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Ein verhängnisvoller Irrtum. Dem Amerikanischen nacherzählt von I. Cassirer. (Nachdruck verboten.) Herr Heinrich Dickler saß allein in seinem kleinen Kontor, das sich hinter seinem Laden befand. — Herr Dickler war eine hübsche Erscheinung und mochte ungefähr fünfund- dreißig bis vierzig Jahre zählen. Seine Lands leute wiesen mit Stolz auf ihn als das Muster eines richtigen „Selfmademan". — Während aber die ganze Stadt über Herrn Heinrich Dickler des Lobes voll war, wußte man seinem Bruder Karl nur wenig Gutes nach zurühmen. An dem Abend, an dem nnsere Geschichte anfängt, erwartete der Kaufmann seinen übel beleumundeten Bruder, und je mehr die Zeit verstrich, desto mehr verfinsterte sich seine Stirne. „Ich weiß nicht, was ich mit Karl an fangen soll", sagte er zu sich, indem er un geduldig im Zimmer auf- und abging. „Ich habe bereits alles mögliche mit ihm versucht, er will aber nicht arbeiten und wird von Tag zu Tag liederlicher. Es wäre vielleicht richtiger, gar nicht auf ihn zu warten; seine Bitte um eine Unterredung mit mir für heute abend war aber so dringend, daß ich sie ihm unmöglich abschlagcn konnte. Der arme Kerl! In welche Schwierigkeiten mag er Wohl wieder geraten sein?" Die Vordertür tat sich auf und ein junger Mann trat mit raschem Schritt herein. Nach dem er einen flüchtigen Blick durch den Laden geworfen, trat er in das Kontor. „Was bringst Du, Karl?" fragte Heinrich Dickler. „Mich selber, wie Du siehst", entgegnete Karl. „Es hat wohl weiter keinen Zweck, Dich erst zu fragen, warum Du so spät kamst, oder wo Du die letzten beiden Tage verbracht hast?" bemerkte Heinrich Dickler. Karl Dickler schien durch »diese Frage un angenehm berührt zu werden und er schlug die Augen nieder. In nachlässigem Tone antwortete Karl: „Ich hatte einige Privatangelegenheiten zu erledigen und wußte, daß Du in Deinem Geschäfte keine Hilfe brauchen würdest." „Und was führt Dich jetzt zu mir?" fragte Heinrich schroff. „Bruder!" brachte Karl stammelnd hervor. „Ich brauche notwendig Geld, gegen fünf hundert Mark." „Ich möchte selber gern wissen, ob Du es auftreiben wirst", erwiderte Heinrich. „Von mir bekommst Du keinen Pfennig mehr, so viel weiß ich. Und wozu sollte ich mich auch mühen und plagen und sparsam leben, damit Du nur die Mittel bekommst, um damit an den Spieltisch zu gehen und sie dort ver lieren?" „Wenn ich das Geld nicht bekomme", ver setzte Karl, der auffallend blaß wurde, „so muß ich das Land verlassen." „Den Verlust wird unser Vaterland schon verschmerzen können", war Heinrichs spöttische Antwort hierauf. „In Deine Reisepläne möchte ich mich aber nicht gern einmischen." Diese höhnische Worte erschütterten Karl . aufs tiefste. Dennoch aber machte er noch einen Versuch. „Ich will nicht hoffen, daß Du etwa selbst in Schwierigkeiten bist", meinte er. „O nein, im Gegenteil, ich habe mich noch nie besser bei Kasse befunden", antwortete der Kaufmann. „Das hat aber mit Deiner Sache nichts zu tun." Er öffnete die Tür seines Geldfpindcs und zeigte auf eine kleine Blechbüchse. „Sichst Du die?" fragte er. „In dieser Büchse liegen zwanzig neue Tausendmark- fcheine. Ich habe sie heute von der Bank geholt, um morgen früh eine von mir ge kündigte Hypothek auf meinem Grundstücke damit auszuzahlen. Nein, lieber Karl, mir geht es sehr gut, aber Dein ewiges Drängen um Geld habe ich satt. Das muß ein Ende nehmen, und zwar jetzt gleich." Damit erhob er sich von feinem Sessel und trat zu einem großen, in die Wand eingemauerten Schrank, um sich seinen Überzieher zu holen. In einem einzigen Augenblick, ehe man bis drei hätte zählen können, hatte Karl die kleine Blechbüchse aus dem Geldspind fortgenommen und sie in die Innentasche seines Überrockes gleiten lassen. Unmittelbar darauf wandte sich sein Bruder ihm wieder zu und machte sich zum Ausgehen fertig. Klirrend warf er die Tür des eisernen Geldschrankes ins Schloß. . „Ich muß jetzt förtgehen", bemerkte er zu