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422 bahn ist mehr wcrtb als baarcr Rezchthum, mchr als ein Industrie kapital, mehr als Alles, was die Nützlichkeit-Prediger daran zu preisen verlieben. Lie schafft uns ein neues, bis jetzt unerhörtes Bergungen, eine Annehmlichkeit, der keine andere gleichkommt, eine lebendige Erho lung, eine Erfrischung für den Geist und für die Sinne: wie hoch rech net Ihr das an? Zeit ersparen, ei ja doch! wie manche schöbe Stunde wollen wir an die Lust verschwenden, im raschen Fluge über Feld und Flur mit des Dampfes Schnelle dahinrollend, die reine Himmelslust zu trinken! Wenn Ihr vor Zeilen, zum Beispiel gestern, aus Eurer Klause hinaus nach Saint-Germain wolltet, nun ja, dec Weg lag recht hübsch und anmulbig vor Euch: reizende Landschaft, grüne schaitcurciche Thaler, malerische Hügel, rieselnde Gewässer, Wiesen voller Blumen, einladende Gebüsche, und über grünen Laubgcwölbcn hervorschaucnd die alicrgrauen Kirchchürme von Dörfern und Stadien. Aber das Alles wollte Schritt vor Schritt durchmessen, die Hügel wollten aufwärts und abwärts be stiegen, die Thaler durchwandert, dcr Fluß wollte überfahren sehn; dabei hattet Ihr Sonne und Staub zu beständige» Reisegefährten. Am Ziele augelangt, fallet Ihr eine Weile unter einem der alten Bäume auf der Terrasse, im Angesichte des Schlosses, wo Ludwig XIV. geboren wurde. Aber kaum wäret Ihr von Eurer Ermüdung ein wenig erholt, so mußtet Ihr schon an den Rückweg denken und den Wald fcpn lasten; sonst haltet Ibr Euch bis in den anderen Morgen hinein verspätet. Die Nacht brach ein, die ganze schöne Gegend lag in Finstcruist, es war ein langweiliger Rückmarsch unter ungeduldigem Seufzen: ach wie ist der Weg so lang uud so dunkel! Lieber will "ich doch als bescheidener Fuß gänger im Gehölze von Boulogre umbcrspaziercn, wo ich mindestens gemächlich Zeit habe, wenn mir auch der Staub von Wagen uud Rei tern die Aussicht in das Grüne verdirbt. — Aber jetzt! jetzt ist das ganz anders. Heule können wir eigentlich erst recht davon reden, daß wir Saint-Germain und seine anmulhige Gegend bei Paris haben. Für uns sind die Thäler ansgcsüllt und die Höben geebnet; die Hügel breiten ihre Abhänge gleich Armen aus, Euch aufzufangen, aber wenn Ihr berankommt, öffnen sie sich von selbst uud lassen Euch hindurch. Die grünen Gebüsche lausen lustig neben Euch her; im hohen Bogen schießt Ihr über den Fluß; die Kirchlbürme kommen Euch so schnell entgegen geflogen, daß Ihr denkt, sic im nächsten Augenblick mit Hän den greisen zu können. Alles lacht Euch au, Alles ist freundlich, ge fällig, einladend für Euch; Ihr sabrl hoch einber über dem trägen Erdenstaub, mit der Sonne um die Welte, uud cbc Ihr'« Euch verseht, liegt Ihr draußen auf dem schwellenden Rasen unter schattigem Lande hingestreckt und fragt Euch verwundert: schon da? — Und nun gekört Euch der ganze schöne, weite Wald; er ist in der That Euer für den ganzen Tag, Ibr mögt ihn durchstreifen in allen Richtungen und Euch ergötzen nach Herzenslust. Sevd unbesorgt um die Zeit, laßt den Abend ciubrcchcn: Lie Eisenbahn schafft Euch schon noch zu rechter Zeit an die Thür Eures Hauses. Ergeht Euch so weit Ihr mögt; wenn Ihr wollt, legt Euch schlafen; sucht die Sonne, sucht den Schalten aus, sucht meinetwegen Reime, wenn Ihr meint, daß dabei ein Bergnügen zu hole» ist. Setzt Euch bei sinkender Nacht wieder auf den Wagen: im Nu sehd Ibr daheim und bringt allen Genuß, alle Fröhlichkeit, allen Duft, alle Erqnicknug von draußen noch ganz frisch mit nach Hause. Kennt Ihr das Feenmährchen, worin der verzauberte Teppich vor- komml? Wer sich darauf setzt, der darf nur denken: „doribin möchl' ich", und gleich ist er dort. Ist nicht die Eisenbahn beinahe so ein Teppich? Also nichts da von Geschäften, nichts da von Statistik all vneem der Eisenbahn nach Saint Germain. Meint Ibr, es sollte mir schwer fallen, dergleichen recht viel und recht kaufmännisch gelehrt vorzubrin gen? So wahr mir Vulkan Helse, das wäre kinderleicht. Mancher Mann au meiner Stelle würde sich das trockene Vergnügen machen, zu sprechen wie folgt: „Meine Herren und