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7 jährigen Walde», dessen Eichen, von dem Strom unterminirt und von der Last der Wipfel gebeugt, nur durch die Bäume de» entgegen gesetzten Ufer» vor gänzlichem Hall bewahrt werden und mit diesen daher eine Art grüner Brücke über den Fluß bilden. Auch Weiden sproßten in solcher Menge hervor, daß ibre Zweige sich mitten im Fluß begegneten und den letzteren zwangen, eine Art Wasserfall zu bilden, um über sie hinwegzukommen. Tausende von Vögeln beleb ten diese Oede mit ihrem Gezwitscher, und au» der Ferne hörte man nichts als das melancholische Läuten der Glocken, welche die Leit hammel der Heerden stolz an ihrem Halse trugen. An einem schönen Juni-Abend des Jahres 1704 saßen hier zwei Kinder von IZ bis I» Jahren am Ufer des Flusses unter einer kleinen Laubgrotte, welche von Weidenzweigen mit Epheu und Weißdorn gebildet ward. Eine große Lichtung am Saume des Waldes ließ in der Ferne einen Theil von Klein-Kanaan sehen. Eine Menge Schaafe bcweivcten das Thal bis an den Gipfel der letzten Stufönhügel des Apgoal. Ein düsterer Wald, aus welchem in trauriger Einsamkeit der hohe Thurm des Schlosses Mas-Arribas hervorragtc, schloß den Horizont. Gabriel Cavalier war ein Hirte von ungefähr vierzehn Jahren, mit sanftem, träumerischem Gesicht, blondem Haar und von der Berglust gebräunten Zügen; ein lederner Gürtel umschloß sein weiß- leinenes Wamms, die gewöhnliche Kleidung der Ccvcnnendcwohner. Sein Qucrsack, sein großer Strohhut, sein cisenbcschlagcner Hirten stab, einige Schnüre, Angeln und ein Korb mit schönen Forellen aus dem Gardon lagen neben ihm. Das andere Kind war ein Mädchen von zwölf Jahren, in einem langen weißleincnen Rock, das den Arm um den Hals des kleinen Hirten geschlungen hatte. Obgleich sie feinere Züge, eine zartere Haut und seidnere Haare hatte, waren sic sich doch so ähnlich, daß man leicht in ihnen Geschwister erkannte. Celeste und Gabriel hatten ihre blonden Haare mit Veilchen und wilden Narzissen bekränzt und netzten ihre nackten Füsse, die von wahrhaft antiker Form und Reinheit waren, in den klaren Wellen des Stroms. Eine zahme Taube, weiss wie der Schnee, reinigte nicht weit von-dieser lieblichen Gruppe mit dem Schnabel ihr weißes Gefieder. Die beiden Kinder schienen sehr nachdenklich und sprachen nicht; sie waren ganz versenkt in dem Anblick der schönen Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete. „Woran denkst Du, liebe Schwester?" sagte endlich Gabriel, sie zärtlich anblickend. — „Ich denke daran, wie der Engel Raphael dem Tobias erschien; ach, wann wird uns ein Engel begegnen, der uns lehren wird, wie wir die Mutter unserer Mutter heilen?" fügte Eeleste seufzend hinzu. — „Und ich", sagte Gabriel, „ich dachte an Joseph's Freude, wie er den Benjamin wicdersah, den er so sehr liebte." Diese Worte können einen Begriff geben von dem Geist und der Erziehung unserer kleinen Cevennen-Kindcr. Jeden Abend wurde die Bibel nach protestantischer Sitte in der Familie vorgelesen; Stunden lang brachten sic in dieser Einsamkeit zu, die dem gelobten Lande so sehr glich, in einer Gebirgsgegend, wo die erhabenen Na turerscheinungen so häufig sind; sie führten ein einfaches, unschuldiges Leben, das dem der Patriarchen in den heiligen Büchern so ähnlich war: kein Wunder, daß diese Kinder, erfüllt von den Wundern und dem Hirtenlcben der heiligen Schrift, die Zeiten nicht geändert glaub ten und jeden Tag erwarteten, einen schönen Erzengel mit Azur flügeln und Strahlenkrone aus den Purpurwolken herabsteigen zu sehen. Der sanfte, furchtsame Gabriel floh die Spiele seiner Genossen, die auch stärker waren als er; statt an ihren Uebungen im Ringen und Laufen Theil zu nehmen, zog er eS vor, im Schatten der Wälder zu wandeln oder zu