Karl. „Hast Du mir noch etwas zu sagen?" „Nein", erwiderte dieser. Sein Gesicht zeigte trotz seiner Bläffe einen entschlossenen Ausdruck. „Ich habe weder für jetzt noch später mit Dir wieder etwas zu schaffen, adieu." „Adieu, alter Junge", rief ihm Heinrich noch nach, denn Karl hatte bereits das Zimmer verlassen, dessen Tür er heftig hinter sich zuschlug. „Ich kenne ihn", sagte der Kaufmann zu sich selber. „Der denkt nicht daran, von hier fortzugehcn. Morgen ist er wieder hier und weiß mir eine Geschichte zu erzählen. Im Grunde genommen wäre es von mir vielleicht doch richtiger gewesen, wenn ich noch einmal seine Angelegenheiten geordnet und ihm auch noch diesesmal eine Chance gegeben hätte." Langsam verließ er sein Geschäftslokal, dessen Tür er sorgfältig hinter sich verschloß; ein prüfender Blück über die Straße über zeugte ihn, daß Karl sich nicht mehr in der Nähe befand. Nachdenklich schritt er seiner Wohnung zu, in der er alsbald die Ruhe auffuchtc. 2. Nachdem Karl seines Bruders Gcschäfts- lokal verlassen, drückte er die dort entwendete kleine, blecherne Kassette liebevoll an seine Brust und ging mit raschen Schritten weiter. „Es war schändlich von mir", sprach er vor sich hin, „aber ich muß unbedingt Geld haben, gleichviel, wie und woher ich es l-e- kommen sollte." Der junge Mann eilte durch die menschen leeren Straßen, bis er zu der Brücke kam, die über den großen Strom, an dem die Stadt lag, führte. Diese überschritt er und nahm dann seinen Weg durch den Park, der sich am jenseitigen Ufer erstreckte. Sein Plan war deutlich genug. Er wollte nach einem Vorort und von dort aus mit der Bahn ins Ausland' fliehen. Plötzlich fuhr er zusammen und blieb stehen. Aus seiner Brusttasche holte er die kleine Kassette hervor. „Teufel!" rief er aus. „Ich muß geradezu wahnsinnig gewesen sein. Ich bin doch kein Dieb, und ehe ich -so tief sinke, schneide ich mir lieber den Hals ab. Ich will meinem Bruder die Kassette zurückbringen, ihm meine Dummheit bekennen und ihn dann für immer verlassen." Er kehrte um und machte sich auf den Rückweg. Als er über die Brücke ging, blieb er einen Augenblick stehen und sah über das Geländer in das dunkle, tiefe Wasser. „Hier würde ich Ruhe finden!" sprach er traurig vor sich hin. Er lehnte sich über das Geländer und lauschte der rasch dahinfließenden Strömung. „Großer Gott!" schrie er plötzlich auf. „Die Kassette! Die Kassette!" Sie war ihm aus den Fingern geglitten und in den Fluß gefallen. Unglücklicherweise war das Wasser sehr hoch und die Strömung recht stark, so daß an ein Wiedererlangen der kleinen, blechernen Büchse mit dem wertvollen Inhalt nicht zu denken war. Karl lief in größter Eile nach der Wohnung seines Bruders. Dort angckommen, drehte er um uud wendete sich wieder nach der Brücke. Sein erster Gedanke war, von dort aus ins Wasser zu springen. „Wie dumm bin ich doch!" sagte er sich aber nach einigem Überlegen. „Wenn ich ins Wasser springe, kommt das verlorene Geld doch nicht wieder. Ich muß mich zusammen- raffcn und zeigen, daß ich ein Mann bin." Über die Brücke und durch den Park, hinaus in das stille Dunkel der Nacht, stürmte der schuldbeladene Flüchtling davon. Wie ein Wahnsinniger legte er eine Meile nach der anderen zurück. Bald waren die Lichter der Stadt seinem Gesichtskreise entschwunden und Karl befand sich in einer ihm fremden Gegend. Abermals erblickte er jetzt den Strom und er nahm sich vor, seinem Laufe zu folgen. Bis zur See war es nicht allzu weit, und wenn er erst im Hafen war, würde es ihm schon gelingen, auf einem Schiffe als Matrofe Dienste zu finden. Nur weit, recht weit fort wollte er, in die Ferne, in der in seines Bruders Arm nicht mehr erreichen und niemand sehen konnte, der ihn früher gekannt hatte. So fand ihn das Licht des neuen Tages. Daß ihn hier am Fluß jemand erkennen würde, war nicht wahrscheinlich. Nur wenig Häuser standen hier, und die Leute, denen er begegnete, waren Landleute, die ihn nicht mit aufdringlichen Fragen belästigten.