Lanien, treten Sie näher. Betrachten Sic. diesen Weg, der 18,430 Meter lang ist; die Geleise sind anderlhalb Meter, der Raum zwischen den Geleisen I Meter und 80 Centimeler, die Ränder zu beiden Seilen der Geleise 1 Meter nnd 4 Cenlimelcr breit. Sehr schön, sehr vortrefflich. Die unterirdische Wegstrecke bei Batignolles, sehen Sie, besteht auS zwei Gallericcn, jede mit zwei Geleisen, 7 Meter und 40 Eeuiimeicr breit; sie sind zu sechs Fuß Höbe ausgewöldt, und ihre Länge beträgt volle 400 Meter." Wenn wir all' diese schönen Dinge wisse», dann haben wir was Rechtes pro- stlirt: nicht wabr? Der Mann könnte übrigens weiter erzählen bis in die Nacht hinein: zum Beispiel, daß die Bahn zwischen Paris und Saint Germain über achtzehn Brücken, darunter dreimal über die Seine läuft; was sagt Ibr dazu? oder zu der Ervlicaticn, daß und wie so bei ter Fabri von Saint Germain nach Paris ein Dreibunderimillionen- tbeil mehr an Zugkraft verwendet werden muß, als wenn es von Paris nach Saint Germain gebt; begreift Ibr, was das beißen will? Und wenn Ibr vollends erfahrt, daß die Bahn sich bei ter Einfahrt in Paris in einem Vogen von nur 800 Metern Halbmesser wendet, werdet Ihr Euch nicht vor Kchrrck über diese Verwegenheit bekreuzen? Damit Ihr nur gleich alle Sorge um diese Dinge vom Herzen habt, so bückt Euch gefälligst noch ei» wenig und versucht einmal, eine von den Schie nen in der Hand zu wiegen. Sie sind gewaltig schwer, nicht wabr? da« will ich auch meinen: sie wiegen vierzehn und ein halbes Kilo gramm mehr als die Schienen aus dec Eisenbahn von Sainl-Etienne, fünfzehn mehr als die stärksten ans der Liverpooler. Wäret Ibr aber etwa mit diese» Notizen noch nicht zufrieden ge stellt und wollet mehr dergleichen kören, so wird der kcnnlnißreiche Mann Euch die Geschichte der Eisenbahnen ul» nr» auftischen und bei den Zeilen und Völkern ansangen, wo es noch gar keine gab. Er wird Euch von vorn herein gründlich beweisen, daß Nömi'che Heer straßen und alle Arlen von Land- und Wasserweg n, die man bis beule gekannt bat, Einen im Grunde so elend und langsam sortbringen, daß es eine Schande ist; höchstens den Rhone- oder Rheinstrom wird er als passable Reisegelegenheiten gellen lassen, Xota bene wenn man stromab fährt. Faßt Euch in Geduld: die gelehrten Leute, die ibr Wissen auskramen, werden gewiß die letztin sevn, die sich ans Eisenbabn- Tempo gewöhnen. Ibr werdet hören, wie die erste Eisenbahn, welche Beaumont zu Newcastle 1670 für den Koblentran-port anzulegeu ver suchte, eigentlich eine hölzerne gewesen ist; die Erfindung machte damals kein Glück. Die zweite Eisenbahn war gleichfalls noch von Holz, aber doch schon mit Eisenplatien überdeckt; die drille schon aus Gußeisen, und erst nach vielen mühsamen Versuchen ist man zu der neuesten Er findung der gewalzltn Eisenschienen gelaugt. Bei jenen ersten rohen Bahnanlagen kannte man deu Dampf als bewegende Kraft noch nicht; ein paar Flaschenzügc oder ein unglückseliger Gaul mußten die Arbeit ver richten. Und als man den Dampf zu benutzen ansing, war die Maschine nur ein unbkwcglichcr Kessel mit Balancier, der die Lasten nicht hinter sich her, sondern nur an sich bcran zog. Erst in der neuesten Zeit erschien der Wundcrmann, der zu der Maschine sprach: lauf! und sie lief. Eng land, das die Dampfkrast zwar nicht zuerst erfunden, aber zuerst benutzt Hal, England fuhr schon längst mit stauncnswürkigcr Ku,ist und Majestät auf seinen Eisenbahnen daher, als die ganze Französische Lamps- nnd EisenbabnprariS sich noch auf die Kochkessel mit Sicherheitsventilen und auf die Russischen Rulschberge beschränkte. Und die Zahl der wirk lich eisernen Eisenbahnen ist aus den Großbritauischin Inseln in be ständiger rascher Zunahme begriffen: Liverpool und Manchester, Earlislc und Newcastle, Glamorgansbire, Eardiffc und Mertbyr-Tidwill, Crom« sord und High-Peak, Birmingham und Bristol, Leeds und Selby, Can- terburv und Whistable (?) haben die ihrigen oder werden sie binnen kurzem haben; die von London nach Greenwich nicht zu vergessen, wo bei unser Cicerone nicht ermangeln wird, zu bemerken, daß sie aus lau send gewölbten Bogen 22 