 mal bewegt sich ein Kopf hinter den Ge ranientöpfen des Fensters, eine Brille schiebt sich empor, und der Kopf einer alten Frau guckt heraus. Ich denke plötzlich an eine FußboM, auf der ich immer gesessen habe, auch an solchem kleinen Fenster, auf dem Geranien blühten. Wie gern, wie brennend gern möchte ich jetzt wieder auf diesem Bänkchen sitzen und die Hände meiner Großmutter fühlen. Eine kleine Straße lockt. Klostergaffe, steht auf einem Täfelchen geschrieben. Mein Schritt hallt laut und unwahrscheinlich in die schmale Gasse hinein. Ich stehe vor einem großen schmiedeeisernen Gitter. Selt sam verschnörkelte Blumen, zum Teil mit Rost überzogen, ranken um die Eisenstäbe. Vorsichtig öffne ich die Tür und sehe, wie die Sonne die Ornamente der Tür auf den Weg wirft. Ein Bogengang führt um den kleinen Klosterhof herum. Die Sonne läuft alle Spitzbogen durch und bleibt strahlend an dem großen Kreuz hängen. Die Stille scheint hier feierlicher zu sein, und es kommt mir vor, als würden selbst die Finken den Jubel ihres Liedes dämpfen vor der Ehr würdigkeit der Mauern. Langsam durch wandle ich den Rundgang. Wieder winken Kastanien, die wie eine Kette den Marktplatz uingeben. In der Mitte des Platzes steht das alte Rathaus. Auf den alten verrosteten Eisenketten, die Pas Rathaus umspannen, schaukeln sich Kinder. Leise quietschen mit hohem Laut die Ketten in die Mittagsstille. Das Pflaster ist so holprig, daß die Sonne tiefe Schatten wer fen kann. Um die Eisensäulen, die die Ketten tragen, schmiegt sich weiches Gras. Ich spreche zu den Kindern, die mich neugierig betrachten. Wortlos starren sie mich an, drehen sich um und laufen fort, um von weitem nach mir hinzulachen. Ich sehe auf den Marktplatz, auf das große rote Dach der alten Kirche. Es ist, als wenn die Sonne auf den Ziegeln schliefe. An dem roten Dach vorbei ragt der Kirch turm direkt ins Blaue. Ich muß die Augen ganz klein machen, wenn ich zu ihm auf- bff.cke, so blendet mich der Glanz des Tages. Ich kann plötzlich nicht verstehen, wie ich in der Großstadt leben konnte. Alle elegant gekleideten Menschen, alle Kaffeehäuser, alles kommt mir so ruhelos, so leer und nichtig vor beim Hineinhorchen in die große Stille des Tages. Ich nehme mir vor, dankbarer dem Leben gegenüber zu sein, weil es mir diese Stunden geschenkt hat, ich will wieder bescheidener werden, ich will O Gott, mein Zug!, fährt es mir plötz lich durch den Sinn. Wahrhaftig, >iur noch eine Viertelstunde! Wo sind die zwei Stun den geblieben, zwei Stunden, die mir wie eine Ewigkeit erschienen? Und was schlossen sie für mich ein? Eine ganze Welt voll Ruhe und Geborgensein, eine ganze Welt voll wunschloser Glückhaftigkeit. Von Elly Salbach Das Mädchen hatte den Kaffeetisch av- geräumt, und die Frauen holten ihre Hand arbeiten vor. Sie hatten es eilig. Wenig stens drei von ihnen. Die vierte — Fra« Gärtner — strich erst noch ein paarmal zärt lich über ihre feine Seidenstickerei und warf dann noch einen spöttischen Seitenblick auf die derben Strick- und Häkelarbeiten der anderen. Die vier Frauen hatten sich im vorige« Sommer im Park kennengelernt und schnell eine Art Freundschaft geschlossen. Früher mochte ihr Weg wohl verschieden gewesen fein. Heute band sie eins — das Schicksal so mancher Alten —, die Einsamkeit. Freilich, eine von ihnen, sonderbarer weise gerade die, die eigentlich ihr ganzes Leben allein gewesen war, hatte diese Ein samkeit nie gespürt. Fräulein Hellwig war Volksschullehrerin gewesen. Vierzig Jahre lang. Ihre Tage waren immer voll ausge füllt gewesen. Sie hatte wenig vermißt. Weil sie sich ihren Kindern eben ganz ge schenkt hatte. Seit sie pensioniert war, konnte sie nicht mehr so reichlich geben. Da mußten eben die fleißigen Hände Heran. Ihr Zureden und vor allen Dingen Wohl das Beispiel hatten schon Fra« Gröner und selbst die stille, immer ein biß chen mürrische Frau Hermann angesteckt. Sie erinnerten sich, daß sie noch Volks genossen besaßen, die eine kleine Hilse Wohl gebrauchen konnten. Auf einmal waren auch die vielen stillen Stunden dieser beiden wieder ausgefüllt. Mit Sorge und mit Arbeit. Hände, die lange faul im Schoß gelegen hatten, waren auf einmal wieder voll Leben. Es gab noch Menschen, die einen brauchten. Menschen, denen man helfen konnte. Zu all diesen Wor ten lächelte Fran Gärtner nur in ihrer ge wohnten spöttischen Weise. Die sollten sich bloß die großen Worte schenken. Wenn man Verwandtschaft hatte, der es schlecht ging, mußte man wohl helfen. Anstandshalber. Aber gern? — Quatsch! — Und Volks genossen . . .? „Ich bin nur froh", sagte sie aus diesem Gefühl heraus, „daß ich keine Mcnschenseele habe, um die ich mich zu kümmern brauche, und ich werde mich schönstens dafür bedan ken, mir irgendwen Fremdes aufhalsen zu lassen. Solche Verpflichtungen bedeuten immer Einschränkung der eigenen Wünsche. I wo ... ich denke nicht daran. Gott sei Dank! Ich brauche keinen, und ich habe auch keinen, der mich braucht!" Es hatte sehr stolz geklungen — sehr selbstbewußt. Die andern sagten nichts da zu. Sie hatten die Köpfe tief über ihre Ar beit gebeugt. „Arme Frau!" dachten alle drei. Fühlte die Fran wirklich nicht, was sie entbehrte? Das Beste, was den Men schen, vor allen Dingen der Frau, gegeben ist? — Das Wissen um einen anderen, dem man notwendig ist? — Leben ohne Sorgen — war das nicht Leben ohne Inhalt? Ich habe keinen, der mich braucht — hieß das nicht, ich bin über flüssig? - „Arme Frau", dachten sie beim Abschied noch einmal und wagten ihr nicht in die Augen zu sehen. Sie wollten ihr ihr Mit leid nicht so offen zeigen. Trotzdem spürte Fran Gärtner dieses Mitleid, und es störte sie. Was fiel den dreien ein? — Sie brauchte doch kein Mitleid — sie gewiß nicht. Sie war froh, daß es war, wie es war. Sie wollte sich nicht mit der Sorge für irgend ein anderes Menschenkind belasten. „Nein!" — sagte sie trotzig laut vor sich hin. ,Hch bin froh, daß ich keinen habe, um den ich mich sorgen müßte." Ein Weilchen saß sie noch still am Tisch. Der stolz erhoben« Kops sank langsam immer tiefer. Dicke Trane« liefen ihr übers Gesicht. ... . -