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Sonnabend, den 24. Dezember 1333 M'.l'n.pcr — Oittrn.-r «nzeiqer Nr. l.00 Sette S Jürgen war zehn Jahre alt, und wenn man zehn Jahre alt ist, zählt man die Tage dis zuni Weihnachtsfest. Ist doch so ein .Jungenherz voller Wünsche. Jürgen, als der älteste von sechs Geschwistern, wußte, daß nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen und daß man Lieblingswünsche begraben muß, so wie so manche Menschenhoffnungen be graben werden müssen. Ta steht das große Warum vor den Kinderherzen auf. Warum kann ich keine Eisenbahn bekommen wie der Alfred von nebenan, bin ich doch auch ein rechter Junge, also warum? Warum ist meine Uniform noch nicht vollständig? Da steigt cs dann mit dem Warum heiß in die Augen, und in des Jungen Herz dringen Gedanken, die gar nicht weihnachtlich sind. Aber Jürgen ist ein Kerl, er schüttelt die Verstimmung ab und denkt an seine Ge schwister; seine Mutter darf es,uuf keinen Fall merken, daß er unzufrieden gewesen ist. Irgendeine Uebcrraschung wird ja das Weihnachtsfest auch für ihn haben. Da fliegt das grüblerische Warum davon, und Jürgen stürmt auf die Straße zu den Kameraden! Nun ziehen drei Pimpfe los und sehen sich die großen Schaufenster an, die in der Rie senstadt Berlin so voller Verlockungen sind. Wenn sie auch nichts hinter den Scheiben anfassen können, beim Nnschauen gehört doch alles den Jungen, deren Phantasie die vie len Spielsachen mit unvergleichlicher Regic- kunst in Bewegung setzt. Ein paar Stunden später kommen sie wieder heim. Jürgen stürmt zu seiner Mutter, um ihr etwas zu erzählen. Wie er aber die Tür zur Wohnstube öffnet, merkt er, daß seine Mutter rasch einen Brief unter der Tischdecke verschwinden läßt. Komisch, denkt er, das hat doch Mutter noch nie ge macht. Es wird doch nicht irgendeine dumme Sache sein, ein großer Aerger. Viel leicht will Mutters Bruder das Geld wieder haben, das er im Sommer Vater gegeben hat, und das Vater noch immer nicht zu- cückzahlen kann. Aber Jürgen vermag nicht still zu sein: „Mutter, hast du Aerger ge habt, warum versteckst du so erschrocken einen Brief?" „Hör mal, mein Junge, ich war nicht er schrocken, sondern nur überrascht, und ärger lich bin ich auch nicht, ganz im Gegenteil. Aber diese Tage sind voller Geheimnisse, und dieser Brief enthält ein ganz großes Geheimnis, das für dich eine große Freude bedeutet." Je näher das Fest kam, um so größer wurde Jürgens freudige Erwartung. Aber es gab auch Stunden, in denen er fast Angst vor seiner geheimen Freude hatte, denn wer zuviel erwartet, kann leicht die Freude an den kleinen Dingen verlieren. Wenn aber, dann am Abend Jürgen in seinem Bett lag, spann seine Phantasie die kühnsten Jungen pläne und seine Herzenswünsche Hürden in wunderbaren Bildern m seinen Träumen wach und ließen sich nicht mehr zurückdrängen. — So kam der Heilige Abend heran. Draußen schneite es. Wie herrlich ist doch so ein Kindererwachen, wenn am Morgen des Hei- ligen Abend unaufhörlich der Schnee in dichten Flocken sich zur Erde senkt. Die stillen Straßen der Stadt j wurden wie mit weißem reinem Linnen bedeckt, und von dem häßlichen, grauen, regenfeuchten Schmutz des Asphalts war nichts mehr zu sehen, und die Häuser hatten sich lustige Schneekappen aufgesetzt. Die Kinder sangen schon am frühen Mor gen in ihren Betten Weihnachtslieder, so daß die Mutter wegen der Nachbarn mahnen mußte. Am Frühstückstisch aber, an dem keiner schon am Morgen des Heiligen Abend mit einer Ncberraschung gerechnet hatte, zog der Vater den Brief aus seiner Tasche, den Jürgen neulich bei seiner Mutter sah, und der Vater las, als ob gar nichts weiter dabei wäre, vor, daß Jürgen von Minister präsident Hermann Göring zur Weih- nachtsbeschernng eingeladen worden sei. In dem Brief lag eine Nummer, die den Platz bezeichnete, auf dem Jürgen bei der Be scherung seine Gaben finden würde. Die Karte ging reihum.'Natürlich mußten sie anch die Geschwister sehen, die noch gar nicht lesen konnten. Alles schwatzte und lachte lebhaft durcheinander, nur Jürgen blieb vor freudiger Ueberaschung ganz still und faßte immer wieder die Nummer an, die er in der Hand hielt, als müsse er sich dadurch vergewissern, daß alles Wirklich keit sei. Am frühen Nachmittag des Heiligen Abend fuhr Jürgen mit seinem Vater in die Stadt. Noch niemals batte er eine derartige Unruhe verspürt, und Jürgen hörte sein Herz laut klopfen. Als er aber dann mit seinen: Vater vor dem großen Gebäude stand, in dem die Weihnachtsfeier statt- finden sollte, blieb er nicht mehr der einzige Junge mit klopfendem Herzen, denn mit ihm waren noch 5lM Jungen und Mädchen zu