Fuß über der Erde läuft und eilf Millionen Francs gekostet bat. — Die Lokomotiv-Maschinen baben bis zu ihrer gegenwärtigen Einrichtung nicht weniger Erperimcnle und Veränderun gen zu bestehen gehabt, als die Bahngeleise. Anfangs waren cs steife, stößige Dampfklcpper, höchstens für die Coucou's gut, die für zehn oous die Person »ach Saint Germain fuhren; bei allmäliger Vervoll kommnung leisteten sie bald so viel, wie ein Fiakergaul, dann wie ein derbes stattliches Normannisches Pserd; und jetzt können sic dreist mit den besten Englischen Rennern um die Wette laufen und ihnen noch sechzig Minuten auf die Stunde Vorsprung geben. DaS nenn' ich forlkommen. — Wollt ibr etwa wissen, wie man es angesangen bat, die rollende Maschine so weit zu vervollkommnen, bis sic dem Menschen ganz zu Willen war? Ganz einfach, ein Kind kann cs begreife». Man hat sie in die Länge gezogen und auf sechs Räder gesetzt; dem cvlinderr förmigen Kessel Hal man inwendig seinen Platz angewiesen und den Feucrbeerd größer gemacht: cs vcrstcbt sich von selbst, daß man dafür dem Rößlein auch mehr Hafer, will sagen mehr Kohle» ausschülten muß. Die Sache, dcnk' ich, ist so klar, wie die Geschichte mit dem Sattelknopf und Halfter von Cbcrubino's Pferd in der Fabel. Der scharfsinnige Mann ist mit seinen Erläuterungen noch nicht zu Ende. Er wird Euch an den Fingern berrcchnen, daß in England jahraus jahrein, gut und schlecht in einander gerechnet, 10 Millionen Menschen, 300,000 Stück Rindvieh, 1,700,000 Schafe und Schweine Iransporlirt werden; so viel sÜr jetzt, es wird aber gewiß noch besser kommen Und dabei kann dcr Rechenmeister ein mitleidiges, achselzucken des Lächeln über unsere Eisenbahn nach Saint Germain nicht unter drücken, als wenn sie eine Müßiggängerin unter ihren Schwestern wäre. — Nein, sage ich: verachtet mir unsere Bab» nicht; gerade darum ist sic mir lieb, weil sie ibr Werk nicht nach Waaren-Tonncn zählen wird, wie ein Amerikanisches Handelsschiff, weil sie das Jahr über keine hun derttausend Ochsen und keine Million Schweine sabren wird; weil sic nicht fünfzigjährigen Spekulanten, sondern fröhlichen jungen Leuten und LiebcS-Paaren zu Statten kommen wird; weil sie den Parisern zum Vergnügen, nicht bloß zum Gewinne gereichen soll; weil sie i» Feld und Wald hinaus, nicht in dumpfige, räucherige Stahl- und Baum wollen-Fabrikguarticre führt, weil sie munter, lustig, fröhlich geputzt, ganz von Vergnügen belebt sehn wird. Sollen wir einen Weg nicht lieb baben, der unS im Nu, so schnell beinahe als unsere Sehnsucht fliegen kann, hinaus ins Freie führt, unter den Waldesscbattcn, die Frnchibäume, die Blumen, an das küble Wasser, zu den Dörfern, wo wir Milch, frische Eier und Kuchen naschen, wo wir jagen, spielen, sin gen, uns an der lauen Luft, am blauen Himmel, im Frühling, Sommer und Herbst ergötzen können. Aber das Alles macht unseren Professor nicht irre; er fahrt in seinem Terle fort: „Wer die Bahn von Manchester nach Liverpool nicht gesehen hat, der weiß nicht, was eine Eisenbahn heißt. Denkt Euch einen Tunnel, dcr ein und eine Viertel Englische Meile lang, 123 Fuß tief durch einen Hügel gesprengt ist. Das nenne ich eine Gallerte! 22 Fuß breit, 16 Fuß hock. Und was würdet Ihr erst zu den Eisenbahnen in Nord-Amerika sagen. Die haben um den Grund nnd Boden nicht betteln, nicht bandeln dürfen; die wachsen, strecken sich und lausen ohne Hindcrniß; kein Garten, kein Zaun und Graben, keine Mauer und kein Schloß macht ibnen den Weg streitig. Ihre Linien, Bogen und Netze durchziehen den weiten Koutinent, wie die Adern einen menschlichen Leib, und dienen dem raschen Umlauf der Lebenssäfte. Von Boston nach Providence fährt man 17 Meilen in zwei, von New-Hock „och Philadelphia 34 Meile» in fünf bis sechs Stunden. Von Philadelphia bis Washington ist eine neue große Bahn auSgcstcckt, und tausend andere schießen an, deren schnellem und weitem Zuge eines Adlers Blick und Flug nicht zu folgen vermag. Nicht wahr, nieine Herren, wenn man daran denkt, so muß man mit Beschämung nnd Mitleid bekennen: „das sind wahre Eisenbahnen, und unsere nur Kinderspiel dagegen." (Schluß folgt.)