träumen, wobei ihn seine Schwester immer be gleitete. Die Sonne sank eben hinter den Fichten- und Kastanienwald, der den Berg bekränzte, als die Kinder ein Hundegebell aus der Ferne vernahmen. „Das sind die Hunde des Försters von Apgoal", sagte Celeste, erschrocken sich ihrem Bruder nähernd. Auf einmal erblaßten die Kinder. Ein ungeheurer Wolf erschien auf dem Gipfel des Hügels, wo die Hcerden weideten; er hinkte und schien schwer verwundet. Sogleich flohen die Läminer nach dem Flusse zu, und die Hunde, welche sie bewachten, folgten ihnen erschreckt, statt sich zu ihrer Ber- theidigung zu rüsten. Celeste und Gabriel drückten sich ängstlich an einander und blieben mit offenen Munde und starren Blicken unbe weglich stehen. In diesem Augenblick kam das Bellen näher. Der Wolf, dem ein erster Schuß die Lenden verwundet hatte, verfolgte den Abhang des Hügels, eine blutige Spur hinter sich zurücklaffend. Endlich fiel er erschöpft nieder und erwartete mit offenem Rachen und rothen glühenden Augen seine Verfolger. Obgleich sie von dem Schauplatz des Kampfs entfernt waren, zitterten doch die beiden Kinder, ihre -hcerden drängten sich blökend an dir User des Gardon, und die Schäferhunde, von der Furcht er griffen, die ihre Race immer bei der Annäherung der Wölfe empfin det, schwammen durch den Fluß und flohen zitternd zu den Füßen Celeste'S und Gabriels. Die Försterhunde dagegen, kühn und zum Angriff abgerichtet, waren eben in Begriff, aus den Wolf loszustür- zcn, als eine gellende Stimme, von Peitschenknallen begleitet, ries: „Zurück, Hunde, zurück! Hier, Rah ab, hier, Balaki" In demselben Augenblick erschien ein Reiter auf dem Abhang des Hügels. ES war der Religionnaire °) Ephraim, der Förster von Apgoal. Er saß ohne Sattel auf einem jener kleinen Pferde der kottplnvnalre«, fsniUiqarM, -tts WLktN die NüMtN, womit man die Prolestanltn beititdnete. Camargue, die gewöhnlich voller Muth und Feuer sind. Des Pferdes Farbe war ganz schwarz, und sein langer Schweif, die dichte Mähne, die ihm über die Augen fiel, gaben ihm ein wildes Ansehen. Ephraim lenkte es mit einem rohen Zaum von Stricken, und ein Stück Eschen- Wurzel diente ihm zum Gebiß. Das Kostüm des Reiters war nicht weniger wild, als das Geschirr seines Pferdes. Er trug eine Art Wamms, das aus der ungegerbtcn Haut eines Wolfs gemacht war, an der man noch die blutigen Spuren der Adern des Thiers unterschied. Ein Ochsenhorn mit Pulver, ein Sack von Ziegenhaut mit Mundvorrath und ein Jagdmesser mit hölzernem Griff hingen ihm znr Seite. Die harten, energischen Züge Ephraim's verschwanden fast ganz unter seinem dichten schwarzen Bart, der ihm bis zu den Augen hinaufging und ihm ein so wildes Ansehen gab, daß man ihn in der Gegend nur „den Bären von Apgoal" nannte. Seine Ge sichtsfarbe war olivenbraun. Ein großes Band von Wolfshaut, das zweimal sein Haupt umgab, hielt die langen, krausen Haare um die Stirn zusammen. Seine schwarzen, tiefliegenden Augen brannten von einem düsteren Feuer. Von mittlerer Statur, hatte dieser Mann herkulische Gliedmaßen; seine breiten, leicht gewölbten Schultern verrietben eine seltene Stärke. Ephraim war in der ganzen Ge gend geachtet und gefürchtet; sein Muth, seine strengen Sitten, seine Frömmigkeit waren allgemein bekannt. Er bewohnte eine einsame Hütte mitten im Walde; seine kurze, poetische, energische Rede, in der cs nie an düstcren Bildern aus der Bibcl fehlte, seiner einzigen nnd beständigen Lektüre, übte einen wunderbaren Einfluß auf die Hirten und Holzhauer des Gebirges, die ihn wie einen Heiligen ver ehrten und nur mit achtungsvoller Scheu ihm nahten. Kaum hatte Ephraim seine Stimme erschallen lassen, als die Hunde einige Schritte von dem Wolf stehen blieben. Ephraim kam herab, sprang von seinem Pferde, welches seinem