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1909. Sonnabend den 27. Jebruav. » Av. 25. Der Väter Schuld j l2. Fortsetzung.) Drittes Kapitel. Mit dem Anbruch des nächsten TageS war Emmy schon wieder munter, und nachdem sie ihre einfache Toilette rasch beendet hatte, eilte sie ans Fenster, um einen Blick auf die nächste Umgebung des Hauses zu werfen. Dieselbe sah im freundlichen Lichte der Hellen Morgensonne vielleicht etwas weniger trostlos ans, als sie ihr gestern abend bei ihrer Ankunft erschienen mar, aber die Spuren der Dürftig keit und des Verfalls waren immerhin auch jetzt deutlich genug wahrznnehmen. über die Vermögensverhältnisse seines Bruders hatte ihr Vater niemals auch nur die leiseste Andeutung gemacht. Sie hatte von ihm nie etwas anderes gewußt, als daß er Gutshesitzer in einer anderen Provinz sei, und nach den Vorstellungen, die sie sich von diesem Stande gemacht, war es ihr immer als etwas ganz Selbstverständliches erschienen, daß er sehr wohlhabend sein müsse. Die Wahrnehmung vom Gegenteil hätte nun zwar an und für sich keineswegs unangenehm auf sie wirken können, aber hier traten ihr die Kennzeichen der Armut gleichsam in der Gestalt absichtlicher Vernachlässigung ent gegen, und es war nicht zu verwundern, daß der Anblick des HofeS im Verein mit der Erinnerung an das brüske Auftreten ihres Oheims auch jetzt wieder beklemmend auf das Gemüt des jungen Mädchens wirkte. Viel erfreulicher als das unmittelbar vor ihr liegende Bild war die Aussicht in die Ferne, die sie von ihrem Fenster aus genoß. Der prächtige Buchenwald war nur eine kleine Strecke vom Hanse entfernt, und da sie von Kindheit ans eine beinahe leidenschaftliche Neigung für das Umherstreifen in Gehölzen und Wäldern gehabt hatte, so schien es ihr, als ob sich seine grünen Baumkronen im Morgenwinde winkend gegen sie neigten und als ob sie dieser lockenden Einladung ohne Zögern Folge leisten müsse. Ein Gegenstand, der hoch über die Wipfel emporragte, mußte ihre Aufmerksamkeit besonders erregen, denn sie er kannte in demselben jetzt, wo er von einem Hellen Strahl der Morgensonne getroffen wurde, ein grobes, weißes Kreuz, dessen Bedeutung mitten im tiefen Forst ihr not wendig rätselhaft erscheinen mußte. Als die leichten Dunst wolken ain Horizont sich allmählich gesenkt hatten, konnte Emmy zu ihrer Überraschung in der Feme sogar die Giebelspitzen und Türmchen jenes Herrenhauses wahr nehmen, an welches sie während der letzten Nacht noch in ihren Träumen immer wieder erinnert worden war. Durch ein leises Klopfen wurde Emmy in weiteren Beobachtungen gestört. Die Tante war eS, die sie von unten her am Fenster bemerkt hatte und die nun gekommen war, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Anfang« war sie geneigt, der freundlichen Frau ihre Wahrnehmung vom gestrigen Abend mitzuteilen, da sie aber besorgte, für furchtsam gehalten zu werden und da sie die Scheu und Zurückhaltung der Tante in allen Dingen, die zu ihrem Gatten in irgend welcher Beziehung standen, bereits kennen gelernt hatte, zog sie er vor, zu schweigen und ab-uwarten, ob sich etwa der nächtliche Besuch noch einmal wiederholen würde. (Nachdruck verboten.) Beim Frühstücke sah sie den Oheim wieder. Er trug den nämlichen Anzug wie am gestrigen Nachmittag, und er hatte offenbar bereits einen Weg über die Felder gemacht, denn er tmg eine Doppelflinte über der Schulter, die er bei seinem Eintritt vorsichtig an einen Wandhaken hängte. Mit seiner Frau, die in seiner Gegenwart kaum den Mund zu öffnen wagte, sprach er nicht ein einziges Wort, seine Nichte aber begrüßte er oberflächlich und mürrisch, ohne eine Frage nach ihrem Befinden oder nach der Ruhe der ersten Nacht an sie zu richten. Hastig genoß er eine ziem lich bedeutende Menge von den wiederum sehr reichlichen und gut zubereiteten Speisen, und stand dann auf, um mit schwerem Schritt das Zimmer zu verlassen. Emmy sah, wie er mit seiner Flinte über den Hof ging und hinter der verfallenen Mauer desselben verschwand. Sie war jetzt fest überzeugt, daß nicht er es gewesen sei, der in der Nacht an die Tür ihres Zimmers geschlichen war. Aber wer sonst konnte es gewesen sein, da die Familie des OheimS — so weit sie hier anwesend war — nur aus ihm und seiner Gattin bestand, und da ihr die Tante schon gestern mitgeteilt hatte, daß die Knechte und Mägde in einem anderen Hause schliefen. Trotz dieser Zweifel entschloß sie sich auch jetzt noch nicht, eine Frage an Frau Quitzow zu richten. Sie verließ sich zur Genüge auf ihren eigenen Mut und darauf, daß es ihrer Entschlossenheit schon ge lingen werde, den Geheimnissen dieses Hauses auf di« Spur zu kommen. Am liebsten wäre sie der Tante sogleich bei ihren Arbeiten behilflich gewesen, um auch nicht für einen einzigen Tag als eine nutzlose Bürde angesehen zu werden, aber Frau Ouitzow erklärte ihr ganz bestimmt, daß sie noch viel zu angegriffen aussähe, um schon jetzt an dergleichen denken zu können, und daß sie vor allem darauf bedacht sein müsse, sich in der frischen Landluft zu kräftigen. Emmy wider sprach ihr nicht, weil sie eine brennende Sehnsucht nach dem Walde empfand, und weil es ihr als eine köstlich« Aussicht erschien, in seiner Einsamkeit bis zur vollen Er müdung umherschweifen zu können. Sie küßte die Tant« und drückte eilig ihren weitrandigen Strohhut auf die braunen Flechten, um auch nicht einen Augenblick mehr von der kostbareu Zeit zu verlieren. Trotzdem aber sah sie sich in unerwünschter Weise aufgehalten. Mit gesenktem Kopfe und scheu umherblickend kam der Bauer Harmsen über den Hof geschlichen. Er glaubte wohl nicht, daß Bernhard Ouitzow das Haus schon jetzt verlaffen habe, denn er richtete an einen der Knechte eine Frage, deren Beantwortung ihm offenbar viel Verdruß be reitete. Mißmutig schüttelte er den Kopf und ärgerlich stampfte er mit dem Fuße auf, während er sich wieder -um Gehen wandte. Doch nicht Emmy allein war «8, die seine Annäherung wahrgenommen hatte, auch die Tante hatte den Bauern gesehen und hatte mit gespannter Aufmerksam keit seine Bewegungen verfolgt. AlS sie jetzt sah, daß er wieder gehen wollte, stieß sie rasch dar Fenster des Wohn zimmers aus und rief mit stärkerer Stimme, als sie ihr sonst zu Gebote stand: Roman von Lothar Brenkendorf.