der Feier eingeladen worden. Als die Kinder den Saal betraten, taten sich ihnen die Pforten eines Weihnachts- schlosscs auf, so wunderbar war der Naum geschmückt. Die Nischen zeigten hellerleuch tete Bilder mit winterlichen und weihnacht lichen Motiven, und ein riesiger Tannen- banm breitete seinen lichten Glanz über den weiten Saal erwärmend aus. In der Mitte des Saales lagen auf langen Tafeln, den Blicken vorläufig noch verborgen, die Ge schenke. Die Kinder jedoch nahmen aus er höhten Plätzen mit ihren Eltern an kleinen Tischen Platz, von denen aus sie die ganze Pracht überschauen konnten. Ein Helles Summen und Brummen lag über dem Saal von all den neugierigen und erwar tungsvollen Fragen der Kinder. Es ver stummte erst, als weihnachtliche Weisen er klangen und für die Jungen und Mädel, Mütter und Väter Kakao, Kaffee und Kuchen lockten. Trotz des köstlichen Genusses ließen die Kleinen nicht ab, nach den langen Tafeln zu spähen, denen man es ansah, daß sie reiche Gaben trugen.. Vorläufig aber mußten sie Geduld üben, was ihnen ein lustiger Weihnachtsfilm leichter machte. Die selige Ungeduld der Kinder wuchs immer mehr, sie konnten die sich steigernde Spannung kaum noch er tragen. Da betrat Hermann Göring, von dem Jubel seiner Weihnachtsgäste umbraust, den Saal. Die Feier nahm ihren Anfang Der Ministerpräsident sprach herrliche Worte und löschte das Warum banger Zweifel und die Furcht vor enttäuschten Hoffnungen in den Herzen der Kinder aus. Wie innig klangen in dieser Stunde der Erfüllung die Weihnachtslieder aus der Kinder Mund. Jürgen suchte sich nach seiner Nummer feinen Platz. Ihm war wie einem Glücks kind in einem Märchen zumute, dem ein Zauberwort die Tür zu den köstlichsten Schätzen der Wekt öffnete. Er hatte seinen Platz gefunden. Was er nicht -u trSumen Der Weihnachtsspruch Photo: Lindner-Mauritius — M. gewagt, lag unter vielen anderen Gaben vor ihm: Eine große schöne Eisenbahn. Nur mit erstickter Stimme konnte er dieses unfaß bare Glück seinem Vater zurufen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er seine Auf merksamkeit auch den anderen Gaben zuzu wenden vermochte. Es beglückte ihn erneut, daß auch für seine Geschwister daheim Spiel zeug unter den Gaben lag, und dann noch Kleidungsstücke, reichliche Lebensmittel und dazu viel schönes Weihnachtsgebäck. Aber noch war das Fest nicht aus. Ein Weih nachtsmann kam auf einem von Zwergen ge zogenen Schlitten in den Saal gefahren. Roch waren aber die Geheimnisse des Sackes nicht enthüllt. Da rief Hermann Göring die Kinder und verteilte selbst aus dem großen Sack des Weihnachtsmannes noch einmal Geschenke, nach denen sich die Kinder mit Hellem Jubel drängten. Die letzte Befangen heit schmolz dahin, und aus dem Minister präsidenten war der lachend umjubelte Onkel Hermann geworden. Für Jürg« und seinen Vater war es nicht leicht gewesen, mit all den vielen Sachen durch das Verkehrsgewühl des Hei ligen Abend nach Hause zu gelangen. Die Mutter hatte alles schon vorbereitet. Nun brauchte der Vater nur noch die Geschenke in der Wohnstube auszubreiten, die er von Jürgens Bescherung mitgebracht hatte. Die Kinder wurden gerufen. „Ihr Kinderlein kommet", klang es a»s ihren Hellen Kehlen, und es folgten die ander«: alten Weih- »achtsweiken. Die Lichter hss Baumes spie gelten sich in den Augen der Kinder, die s« glückhaft leuchteten, wie kein Stern zu leuchten vermag. Dann ging es zu den Gaben, Jürgen nahm seine Eisenbahn. Jetz: erst war er sich ihres Besitzes ganz sicher. Da dachte er an den Tag zurück, an dem ein bitteres Warum in seinem Herzen auf steigen wollte. Und nun war alles so wie bei Alfred nebenan. Es war ganz anders als sonst zu Weihnachten. Es war das schönst« Weihnachtsfest, das Jürgen je erlebt hatte Die Eisenbahn allein kann das doch nicht gemacht haben, dachte er, aber er kam nicht auf den wahren Grund des Weihnachts- glückes. Die Eltern aber sahen sich an, und der Vater sagte: „Weißt du, was in diesem Jahr zu Weihnachten fehlt? Deine mütt-- lichen Ermahnungen: Eßt doch schon alles auf, es soll doch morgen und übermorgen auch noch etwas da sein." — „Daß du doch immer gleich aus Essen denkst", mahnte die Mutier. „So meinte ich das nicht", entgegnete der Vater, „ich wollte nur damit sagen, wie be glückend es ist, wenn man einmal nicht zu rechnen braucht, wenn alle Sorgen im lichten Glanze des Weihnachtsbauwes dahinschmel- zen wie die Schatten unter der sommerlichen Mittagssonne." Jürgens schönste Weihnacht war ein Ge schenk für die ganze Familie. Bis tief in die Nacht hinein spielten die Eltern mit ihren Kindern- in dein seligen Zeitvergesse« des Glückes. ' c Jürg Beßler. !