Herrn mit klugem Blick folgte, statt ihn in der Gefahr zu verlassen. Der Förster nahm seine Flinte, lud sie und näherte sich kühn dem Wolf, der einen letzten Sprung machte, nm aus ihn loszustürzen. Ephraim aber, seine Flintc mit cincr Hand haltend, stccktc den Laus des Nohrs dcni offe nen Rachen der Bestie entgegen. Sie biß hinein, der Schuß ging los, sie siel. „So fallen die Raubwölfe!" rief Ephraim mit wilder Begei sterung und schwang drohend feine Flinte, indem er diese Bibelwortc aussprach. Die Sonne war jetzt ganz hinter den Wald hinabgesunken. Die beiden Kinder sammelten, da die Gefahr vorüber war, ihre Heerden, um sie nach Saint-Andöol zurückzusühren. Die zahme Taube setzte sich auf CclcsteS Schulter, und bald erreichten sic die Pacht ihres Vaters. Noch einen furchtsamen Blick warfen sie auf den Hügel, den schon die Statten des Abends bedeckt hatten. Ephraim, das Pferd und die beiden Hunde auf dem Gipfel des Berges zeichneten ihren schwarzen Schattenriß in dem schwankenden, orangenfarbigen Licht der Dämmerung. Von unten und aus der Ferne gesehen, kamen diese Gestalten den Kindern furchtbar groß vor. Der Förster hatte seine Hände und Kleider mit Blut befleckt; er hatte eben den Wolf ausgeweidet. Trotz des Widerwillens, den die Hunde sonst gegen das Fleisch dieses Thiers haben, waren die scinigen so wild und bissig, daß sie das Wildpret anfraßen. Ja, sein Pferd Lappidvth"), das er an rohes Fleisch gewöhnt hatte, leckte begierig das Blut auf dem Grase und stieß ein wildes Wiehern aus. Endlich ries der Förster seine Hunde ab, die sofort den halb verzehrten Rumpf des Wolfs verließen. Begleitet von den Hunden, deren weißes Haar fast ganz verschwand unter dein Blut, mit dem sie befleckt waren, und gestützt auf den HalS Lappidoths, stieg Ephraim die andere Seite des Hügels hinab und suchte seine einsame Hütte auf. In dem Augenblick, wo Celeste und Gabriel das Thal verließen, hatten sie einen neuen Schrecken zu erfahren. Aus einem Fenster des höchsten Thurms des Schlosses Mas-Arribas, der weiß wie ein Gespenst in den Horizont hineinragte, sahen sie mehrere glühend rothe Lichtstrahlen dringen. „Siehst Du, siehst Du, Schwester!" sagte Gabriel zitternd, „der Thurm des Grasmanns brennt; man sagt, das bedeute Unglück." — „Gehen wir nach Hause, rasch, lieber Bruder," sagte Celeste. Und die beiden Kinder beschleunigten ihre Schritte, um vor Einbruch der Nacht Saint Andöol zu erreichen. Saint Andöol hat eine entzückende Lage aus einer Anhöhe und beherrscht so Klein-Kanaan. Die Kinder betraten bald mit ihren Heerden die Meierei ihres Vaters. Jöräme Cavalier war ein Mann von einfachen Sitten und stren gem Charakter und in dem Flecken allgemein geliebt und geachtet. Wie alle Protestanten herrschte er in seiner zahlreichen Familie mit patriarchalischer Autorität. Sein Vater und sein Großvater hatten in den Bürgerkriegen für die Rechte ihres Glaubens mitgekämpft; hierin hätte er seinen Vorfahren nicht nachgeahmt. Er glaubte nicht, daß man die Waffen gegen die Könige ergreifen dürfe, selbst zur Berthcivigung des Glaubens nicht; er befolgte gewissenhaft die Lehre der fünf protestantischen Sekten, welche vor Allem die unbedingte Unterwerfung unter den Souvcrain geboten und den um ihre Reli gion willen verfolgten Christen weiter nichts alS'Standhaftigkeit im Leiden empfahlen. Daher ermahnte er auch die Scinigen, sich jedes Widerstands gegen die Obrigkeit zu enthalten, aber dagegen auch lieber die größten Martern mit Ruhe und Ergebung zu ertragen, als der Uebung ihres Kultus zu entsagen. Ludwig Xl V. hatte nach der Widerrufung dcS Edikts von Nantes befohlen, die protestantischen Kirchen zu schließen oder zu demoliren und Jeden, der in protestantischen Versammlungen gesunden würde, 'I Htbraitch: Dliptlrablen.