Volltext Seite (XML)
Vorbild gedient haben. Wenn aus Gold gearbeitete Tierkrallen als Schmuck Verwendung fanden, so liegt die Vermutung nahe, daß diese Sitte auf das frühere Tragen echter Tier krallen zurückzuführen ist; später traten mit der fortschreitenden Verfeinerung der Kultur goldene Nachbildungen an ihre Stelle. Welche Bedeutung diesem Anhänger zukam, ist allerdings nicht bekannt. AUSWERTUNG: Im vorangehenden Abschnitt wurde gezeigt, daß früher der Jägerbrauch galt, sich besonders gekennzeichnete Teile des erbeuteten Tieres anzuheften, um seine Kiäfte zu gewinnen. Doch es ließ sich kein Beispiel dafür erbringen, daß die Kralle des Bären in solcher Weise getragen wurde. Wenn man sich auch hüten muß, mittel alterliches und neuzeitliches Brauchtum kritiklos auf die vor- und frühgeschichtlichen Zeiten zu übertragen, gibt es doch genug Fälle, nach denen z. B. germanische Sitten noch heute im Volk lebendig sind; und wie mancher Glaube lebt trotz jahrhunderte langen Christentums noch recht „heidnisch“ im Volke weiter! Der wohl nie ab brechende Hang des Menschen zum Magischen läßt vermuten, daß die im Schrifttum nachgewiesene Verwendungsart der durchbohrten Bärenkralle schon in der Vorzeit Geltung hatte. Einen Beleg hierfür kann allerdings erst die genaue Prüfung der Fundumstände geben; denn die Kralle müßte, als Halsschmuck oder sonst am Körper getragen, in Frauengräbern oder Kindergräbern gefunden werden. Die von Lesbos bekannte Sitte allerdings, sie gegen den „bösen Blick“ zu tragen, würde erwarten lassen, daß sie auch in Männergräbern nachgewiesen werden könnte. Gälte sie nur als Jagdtrophäe, so müßte sie ausschließlich auf Männergräber beschränkt sein. Siedlungsfunde dürften keine Schlüsse über ihre Verwendungsart gestatten. Wurde die Kralle aufgehängt, so war sie durchbohrt oder gefaßt worden. Dafür aber bestand keine Notwendigkeit, wenn sie auf die Kleider aufgenäht wurde; denn mit ein paar Stichen durch die natürlichen Foramina oder über Eck ließ sie sich ohne besondere Zurichtung festheften. Für die oben aufgeführten Funde un durchbohrter Bärenkrallen aber kann diese Verwendungsart kaum angenommen werden: die Krallen — zumindest die älteren — stammen aus Männergräbern. Hat sie der Mann aber als Jagdtrophäe getragen, so legte er gewiß Wert darauf, daß sie deutlich sichtbar an die übrigen Trophäen angereiht wurde. Aufgenäht wird sie mehr als „heimliches“ Mittel anzusehen sein. Es ist erstaunlich, daß erst aus der Bronzezeit durchbohrte, d. h. benutzte Bärenkrallen nachgewiesen sind. Obwohl im Paläolithikum Bärenkult getrieben worden ist, kennt man keine Anzeichen dafür, daß die Kralle eine besondere Rolle gespielt hat. Die Zukunft wird lehren, ob der Grund dafür in den Fundlücken beruht. Es ließe sich auch denken, daß die Bedeutung, die das Tier als Ganzes ge noß, damit zusammenhängt. Denn die Völkerkunde lehrt 73 ), daß bei den bärenkult treibenden Stämmen meist nur das lebende Tier oder sein Fell mit Schädel und Pranken oder aber sein Schädel allein Auszeichnung erfährt. W ährend der Bronzezeit nun sind auch andere Tierkrallen in der Vorstellungswelt des damaligen Menschen von Bedeutung. Es ist wohl nicht abzustreiten, daß mit der Entwicklung des Menschengeschlechts auch seine metaphysischeWelt eine Erweiterung erfahren hat und damit verbunden auch stärkere Differenzierungen eingetreten sind: ein ganz kleiner Teil des Tieres verkörpert dessen Eigenschaften und wirkt durch sie auf den Träger ein. Eine ganze Reihe von Fragen mußte noch offen bleiben. Der größte 1 eil wird wohl einmal beantwortet werden können, wenn künftig alle Funde von Bärenkrallen sorgfältig beachtet und ihre näheren Umstände eingehend beschrieben werden. Dann wird dieser kleine Knochen unser Wissen um die geistige Welt der vor- und frühgeschichtlichen Menschen bereichern können. 73) A. .1. Hallowell a. a. O.